1 Einführung: Worum es geht – und etwas Hintergrund

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10.34663/9783945561607-03

Citation

Høyrup, Jens (2021). Einführung: Worum es geht – und etwas Hintergrund. In: Algebra in Keilschrift: Einführung in eine altbabylonische geometrische Technik. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

„Nutzlose Mathematik“

In den späten 1970er Jahren stellte die dänische Vereinigung der Mathematiklehrer ihren Mitgliedern eine delikate Frage: Sie sollten eine Anwendung der Lösung quadratischer Gleichungen finden, die innerhalb des Horizonts ihrer Schüler liegt.

Ein Mitglied fand eine solche Anwendung: das Verhältnis zwischen der Zeitdauer und dem Zähler eines Kassettenrekorders (also eine Anwendung, an welche sich höchstens die Eltern der heutigen Schüler erinnern werden!). Dies war die einzige Antwort.

Viele Schüler werden sicherlich erstaunt sein zu hören, dass nicht einmal ihre Lehrer echte Anwendungen quadratischer Gleichungen kennen. Schüler ebenso wie Lehrer werden nicht weniger erstaunt sein wenn sie erfahren, dass solche Gleichungen seit 1800 v. Chr. unterrichtet werden, und zwar 2500 Jahre lang mit keinerlei Bezug auf praktische Anwendungen (erst um das Jahr 700 n. Chr. begannen möglicherweise persische und arabische Astronomen damit, diese in trigonometrischen Rechnungen zu benutzen.

Wir werden auf die Frage, warum man quadratische Gleichungen unterrichtet hat und sie immer noch unterrichtet, zurückkommen. Aber zuerst werden wir uns anschauen, wie die ältesten quadratischen Gleichungen, einige Gleichungen ersten Grades und eine kubische Gleichung ausgesehen haben, und wie man sie gelöst hat.

Wir werden dabei zu beachten haben, dass manche Probleme zwar den Anschein erwecken, praktische Probleme zu behandeln, weil sie sich beispielsweise um kaufmännische Fragen, den Bau von Belagerungsrampen oder die Teilung von Feldern drehen, deren mathematische Substanz aber in Wirklichkeit immer „rein“ ist, also keine unmittelbare Anwendungen außerhalb der Mathematik besitzt.

Geschichte Mesopotamiens

Mesopotamien (das „Land zwischen den Flüssen“) bezeichnet seit dem Altertum das Gebiet um die beiden großen Flüsse Euphrat und Tigris – ganz grob das Gebiet des heutigen Irak. Um 3500 v. Chr. war der Meeresspiegel im Persischen Golf weit genug gefallen, um im südlichen Teil des Landes eine großflächige Landwirtschaft mit einem ausgefeilten Bewässerungssystem zu ermöglichen, und bald darauf erschien die erste „Zivilisation“, also ein Gesellschaft mit städtischen Zentren und als Staat organisiert. Das Herz des Staates bildeten die Tempel und ihre Priesterschaft, und zum Zwecke der Buchhalten entwickelten diese Priester eine frühe Schrift (siehe den Kasten „Keilschrift“ auf Seite 12).

Die älteste Keilschrift war rein ideographisch (vergleichbar mit der modernen mathematischen Symbolschrift, wo eine Gleichung wie E=mc^2 in jeder Sprache erklärt und ausgesprochen werden kann, und uns daher nicht erlaubt zu entscheiden, in welcher Sprache Einstein gedacht hat). Während der ersten Hälfte des dritten Jahrtausends v. Chr. wurden allerdings phonetische und grammatikalische Ergänzungen eingeführt, und um 2700 v. Chr. war die Sprache, die mit der Keilschrift notiert wurde, zweifelsfrei das Sumerische. Zwischen 2700 und etwa 2350 v. Chr. war die Gegend in etwa ein Dutzend Stadtstaaten eingeteilt, die oft miteinander Krieg (etwa um Wasser) führten. Dies führte zu einer Transformation der Staatsstruktur: der Heerführer („König“) ersetzte die Tempel als das Zentrum der Macht. Ab 2600 bildete sich aufgrund der Ausbreitung der Schrift ein neuer Berufszweig heraus. Die Buchhaltung war nicht länger die Aufgabe der höheren Beamten von Tempeln und König: Schreiber wurden in Schulen unterrichtet und übernahmen diese Aufgabe.

Um 2340 eroberte ein akkadischer Herrscher ganz Mesopotamien (Akkadisch ist eine semitische Sprache und gehört zur selben Sprachfamilie wie Arabisch und Hebräisch; es wurde in manchen Gegenden Mesopotamiens seit mindestens 2600 gesprochen). Dieser akkadische Staat hielt sich bis etwa 2200 und wurde für ein Jahrhundert durch konkurrierende Stadtstaaten abgelöst. Um 2100 etablierte sich Ur als Zentrum eines neuen Regionalstaats, dessen offizielle Sprache Sumerisch war, obwohl der Großteil der Bevölkerung einschließlich der Könige vermutlich akkadisch gesprochen hat. Dieser Neu-Sumerische Staat (auch als Ur III bekannt) war hoch bürokratisiert (vielleicht mehr als jeder andere Staat vor der Einführung von Computern) und es scheint, als wäre die Stellenwertnotation als Antwort auf die Nachfrage der Bürokratie nach geschickten Recheninstrumenten geschaffen worden (vgl. den Kasten „Das Sexagesimalsystem“ auf Seite 16).

Langfristig war die Bürokratie zu teuer, und um 2000 zerfiel das Neu-Sumerische Reich in kleinere Staaten. Zwei Jahrhunderte später setzt eine Phase der Zentralisierung um die Stadt Babylon ein; erst ab diesem Zeitpunkt kann man sinnvoll von Süd- und Zentralmesopotamien als „Babylonien“ sprechen. Inzwischen war (vielleicht schon seit Jahrhunderten) das Sumerische eine tote Sprache, und Akkadisch die Umgangssprache – im Süden und in Zentralmesopotamien herrschte der babylonische Dialekt vor, im Norden der assyrische. Dennoch hat die sumerische Sprache bei den Schreibern – ein wenig wie Latein in Europa – so lange überlebt wie Keilschrift geschrieben wurde, also bis ins erste Jahrhundert n. Chr.

Den Zeitraum ab 2000 bis zum endgültigen Kollaps des babylonischen Zentralstaats um 1600 nennt man die altbabylonische Epoche. Alle Texte, die wir im folgenden besprechen, stammen aus der zweiten Hälfte dieser Epoche, wurden also zwischen 1800 und 1600 v. Chr. geschrieben.

Algebra: Die erste Interpretation

Bevor wir von Algebra sprechen sollten wir klären, was unter diesem Wort zu verstehen ist. Vorläufig wollen wir diese Frage aber nicht beachten; wir werden am Ende dieses Buchs darauf zurückkommen. Im Moment müssen wir nur wissen, dass Algebra mit Gleichungen zu tun hat.

Abb. 1.1: Die Keilschriftversion des Problems BM 13901 #1.

Abb. 1.1: Die Keilschriftversion des Problems BM 13901 #1.

Als nämlich Mathematikhistoriker in den späten 1920er Jahren entdeckten, dass manche Keilschrifttafeln (siehe den Kasten „Keilschrift“ auf S. 12) „algebraische“ Probleme enthielten, glaubten sie, dass jeder die Bedeutung des Wortes kannte.

Wir wollen dies erst einmal so hinnehmen, um uns in deren Denken hineinversetzen zu können, und betrachten ein sehr einfaches Beispiel aus einem im 18. Jahrhundert v. Chr. geschriebenen Text in der Transliteration, wie sie für gewöhnlich von Assyriologen benutzt wird (was die Funktion von Kursivschrift und Kapitälchen angeht verweisen wir auf S. 27 und den Kasten „Keilschrift“ (Abb. 1.1 zeigt die Keilschriftversion des Texts):

(1)a.šàl[am] ù mi-it-ḫar-ti ak-m[ur-m]a 45-e 1 wa-ṣi-tam

(2)ta-ša-ka-an ba-ma-at 1 te-ḫe-pe [3]0 ù 30 tu-uš-ta-kal

(3)15 a-na 45 tu-ṣa-ab-ma 1-[e] 1 íb.si8 30 ša tu-uš-ta-ki-lu

(4)lìb-ba 1 ta-na-sà-aḫ-ma 30 mi-it-ḫar-tum

Unvorbereitete Leser, welche dies als kompliziert empfinden, sollten sich vor Augen halten, dass es für die ersten Wissenschaftler fast genauso kompliziert war. 90 Jahre später verstehen wir die technische Terminologie altbabylonischer mathematischer Texte; aber im Jahre 1928 war diese noch nicht entziffert, und die im Text enthaltenen Zahlen waren der einzige Anhaltspunkt.1

Keilschrift

Von Anfang an hat man in Mesopotamien auf plattgedrückten Tafeln aus Ton geschrieben, die dann getrocknet wurden. Im vierten Jahrtausend wurden die Zeichnungen mit einem spitzen Griffel gemacht; meist handelte es sich um wiedererkennbare Objekte, die einfache Konzepte darstellten. Komplexe Konzepte wurden durch Kombinationen von Zeichen ausgedrückt; ein Kopf und eine Schale, welche die tägliche Ration eines Arbeiters enthielt, bedeutete „Essensration“ (und später „essen“).

Die Zeichen für Zahlen und Maße wurden jedoch durch vertikale oder schräge Einkerbungen mit einem zylindrischen Griffel gemacht.

Im Laufe der Zeit änderte sich der Charakter der Schrift in zweierlei Hinsicht. Zum Einen wurden die Bilder nicht mehr gezeichnet, sondern durch einen Griffel mit scharfen Kanten durch Zeichen symbolisiert, die aus geraden Strichen bestanden. Dadurch erscheinen die Zeichen aus kleinen Keilen zusammengesetzt, was zum Namen Keilschrift führte.

Ab der zweiten Hälfte des dritten Jahrtausends wurden numerische und metrologische Zeichen auf dieselbe Art und Weise geschrieben. Die Zeichen wurden zunehmend stilisiert und verloren ihre piktographischen Eigenschaften; es ist daher nicht möglich, deren Bedeutung zu erraten, wenn man nicht die historische Entwicklung des Zeichens kennt. Bis um 2000 v. Chr. zeigen die Variationen der Zeichen zwischen den einzelnen Schreibern, dass diese die ursprünglichen Zeichnungen noch kannten.

Betrachten wir beispielsweise das Zeichen, das ursprünglich durch ein Gefäß mit Ausguss dargestellt wurde (linkes Bild).

In der Mitte sehen wir drei Varianten, wie sie im dritten Jahrtausend für das gleiche Symbol benutzt wurden (weil die Schrift im zweiten Jahrtausend um 90° nach links gedreht worden ist, zeigt man auch die Schrift des dritten Jahrtausend üblicherweise so). Wenn man den Ursprung des Zeichens kennt, kann man das zugrunde liegende Bild immer noch leicht erkennen. Rechts sieht man zwei altbabylonische Varianten; hier ist das Bild nicht mehr erkennbar.

Die zweite Änderung betrifft den Gebrauch der Zeichen (wir sollten aus diesem Grund eher von „Charakter“ reden). Das sumerische Wort für Gefäß ist dug. Weil sich neben der Buchhaltung weitere literarische Gattungen entwickelten (beispielsweise königliche Inschriften, Verträge, Sammlungen von Sprichwörtern), mussten die Schreiber Wege finden, Silben zu schreiben, welche der Kennzeichnung grammatikalischer Deklinationen von Wortstämmen dienten. Dieses System einer Silbenschrift wurde auch zum Schreiben des Akkadischen benutzt. Zu diesem Zweck wurden Zeichen gemäß ihres ungefähren phonetischen Werts benutzt; das Zeichen für „Gefäß“ konnte daher für die Silben dug, duk, tug und tuk stehen. In babylonischen Texten konnte das sumerische Zeichen auch als „Logogramm“ oder „Wortzeichen“ für ein Wort mit derselben Bedeutung wie dug benutzt werden, nämlich für karpatum.

Wörter, die als Logogramme oder auf Sumerisch gelesen werden sollen, werden in Transliterationen in Kapitälchen gesetzt; Spezialisten (siehe Anhang B) unterscheiden oft sumerische Wörter, deren phonetischer Wert als bekannt angenommen wird und welche dann in S p e r r s c h r i f t gesetzt werden, von den Zeichen, welche durch ihren „Zeichennamen“ wiedergegeben werden und als Kapitälchen gesetzt werden. Das phonetische Akkadisch wird in Kursivschrift transkribiert.

Assyriologen unterscheiden zwischen einer „Transkription“ und einer „Transliteration“. Eine „Transkription“ ist eine Übersetzung ins Akkadische unter Benutzung des lateinischen Alphabets. In einer „Transliteration“ wird jedes Keilschriftzeichen gemäß seines phonetischen oder logographischen Werts wiedergegeben.

Es war bereits bekannt, dass diese Zahlen in einem Stellenwertsystem mit Basis 60 geschrieben wurden, allerdings ohne Angabe der Größenordnung der Zahl (siehe den Kasten „Das Sexagesimalsystem“ auf Seite16). Wir müssen annehmen, dass die Zahlen, welche im Text auftauchen, irgendwie zusammenhängen und zumindest ungefähr dieselbe Größenordnung besitzen (wir erinnern daran, dass „1“ sowohl 60 als auch \frac{1}{60} bedeuten kann). Wir wollen daher versuchen, diese Zahlen wie folgt zu interpretieren:

Für den nächsten Schritt braucht man etwas Fantasie. Wenn man bemerkt, dass 30′ gleich \frac{1}{2} \cdot 1 und 15′ = (30′)^2 ist, dann liegt es nahe, an die Gleichung

zu denken. Heute lösen wir eine solche Gleichung mit den folgenden Schritten (wir betrachten dabei keine negativen Zahlen – diese sind eine moderne Erfindung):

Wie wir sehen können, basiert diese Methode auf der Addition des Quadrats des halben Koeffizienten des linearen Terms ( x ), hier also (\frac{1}{2})^2, zu beiden Seiten der Gleichung. Dies erlaubt uns, die linke Seite als das Quadrat eines Binoms zu schreiben:

Dieser kleine Trick heißt „quadratische Ergänzung“.

Wenn wir den antiken Text und die moderne Lösung vergleichen, dann bemerken wir, dass dieselben Zahlen in fast derselben Reihenfolge auftreten; Ähnliches gilt für andere Texte. In den frühen 1930er Jahren gelangten Mathematikhistoriker deshalb zu der Überzeugung, dass die babylonischen Schreiber zwischen 1800 und 1600 v. Chr. etwas ganz Ähnliches wie unsere algebraische Methode zum Lösen quadratischer Gleichungen besessen hatten. Diese Periode macht die zweite Hälfte der altbabylonischen Epoche (siehe den Kasten „Geschichte Mesopotamiens“ auf S. 9).

Der nächste Schritt war die genaue Interpretation der Texte. In gewisser Hinsicht konnte die allgemeine, nicht-technische Bedeutung der einzelnen Wörter helfen. In Zeile 1 des Problems auf S. 11 kann man ak-mur als „Ich habe angehäuft“ übersetzen. Die Übersetzung des „Anhäufens“ zweier Zahlen als Addition ist daher natürlich und stimmt mit der Beobachtung überein, dass das „Anhäufen“ von 45′ und 15′ (also von \frac{3}{4} und \frac{1}{4}) 1 ergibt. Wenn in anderen Texten davon die Rede ist, eine Größe auf eine andere zu „erhöhen“ (našûm), dann wird es schwieriger. Allerdings können wir bemerken, das das „Erhöhen“ von 3 zu 4 die Zahl 12 liefert, während 5 „erhöht“ auf 6 die 30 ergibt, und daher erraten, dass „erhöhen“ eine Multiplikation bedeutet.

Aus diesem Grund wählten die Wissenschaftler der 1930er Jahre eine rein arithmetische Interpretation der Rechenoperationen, also der Addition, Subtraktion, Multiplikation und der Division von Zahlen. Die folgende Übersetzung gibt dafür ein Beispiel:2

(1)Ich habe die Fläche und [die Seite] ein[es] Quadrat[s] addiert: 45′.

(2)Du nimmst 1°, die Einheit. Du brichst entzwei 1°:30′. Du multiplizierst [30′ und] 30′:

(3)15′. Du fügst 15′ zu 45′ hinzu: 1°. 1° ist das Quadrat von 1°.

30′, was du (mit sich selbst) multiplizierst hast,

(4)von 1° subtrahierst du: 30′ ist die Seite des Quadrats.

Solche Übersetzungen findet man auch heute noch in Büchern über die Geschichte der Mathematik. Sie erklären die Zahlen, welche in den Texten auftauchen, und sie geben einen fast modernen Eindruck der altbabylonischen Methoden. Es gibt keinen wesentlichen Unterschied zwischen der obigen Übersetzung und der Lösung mit Hilfe von Gleichungen. Ist die Seite des Quadrats gleich x, dann ist die Fläche x^2. Also entspricht die erste Zeile des Texts – des zu lösenden Problems – der Gleichung x^2 +1\cdot x = \frac{3}{4}. Wenn wir die Übersetzung weiterverfolgen, dann sehen wir, dass sie der symbolischen Umformung auf Seite 15 Schritt für Schritt folgt.

Obwohl jedoch die vorliegende Übersetzung ebenso wie andere, die nach denselben Prinzipien erstellt wurden, die Zahlen des Texts erklären, stimmen sie weniger gut mit den Wörtern, und manchmal auch nicht mir der Reihenfolge der Operationen überein. Zum Einen berücksichtigen diese Übersetzungen nicht den geometrischen Charakter der Terminologie, indem sie davon ausgehen, dass Wörter und Ausdrücke wie „die Seite meines Quadrats“, „Länge“, „Breite“ und „Fläche“ eines Rechtecks nichts als unbekannte Zahlen und deren Produkte bezeichnen. Man muss dabei beachten, dass dies in den 1930ern a priori nicht unmöglich erschien – auch wir reden von 3^2 als dem „Quadrat von 3“, ohne dabei an ein geometrisches Quadrat zu denken.

Allerdings gibt es andere Probleme. Die bedeutendste ist, dass die Zahl der Operationen zu groß ist. Zum Beispiel gibt es zwei Operationen, welche in der traditionellen Interpretation als Addition interpretiert werden: „hinzufügen zu“ (waṣābum/daḫ, dessen Infinitiv dem tu-ṣa-ab unseres Texts entspricht) und „anhäufen“ (kamārum/gar.gar, das zu ak-mur des Texts gehört). Beide Operationen kommen also in unserem kurzen Text vor, „anhäufen“ in Zeile 1 (wo es als „addiere“ erscheint) und „hinzufügen“ in Zeile 3.

Das Sexagesimalsystem

Die altbabylonischen Texte benutzen ein Stellenwertsystem mit der Basis 60, aber ohne ein Sexagesimalkomma. In unserem Dezimalsystem, das ebenfalls ein Stellenwertsystem ist, steht die Ziffer „1“ für die Zahl 1 ebenso wie für die Zahlen 10, 100, \ldots sowie 0,1, 0,01, \ldots . Ihr Wert ist bestimmt durch ihren Abstand vom Dezimalkomma.

Ähnlich kann ein „45“ eines babylonischen Schreibers 45 bedeuten; es kann aber auch für \frac{45}{60} (also \frac{3}{4}), für 45\cdot 60 usw. stehen. Kein Dezimalkomma bestimmt den „wirklichen“ Wert. Dieses System entspricht demjenigen, das Ingenieure mit dem Rechenstab vor dem Aufkommen von Taschenrechnern benutzt haben. Der Rechenstab besaß ebenfalls kein Dezimalkomma und zeigte somit auch nicht die wahre Größe eines Ergebnisses an. Um herauszufinden, ob ein bestimmtes Ergebnis nun 3,5 m³, 35 m³ oder 350 m³ bedeutete, musste der Ingenieur Kopfrechnen.

Um die Zahlen zwischen 1 und 59 zu schreiben benutzten die Babylonier einen senkrechten Keil (), der bis zu neun mal wiederholt mit bestimmten Mustern wurde, um die Zahlen von 1 bis 9 darzustellen, und einen Winkelhaken (), der bis zu fünf Mal wiederholt wurde, um die Zahlen 10, 20, \ldots , 50 darzustellen.

Heutige Leser sind es nicht gewohnt, Zahlen unbestimmter Größe zu lesen. In Übersetzungen babylonischer mathematischer Texte ist es daher üblich, die Größenordnung einer Zahl anzugeben. Dafür sind verschiedene Methoden in Gebrauch. Im vorliegenden Buch werden wir eine Verallgemeinerung der Grad-Minute-Sekunde-Notation benutzen. Wenn den Bruch \frac{15}{60} bedeutet, werden wir die Zahl als 15′ transkribieren, bedeutet es \frac{15}{60 \cdot 60}, werden wir 15″ schreiben. Wenn es für 15 \cdot 60 steht, schreiben wir 15‵ usw. Steht es für 15, so schreiben wir 15 oder, falls dies notwendig ist, um Missverständnisse zu vermeiden, 15°. Wenn als 10+5\cdot 60^{-1} zu verstehen ist, wird es also als 10°5′ transkribiert.

aufgefasst als 30′ bedeutet daher \frac{1}{2}.

aufgefasst als 45′ bedeutet \frac{3}{4}.

aufgefasst als 12′ bedeutet \frac{1}{5}; aufgefasst als 12‵ bedeutet es 720.

aufgefasst als 10′ bedeutet \frac{1}{6}.

kann 16‵40 = 1000 oder 16°40′ = 16\frac{2}{3} usw. bedeuten.

kann 1‵40 = 100, 1°40′ = 1\frac{2}{3}, 1′40″=\frac{1}{36} usw. bedeuten.

Außerhalb der Schreiberschulen benutzten die Babylonier das Stellenwertsystem ausschließlich für Zwischenrechnungen (auf dieselbe Art wie ein Ingenieur vor 50 Jahren einen Rechenschieber benutzt hat). Wenn ein Ergebnis in einen Vertrag oder einen Bestand einzufügen war, konnte man sich offensichtlich keine Mehrdeutigkeit erlauben; andere Notationen erlaubten ihnen, die gewünschte Zahl genau aufzuschreiben.

Sicherlich kennen auch wir Synonyme in unserem mathematischen Wortschatz, zum Beispiel „und“, „addiert zu“ oder „plus“; die Wahl zwischen diesen Wörtern hängt vom Stil oder persönlichen Gewohnheiten ab, oder von unseren Erwartungen an unseren Gesprächspartner usw. Thureau-Dangin benutzt diese Wörter, wie wir sehen werden, und folgt dabei den Unterschieden im Text, indem er einmal von „Addition“ und dann von „hinzufügen“ spricht; er argumentiert aber, dass es keinen Unterschied zwischen diesen Begriffen gibt, und dass hier wirklich Synonyme vorliegen – „es gibt nur eine Multiplikation“, schreibt er, ohne zu bemerken, dass dies ein Zirkelschluss ist.

Es ist richtig, dass es Synonyme auch in der altbabylonischen Mathematik gibt. Die Verben „ausreißen“ (nasāḫum/zi) und „abschneiden“ (ḫarāṣum/kud) sind Bezeichnungen für ein und dieselbe Operation des Subtrahierens: sie können beide in analogen Situationen gebraucht werden. Der Unterschied zwischen „hinzufügen“ und „anhäufen“ dagegen ist von einer anderen Natur. Es gibt keinen Text, in dem eine quadratische Ergänzung (siehe etwa oben Seite 15) als „Anhäufen“ bezeichnet wird. Das „Anhäufen“ ist eine Operation, die benutzt wird, wenn etwa eine Fläche und eine Länge addiert werden. Es handelt sich also um verschiedene Operationen. Ebenso gibt es zwei verschiedene Subtraktionen, vier Multiplikationen und sogar zwei verschiedene Methoden zu halbieren. Wir werden später darauf zurückkommen.

Eine Übersetzung, welche Operationen vermischt, die die Babylonier als verschieden betrachtet haben, kann erklären, warum die babylonischen Rechnungen zu korrekten Ergebnissen führen; aber sie kann deren mathematische Schlussweise nicht durchdringen-

Außerdem mussten traditionelle Übersetzungen manche Worte auslassen, die keinen Sinn zu ergeben schienen. Eine eher wörtliche Übersetzung der letzten Zeile unseres kleinen Problems würde etwa beginnen mit „vom Inneren von 1°“ (oder sogar „aus dem Herzen“ oder „aus den Innereien“). Weil man nicht gesehen hat, wie eine Zahl 1 ein Inneres besitzen kann, hat der Übersetzer dieses Wort stillschweigend übergangen.

Andere Wörter wurden auf Arten übersetzt, die so stark von ihrem üblichen Gebrauch abwichen, dass es Verdacht erregen musste. Normalerweise bezieht sich das Wort waṣītum (von waṣûm, hinausgehen), welches Thureau-Dangin mit „Einheit“ und Neugebauer mit „Koeffizient“ übersetzt haben, auf etwas, das herausragt, auf den Teil eines Gebäudes, der in der Architektur „Projektion“ genannt wird. Dies muss den ersten Übersetzern absurd vorgekommen sein – wie kann eine Zahl 1 „herausragen“? Aus diesem Grund haben sie es vorgezogen, das Wort mit einem Begriff der heutigen Mathematik zu übersetzen.

Endlich ist auch die Reihenfolge, in welcher die Operationen ausgeführt werden, manchmal von derjenigen verschieden, die bei einer arithmetischen Interpretation als die natürliche empfunden wird.

Trotz dieser Einwände war die arithmetische Interpretation aus den 1930er Jahren eine beeindruckende Leistung, und sie bleibt eine hervorragende „erste Approximation“. Für die Wissenschaftler, welche diese Interpretation geschaffen haben, war es auch nichts anderes. Andere dagegen, nicht zuletzt Mathematikhistoriker und an der Geschichte interessierte Mathematiker, übernahmen sie als eine eindeutige und endgültige Übersetzung der „babylonischen Algebra“ – so beeindruckend waren die erhaltenen Resultate und so furchterregend die Alternative, die Texte in ihrer Originalsprache lesen zu müssen. Bis in die 1980er Jahre hinein fiel niemandem3 auf, dass gewisse scheinbare Synonyme verschiedene Operationen darstellen.

Eine neue Lesart

Wie wir eben gesehen haben, kann die arithmetische Interpretation die Wörter, mit welchen die Babylonier ihre Operationen bezeichneten, nicht vollständig erklären. Zum einen vermengt sie Operationen, welche die Babylonier als verschieden angesehen haben. Zweitens entspricht die dadurch nahegelegte Reihenfolge der Operationen nicht immer derjenigen der babylonischen Rechnungen. Streng genommen stellt sie keine Interpretation dar, sondern eine Kontrolle der Korrektheit der babylonischen Methoden mit Hilfe moderner Techniken.

Eine echte Interpretation – also eine Art des Lesens, welche offenlegt, was der altbabylonische Schreibe gedacht und getan hat – muss zwei Dinge beachten. Zum einen die Ergebnisse, welche die Wissenschaftler der 1930er Jahre als „erste Approximation“ erhalten haben, und zum andern diejenigen Ebenen des Texts, welche diese Wissenschaftler vernachlässigen mussten, um ihre erste Approximation zu erhalten.

In den folgenden Kapiteln werden wir eine Reihe von Problemen analysieren, und zwar in einer Übersetzung, die einer solchen Interpretation entspricht. Zuvor ist noch angebracht, auf einige allgemeine Informationen hinzuweisen.

Darstellung und „Variablen“

In unserer Algebra benutzen wir x und y als Namen für unbekannte Zahlen. Wir benutzen Algebra als Hilfsmittel zum Lösen von Problemen über alle Arten von Größen, etwa Preisen, Entfernungen, Energiedichten usw.; aber in all diesen Fällen betrachten wir diese Größen als durch Zahlen repräsentiert. Für uns sind Zahlen die fundamentale Darstellung.

Bei den Babyloniern war die fundamentale Darstellung geometrischer Natur. Die meisten ihrer „algebraischen“ Probleme betreffen Rechtecke mit Länge, Breite und Fläche4, oder Quadrate mit Seite und Fläche. Wir werden unten ein Problem (YBC 6967, Seite 52) besprechen, in welchem nach zwei unbekannten Zahlen gefragt ist, aber weil ihr Produkt als „Fläche“ bezeichnet wird, ist klar, dass diese Zahlen als die Seiten eines Rechtecks dargestellt werden.

Es ist eine wichtige Eigenschaft der babylonischen Geometrie, dass sie als „algebraische“ Darstellung dienen kann: sie dreht sich immer um gemessene Größen. Die Maßzahl von Strecken und Flächen kann also als Unbekannte verwendet werden – aber selbst dann existiert sie als numerische Maßzahl, und das Problem besteht darin, ihren Wert zu finden.

Einheiten

Jede Messung setzt eine Metrologie voraus, also ein System von Maßeinheiten; die Zahlen, die von einer Messung produziert werden, sind konkrete Zahlen. Dies kann in dem oben auf Seite 11 zitierten Problem nicht direkt gesehen werden; die mathematischen Texte zeigen dies meist nicht, weil sie das Sexagesimalsystem benutzen (außer wenn gelegentlich die gegebenen Größen oder das Ergebnis genannt werden). In diesem System werden alle Größen derselben Art in einer „Standardeinheit“ gemessen, welche, bis auf wenige Ausnahmen, nicht genannt, sondern stillschweigend vorausgesetzt wird.

Die Standardeinheit für horizontale Entfernung war nindan, eine „Rute“ mit einer Länge von etwa 6 m.5 In unserem Problem ist die Seite des Quadrats also \frac{1}{2} nindan, also etwa 3 m lang. Für vertikale Entfernungen (Höhrn und Tiefen) war die Grundeinheit das kùš , eine „Elle“ von \frac{1}{12} nindan (also etwa 50 cm).

Die Standardeinheit für Flächen war das sar, was 1 nindan2 entspricht. Die Standardeinheit für Volumen hatte denselben Namen: die Idee dahinter war, dass eine Grundfläche von 1 nindan2 mit einer Standardhöhe von 1 kùš versehen wurde. In der landwirtschaftlichen Buchhaltung wurde für Flächen eine geeignetere Einheit benutzt, das bùr, was 30‵ sar, also etwa 6\frac{1}{2} ha entspricht.

Die Standardeinheit für Hohlmaße (gebräuchlich für Produkte, die in Vasen und Gefäßen aufbewahrt werden, wie etwa Getreide und Öl) war das sìla, etwas weniger als ein Liter. Im täglichen Leben wurden oft größere Einheiten gebraucht: 1 bán = 10 sìla, 1 pi = 1‵ sìla, und 1 gur, ein „Fass“ von 5‵ sìla.

Die Standardeinheit für Gewichte ist das Schekel, ca. 8 g. Größere Einheiten waren die Mine gleich 1‵ Schekel (und damit etwa ein Pfund)6 und das , eine „Ladung“ von etwa 1‶ Schekel, also etwa 30 Kilogramm. Die letzte Einheit ist gleich dem Talent aus der Bibel (wo ein Talent Silber gemeint ist).

Additive Operationen

Es gibt zwei additive Operationen. Eine (kamārum/ul.gar/gar.gar) kann, wie wir bereits gesehen haben, mit „a und b anhäufen“ übersetzt werden , die andere (waṣābum/daḫ) als „j zu S hinzufügen“. Hinzufügen ist eine konkrete Operation, welche die Identität von S bewahrt. Um zu verstehen, was damit gemeint ist, könnten wir an „mein“ Guthaben S bei einer Bank denken; addiert man die Zinsen j (im Babylonischen ṣibtum genannt, das „Hinzugefügte“, ein Substantiv, das vom Verb waṣābum abgeleitet ist), dann ändert dies nicht dessen Identität als mein Guthaben. Wenn eine geometrische Operation j zu S „hinzufügt“, dann bleibt S immer an seinem Platz, und j wird, wenn nötig, bewegt.

„Anhäufen“ mag dagegen die Addition abstrakter Zahlen bezeichnen. Daher hindert einen nichts daran, eine Fläche und eine Länge (also deren Maßzahlen) „anzuhäufen“. Allerdings werden auch oft Größen angehäuft, die eine konkrete Addition zulassen würden.

Die Summe, die aus einem „Hinzufügen“ resultiert, hat keinen besonderen Namen: tatsächlich erschafft diese Operation nichts Neues. Andererseits hat die Summe beim Anhäufen, wo beide Summanden in die Summe absorbiert werden, einen Namen (nakmartum, abgeleitet von kamārum, „anhäufen“), den wir als „Haufen“ übersetzen können. In einem Text, wo die beiden Summanden unterschieden bleiben, wird der Plural benutzt (kimrātum, ebenfalls von kamārum abgeleitet); wir können dies als „die angehäuften Dinge“ übersetzen (AO 8862 #2, übersetzt in Kapitel 4, Seite 66).

Subtraktive Operationen

Es gibt auch zwei subtraktive Operationen. Die eine, nämlich (nasāḫum/zi) „von B reiße a heraus“, ist die Umkehroperation von „hinzufügen“; es ist eine konkrete Operation, bei der angenommen ist, dass a ein Teil von B ist. Die andere ist ein Vergleich, den man in der Form „A über B geht d hinaus“ (eine holprige Phrase, die aber die babylonische Redewendung genau wiedergibt). Auch dies ist eine konkrete Operation, die benutzt wird, um zwei Größen zu vergleichen, bei welchen die kleinere kein Teil der größeren ist. Manchmal wird der Vergleich, wohl aus stilistischen oder anderen Gründen, andersherum gemacht, als eine Beobachtung der Form, B verfehle A um d (in Fußnote 4, Seite 53 wird ein Beispiel diskutiert).

Der Unterschied bei der ersten Subtraktion heißt „der Rest“ (šapiltum, wörtlicher „das Verringerte“). Bei der zweiten Subtraktion wird der Überschuss als das „darüber Hinausgehende“ (watartum/dirig) bezeichnet.

Es gibt diverse Synonyme oder Fast-Synonyme für „herausreißen“. Wir werden davon „abschneiden“ (ḫarāṣum) (AO 8862 #2, Seite 66) und „zum Verschwinden bringen“ (šutbûm) (VAT 7532, Seite 71) kennenlernen.

Multiplikationen

Vier verschiedene Operationen sind traditionell als Multiplikationen interpretiert worden.

Die erste Version taucht auf altbabylonischen Tafeln auf, welche das Gegenstück des kleinen Einmaleins enthalten. Der sumerische Ausdruck (a.rá, abgeleitet vom sumerischen Verb , „gehen“) kann als „Schritte von“ übersetzt werden. Die Tabelle der Vielfachen von 6 beispielsweise verläuft so:

1 Schritt von 6 ist 6

2 Schritte von 6 sind 12

3 Schritte von 6 sind 18

Drei der Texte, auf die wir unten eingehen werden (TMS VII #2, Seite 39, TMS IX #3, Seite 63, und TMS VIII #1, Seite 85) benutzen ebenso das akkadische Verb für „gehen“ (alākum) um die Wiederholung einer Operation anzuzeigen: die beiden ersten wiederholen n Mal eine Größe s, mit dem Ergebnis n \cdot s (TMS VII #2, Zeile 18; TMS IX #3, Zeile 21); TMS VIII #1 Zeile 1 fügt n Mal eine Größe s n zu einer anderen Größe A hinzu, mit dem Ergebnis A + n \cdot s.

Die zweite „Multiplikation“ ist durch das Verb „erhöhen“ (našûm/íl/nim) gekennzeichnet. Dieser Ausdruck scheint zuerst für die Berechnung von Volumina benutzt worden zu sein: Um das Volumen eines Prismas mit Grundfläche G sar und Höhe h kùš zu berechnen, „erhöht“ man die Grundfläche mit der Standardhöhe 1 kùš zur wirklichen Höhe h. Später wurde dieser Ausdruck analog für alle Bestimmungen einer konkreten Größe durch Multiplikation benutzt. Dagegen bezeichnet „Schritte von“ die Multiplikation einer abstrakten Zahl mit einer anderen abstrakten Zahl.

Die dritte Multiplikation (šutakūlum/gu7.gu7), „p und q enthalten lassen“ (gemeint ist, dass die Seiten p und q dann ein Rechteck bilden)7, ist keine wirkliche Multiplikation. Sie betrifft immer die Strecken p und q, und „lass p und q enthalten“ bedeutet, aus diesen Seiten ein Rechteck mit den Seiten p und q zu bilden. Weil p und q ebenso wie die Fläche A des Rechtecks messbar sind, geben fast alle Texte den numerischen Wert der Fläche A sofort nach der Beschreibung der Operation – beispielsweise „lass 5 und 5 enthalten: 25“ – ohne die Multiplikation von 5 mit 5 explizit zu erwähnen. Es gibt aber Texte, welche die Multiplikation extra als „p Schritte von q“ erwähnen, oder bemerken, dass „lass enthalten“ eine Fläche produziert; beide Möglichkeiten tauchen in AO 8862 #2 (Seite 66) auf. Wenn ein Rechteck bereits existiert, dann wird dessen Fläche durch „erhöhen“ bestimmt, ebenso wie die Fläche eines Dreiecks oder eines Trapezes. Im Folgenden werden wir das Rechteck, das von den Strecken p und q gehalten wird, mit dem Symbol \sqsubset \hspace{-1.99997pt}\sqsupset \!\! (p,q) bezeichnen, während \square (a) für das Quadrat, das die Seite a „zusammen mit sich selbst hält“. In beiden Fällen steht das Symbol sowohl für die Figur als auch für ihren Flächeninhalt; dies stimmt mit der Mehrdeutigkeit überein, der im Konzept von „Fläche“ enthalten ist. Die entsprechende numerische Multiplikation wird symbolisch als p×q und a×a notiert.

Die letzte Multiplikation (eṣēpum) ist ebenfalls keine wirkliche numerische Multiplikation. „Wiederholen“ oder „Wiederholen bis n“ (wo n eine ganze Zahl ist, klein genug, um sie sich vorzustellen, nämlich höchstens 9) steht für eine „physikalische“ Ver-n-fachung, zum Beispiel die Verdopplung eines rechtwinkligen Dreiecks mit den Katheten a und b zu einem Rechteck \sqsubset \hspace{-1.99997pt}\sqsupset \!\! (a, b).

Division

Das Problem „Was muss ich zu d erhöhen um P zu erhalten?“ ist eine Divisionsaufgabe mit der Antwort P\div d. Offenbar kannten die altbabylonischen Rechner solche Aufgaben sehr gut. Diese tauchten in ihrer „Algebra“ (wir werden unten viele Beispiele dafür sehen) ebenso auf wie beim praktischen Planen: Ein Arbeiter kann an einem Tag N nindan eines Bewässerungskanals graben; wie viele Arbeiter braucht man, um 30 nindan in 4 Tagen zu graben? In diesem Beispiel taucht das Problem zwei Mal auf; das Ergebnis ist (30\div 4)\div N. Aber Division war für die Babylonier keine eigene Operation, sondern nur ein besonderer Typ eines Problems.

Um 30 durch 4 zu teilen, benutzten sie eine Tafel (siehe Tabelle 1.1), aus der sie, falls sie die Tafeln nicht auf der Schreiberschule8 auswendig gelernt hatten, ablesen konnten, dass igi 4 gleich 15′ ist; danach „erhöhten“ sie 15′ auf 30 (auch dafür existierten Tabellen, die in den Schreiberschulen auswendig gelernt wurden) und erhielten 7°30′.9

von 1, dessen 2/3 40 27, dessen IGI 2 13 20
dessen Hälfte 30 30, dessen IGI 2
3, dessen IGI 20 32, dessen IGI 1 52 30
4, dessen IGI 15 36, dessen IGI 1 40
5, dessen IGI 12 40, dessen IGI 1 30
6, dessen IGI 10 45, dessen IGI 1 20
8, dessen IGI 7 30 48, dessen IGI 1 15
9, dessen IGI 6 40 50, dessen IGI 1 12
10, dessen IGI 6 54, dessen IGI 1 6 40
12, dessen IGI 5 1, dessen IGI 1
15, dessen IGI 4 1 4, dessen IGI 56 15
16, dessen IGI 3 45 1 12, dessen IGI 50
18, dessen IGI 3 20 1 15, dessen IGI 48
20, dessen IGI 3 1 20, dessen IGI 45
24, dessen IGI 2 30 1 21, dessen IGI 44 26 40
25, dessen IGI 2 24

Tab. 1.1: Übersetzung der altbabylonischen Reziproken-Tafel (igi).

Tab. 1.1: Übersetzung der altbabylonischen Reziproken-Tafel (igi).

In erster Linie steht igi n für die Reziproke von n , die man der Tabelle entnehmen oder zumindest leicht damit finden kann, nicht für die Zahl \frac{1}{n} in einem abstrakten Sinn. Auf diese Art lösten die Babylonier das Problem P \div d durch eine Multiplikation P \cdot \frac{1}{d} soweit dies möglich war.

Allerdings war dies nur möglich, falls n in der igi-Tafel auftauchte. Zum einen war dafür notwendig, dass n eine „reguläre Zahl“ ist, dass also \frac{1}{n} als „endlicher Sexagesimalbruch“ geschrieben werden kann.10 Von diesen unendlich vielen Zahlen wurden allerdings nur eine kleine Anzahl auf den Tafeln gefunden, in der Regel um die 30 (oft wurden etwa 1 12, 1 15 und 1 20 „auf der linken Seite“ ausgelassen, weil sie schon „auf der rechten Seite“ auftauchen).

Für die üblichen Rechnungen hat dies in der Regel ausgereicht. Man hat die technischen Konstanten – etwa der Betrag an Erde, den ein Arbeiter an einem Tag ausgraben konnte – tatsächlich als einfache reguläre Zahlen gewählt. Die Lösung „algebraischer“ Probleme führen andererseits oft auf Divisionen durch einen nicht regulären Divisor d. In solchen Fällen liest man in den Texten „was soll ich zu d setzen, das mir A gibt?“, unmittelbar gefolgt von der Antwort: „Setze Q, A gibt es dir.“11 Dafür gibt es eine natürliche Erklärung: Diese Aufgaben wurden rückwärts aus den bekannten Ergebnissen konstruiert. Divisoren waren also immer Teiler, und der Lehrer, der eine Aufgabe konstruierte, kannte sowohl die Antwort als auch das Ergebnis der auftretenden Divisionen.

Halbieren

\frac{1}{2} kann ein Bruch wie jeder andere sein: \frac{2}{3}, \frac{1}{3}, \frac{1}{4}, usw. Diese Art der Hälfte, falls es die Hälfte von etwas und nicht einfach ein Bruch ist. wird durch Erhöhen auf 30′ gefunden. Ähnlich erhält man \frac{1}{3} durch Erhöhen auf 20′ usw. Diese Art der Hälfte taucht in AO 8862 #2 (Seite 66) auf.

Aber \frac{1}{2} (in diesem Fall notwendig die Hälfte von etwas) kann auch eine „natürliche“ Hälfte sein, also eine „eindeutige“ Hälfte. Der Radius eines Kreises ist etwa die „natürliche“ Hälfte des Durchmessers: kein anderer Teil kann dieselbe Rolle spielen. Ganz ähnlich ist es auch genau die Hälfte der Grundseite eines Dreiecks, welche zur Höhe erhöht werden muss, um die Fläche zu erhalten, wie man an der Figur ablesen kann, welche gewöhnlich zum Beweis der Formel benutzt wird (siehe Abb. 1.2).

Abb. 1.2

Abb. 1.2

Diese „natürliche“ Hälfte hatte einen besonderen Namen (bāmtum), den wir mit „Halbe“ übersetzen können. Die Operation, welche das Halbe produziert, wurde mit dem Verb „zerbrechen“ (ḫepûm/gaz) beschrieben, also dem Zerbrechen in zwei gleiche Teile. Diese Bedeutung des Wortes gehört zum spezifisch mathematischen Wortschatz; im allgemeinen Gebrauch bedeutete es das Zerbrechen in eine beliebige Anzahl von Teilen.

Quadrat und Quadratwurzel

Das Produkt a \cdot a spielte keine besondere Rolle, weder als Ergebnis von „Erhöhen“ noch von „Schritte von“. Eine spezielle Bedeutung hatte lediglich das geometrische Quadrat.

Dieses geometrische Quadrat hatte allerdings einen Sonderstatus. Man konnte sicherlich „a und a enthalten machen“ oder „a mit sich selbst enthalten machen“; aber man konnte auch “a sich gegenüberstellen“ (šutamḫurum, von maḫārum, „jemanden annehmen, empfangen, willkommen heißen“). Das Quadrat als geometrische Figur war eine „Gegenüberstellung“ (mitḫartum, vom selben Verb).12 Numerisch wurde der Wert mit der Seitenlänge identifiziert. Eine babylonische Gegenüberstellung ist also die Seite, hat aber eine Fläche, weswegen wir im Folgenden das Wort Gegenseite benutzen werden. Umgekehrt ist unser Quadrat (identifiziert mit dem Inhalt, nicht mit dem Rahmen) eine Fläche und hat eine Seite. Wenn der Wert einer „Gegenseite“ (verstanden als dessen Seite) gefunden wird, dann kann man von der anderen Seite, welche sie in einem Eck trifft, als sein „Gegenstück“ (meḫrum von maḫārum) bezeichnen, ein Wort, das auch für die exakte Kopie einer Tontafel benutzt wird.

Um zu sagen, dass s die Seite eines Quadrats mit der Fläche Q ist, wurde die folgende sumerische Redewendung (bereits auf Tafeln von Quadratwurzeln, die wahrscheinlich aus der Epoche Ur III stammen) benutzt: „bei Q, s ist gleich“ ; das sumerische Verb ist hierbei íb.si8. Bisweilen wird das Wort íb.si8 als Substantiv benutzt, und dann wird es im Folgenden als „das Gleiche“ übersetzt. In der arithmetischen Interpretation wird aus „das Gleiche“ die Quadratwurzel.

Genauso wie es Multiplikations- und Reziprokentafeln gegeben hat, gab es auch Tabellen von Quadraten und ihren „Gleichen“ Diese benutzten die Wendungen „n Schritte von n, n2“ und „bei n2, n ist gleich“ ( 1 \le n \le 60). Die Lösung „algebraischer“ Probleme jedoch führte oft auf die Bestimmung der „Gleichen“ von Zahlen, die nicht in den Tabellen aufgeführt waren . Die Babylonier besaßen eine Technik zum Auffinden von Näherungen von Quadratwurzeln von Zahlen, die keine Quadratzahlen waren – aber diese waren Näherungen. Die Texte geben stattdessen den genauen Wert, und zwar wieder, weil die Autoren das Problem rückwärts konstruiert hatten und daher die Lösung kannten. Einige Texte enthalten Rechenfehler, aber zum Schluss geben sie die Quadratwurzel der Zahl, die sie hätten berechnen sollen und nicht von der Zahl, die sie erhalten hatten! Ein Beispiel dafür ist in der Fußnote 7, Seite 79 zu finden.

Die Texte und ihre Übersetzungen

Die Texte, die im Folgenden präsentiert und erläutert werden, sind in Babylonisch geschrieben, der Sprache, die in Babylonien während der altbabylonischen Epoche gesprochen wurde. Im Wesentlichen sind sie in (phonetischer) Silbenschrift notiert, wie sie in Kursivschrift auf Seite 14 erscheinen. Alle Texte benutzen auch Logogramme, die ein ganzes Wort darstellen, aber nicht die grammatische Form oder die Aussprache (obwohl manchmal grammatikalische Zusätze gegeben werden). Diese Logogramme sind in Kapitälchen gesetzt (siehe den Kasten „Keilschrift“ auf Seite 12). Bis auf seltene Ausnahmen sind diese Logogramme dem Sumerischen entlehnt, ehemals die Hauptsprache Mesopotamiens, die als Sprache der Wissenschaft (vergleichbar mit Latein in der europäischen Neuzeit) bis zum ersten Jahrhundert n. Chr. überlebt hat. Einige dieser Logogramme entsprechen technischen Ausdrücken die bereits von sumerischen Schreibern benutzt worden sind; ein Beispiel dafür ist igi. Andere Logogramme dienten als Abkürzungen für babylonische Wörter, mehr oder weniger wie das englische „viz“, die Abkürzung für den lateinischen Ausdruck „videlicet“ in mittelalterlichen Manuskripten, das aber als namely ausgesprochen wird.

Wir wir bereits erwähnt haben, stammen unsere Texte aus der zweiten Hälfte der altbabylonischen Epoche, wie man an der Handschrift und der Sprache erkennen kann. Leider ist es oft unmöglich, Genaueres zu sagen, weil fast alle dieser Tafeln aus Raubgrabungen stammen und von Museen auf dem Antiquitätenmarkt in Bagdad oder Europa gekauft worden sind.

Wir haben keine direkten Informationen über die Autoren der Texte. Sie stellen sich nie vor, und keine andere Quelle spricht von ihnen. Da sie die Schrift beherrschen (und zwar besser als nur die Grundlagen der Silbenschrift, die auch manche Laien schreiben konnten), müssen sie zur Kategorie der Schreiber gehört haben. Weil sie auch rechnen konnten, können wir sie als „Rechner“ bezeichnen; und weil das Format der Texte sich auf didaktische Situationen bezieht, dürfen wir annehmen, dass sie Lehrer an Schreiberschulen13 gewesen sind.

Alle diese Informationen basieren auf indirekten Argumenten. Vermutlich hat die Mehrzahl der Schreiber nie Mathematik jenseits einfacher Berechnungen getrieben; wahrscheinlich waren nur sehr wenige auf dem hohen mathematischen Niveau unserer Texte ausgebildet. Es ist sogar wahrscheinlich, dass nur eine Minderheit der Lehrer solche Dinge unterrichtet hat. Folglich, und weil mehrere Stimmen aus diesen Texten sprechen (siehe Seite 38), ist es oft besser anzunehmen, dass es der Text selbst ist, der „gibt“, „findet“ und „berechnet“.

Die Übersetzungen in diesem Buch, die alle auf Grundlage der englischen Übersetzungen des Autors gemacht worden sind, unterscheiden nicht zwischen Wörtern, die in Silbenschrift oder in Logogrammen geschrieben sind (Leser, die dies wissen möchten, müssen die Transliterationen in Anhang B konsultieren). Bis auf diese Ausnahme sind sie „konform,“ also in der Struktur der Redewendungen sehr nahe am Original14; außerdem benutzt die Übersetzung verschiedene Wörter für solche, die auch im Akkadischen verschieden sind und dieselbe Übersetzung für gleiche Wörter, es sei denn, dass diese in offensichtlich verschiedener Funktion gebraucht werden (vgl. die Liste der „Standardübersetzungen“ auf Seite 135). So weit wie möglich respektiert die Übersetzung die nicht-technischen Bedeutungen der babylonischen Wörter (beispielsweise „zerbrechen“ statt „halbieren“) und die Beziehung zwischen Ausdrücken (etwa „sich selbst gegenüberstehen“ und „Gegenseite“).

Damit will nicht gesagt sein, dass die Babylonier keine technische Terminologie über ihre Umgangssprache hinaus besaßen; aber es ist wichtig, dass die technische Bedeutung eines Wortes aus dem Gebrauch in altbabylonischen Texten gelernt und nicht von unserer modernen Terminologie übernommen wird (mit dem Risiko, dass diese Übernahme schlecht ist, wie es oft vorgekommen ist).

Die Struktur der babylonischen Sprache ist sehr verschieden von der Struktur des Deutschen; deswegen sind die konformen Übersetzungen weit davon entfernt, elegant zu sein. Aber das Prinzip der Konformität hat den zusätzlichen Vorteil, dass Leser, die das möchten, dem Original in Anhang B Zeile für Zeile folgen können (die bibliographischen Bemerkungen auf Seite 157 gibt an, wo die wenigen Texte, die im Anhang nicht wiedergegeben sind, veröffentlicht worden sind.

Um vollkommen unleserliche Übersetzungen zu vermeiden, wird das Prinzip der Konformität nicht auf die Spitze getrieben. Im Deutschen muss man wählen, ob man einem Substantiv einen bestimmten oder einen unbestimmten Artikel voransetzt; im Babylonischen, ebenso wie im Lateinischen und Russischen, ist dies nicht der Fall. Auch gibt es im Altbabylonischen keine Satzzeichen (außer Zeilenumbruch und ein Partikel, den wir mit „:“ wiedergeben), und die absolute Größenordnung von Zahlen im Sexagesimalsystem wird nicht angezeigt; minimale Interpunktion sowie Angaben der Größenordnungen (′, ‵ und °) wurden hinzugefügt. Zahlen, die im Original als Zahlen geschrieben sind, wurden mit arabischen Ziffern übersetzt, während Zahlen, die durch Wörter (oder Logogramme) gegeben sind, als Wörter übersetzt wurden; gemischte Schreibweisen erscheinen gemischt (z.B. „die 17te“ oder sogar „die 3te“ für die dritte).

Beschriftete Tontafeln überleben besser als Papier, insbesondere wenn die Stadt zusammen mit ihren Büchereien und Archiven abbrennt, aber auch wenn sie als Müll weggeworfen werden. Dennoch sind fast alle Tafeln, auf die wir Bezug nehmen, beschädigt. Auf der anderen Seite ist die Sprache der mathematischen texte extrem gleichförmig mit vielen Wiederholungen, und es ist daher oft möglich, die beschädigten Passagen aus parallelen Passagen derselben Tafel zu rekonstruieren. Um das Lesen zu erleichtern sind die Rekonstruktionen in den Übersetzungen nur angedeutet (als ¿?) wenn die genauen Wörter nicht vollkommen sicher sind. Manchmal hat ein Schreiber ein Wort oder eine Passage beim Schreiben einer Tafel ausgelassen, die aber aus parallelen Passagen derselben oder einer verwandten Tafel wieder hergestellt werden kann. In solchen Fällen erscheint der wiederhergestellte Text als ⟨...⟩, während {...} für eine Wiederholung oder fälschlich geschriebene Zeichen steht (die Originaledition der Texte gibt die vollständige Information über zerstörte und unleserliche Passagen, sowie von Schreibern gemachte Fehler. Erklärende Wörter, die im Text eingefügt sind, erscheinen zwischen runden Klammern (...).

Tontafeln haben Namen, meist Museumsnummern. Das kleine Problem, das wir oben zitiert haben, ist das erste auf der Tafel BM 13901, also Tafel #13901 in der Sammlung der Keilschrifttafeln des Britischen Museums. Andere Namen beginnen mit AO (Antiker Orient, Louvre, Paris), VAT (Vorderasiatische Texte, Berlin) oder YBC (Yale Babylonian Collection). TMS bezieht sich auf die Edition Textes mathématiques de Suse, einer Sammlung des Louvre von Tafeln aus Susa, einer iranischen Grabungsstätte in der östlichen Nachbarschaft von Babylon.

Die Tafeln sind zum großen Teil auf beiden Seiten beschriftet (auf Vorderseite (abgekürzt mit Vs.) und Rückseite (Rs.), manchmal in mehreren Spalten, und bisweilen auch auf der Kante. Die Texte sind in Zeilen eingeteilt, die von links nach rechts gelesen werden. Den Originaleditionen folgend geben die Übersetzungen die Zeilennummern und, falls vorhanden, die Vorderseite, Rückseite und Spalte.

Fußnoten

Um 1930 musste man mit Texten beginnen, die weitaus komplexer waren als das Beispiel, das wir gerade betrachten; dieses wurde erst 1936 entdeckt. Die Prinzipien waren aber dieselben. Die wichtigsten Beiträge in den frühen Jahren stammen von Otto Neugebauer, ein Historiker der antiken Mathematik und Astronomie, und dem Assyriologen François Thureau-Dangin.

Eine wörtliche Rückübersetzung von François Thureau-Dangins französischer Übersetzung. Otto Neugebauers deutsche Übersetzung stimmt bis auf einen Punkt damit überein: wo Thureau-Dangin „1°, die Einheit“ übersetzt, schlägt Neugebauer „1, der Koeffizient“ vor. Außerdem transkibiert er Zahlen im Sexagesimalsystem anders.

Niemandem außer vielleicht Neugebauer, der bei einer Gelegenheit (völlig zu Recht) bemerkte, dass ein Text eine falsche Multiplikation benutzt. Jedenfalls muss man bemerken, dass weder er noch Thureau-Dangin jemals eine falsche Operation gewählt haben, wenn sie fehlende Teile einer zerbrochenen Tafel rekonstruiert haben.

Genau gesagt steht das Wort, das wir mit Länge übersetzen, für „Entfernung“, „Länge“ oder „Ausdehnung“ während „Breite“ eigentlich „Vorderseite“, „Stirn“ oder „Kopf“ bedeutet. Sie beziehen sich auf die Idee der Länge und Breite eines bewässerten Feldes. Das Wort für Fläche bedeutet ursprünglich „Feld“, sodass die Texte andere, weniger geeignete Wörter benutzen, wenn es um die Teilung von echten Feldern geht. Im Folgenden werden wir das Wort mit „Fläche“ übersetzen. Dieses Wort hat einen ähnlichen Wandel der Bedeutung durchgemacht und steht sowohl für die räumliche Ausdehnung als auch für seinen Flächeninhalt.

Eine ähnliche Unterscheidung wurde für Längen und Breiten geschaffen. Wenn diese für „algebraische“ Variablen stehen, dann wurden sie mit den Logogrammen und sag̃ geschrieben; wenn sie für allgemeine Zwecke (Länge einer Mauer, eine Entfernung) benutzt werden, werden sie mit phonetischen Komplementen oder in Silbenschrift als šiddum und pūtum geschrieben.

Wegen des Fehlens eines Sexagesimalpunkts ist es nicht möglich zu sagen, ob die Grundeinheit 1 nindan, 60 nindan oder \frac{1}{60} nindan ist. Die Wahl von 1 nindan erscheint (zumindest uns) als die natürlichste Wahl für einen babylonischen Rechner, weil sie bereits als Einheit existiert (dies gilt auch für 60 nindan, aber nicht für \frac{1}{60} nindan) und weil Entfernungen, die in nindan gemessen wurden, vor der Einführung des Sexagesimalsystems jahrhundertelang ohne expliziten Verweis auf die Einheit aufgeschrieben worden sind.

Wir sollten nicht ausschließen, dass die Babylonier die Mine als Standardeinheit betrachteten, oder dass sie beide Möglichkeiten zuließen.

Die gebräuchliche Verbform wäre ein Kausativ-Reziprokativ. Gelegentlich ist der gebrauchte Ausdruck aber „Lass p zusammen mit q enthalten“, was die reziprokative Interpretation auszuschließen scheint.

Wenn wir von einer „Schule“ im babylonischen Kontext sprechen, dann müssen wir uns der Tatsache bewusst sein, dass wir Schulen nur aus Texten kennen. Kein Raum ist von Archäologen jemals als Schulzimmer identifiziert worden (was man zeitweilig einmal für ein Schulzimmer gehalten hat, hat sich später als Lagerraum herausgestellt). Wir wissen also nicht, ob die Schreiber im Palast oder Tempelschulen unterrichtet wurden, oder Schreiber-Lehrer in ihren privaten Häusern jeweils ein paar Schüler ausbildeten. Wahrscheinlich wurden viele von Privatlehrern unterrichtet. Die große Zahl an fast identischen Kopien von Reziprokentafeln, die zum Zwecke des Auswendiglernens erstellt wurden, zeigen aber, dass künftige Schreiber nicht (oder nicht allein) Lehrlinge eines Schreibers waren, sondern nach einem genau definierten Lehrplan unterrichtet wurden. Dies legen auch andere Quellen nahe.

Es erscheint seltsam, dass die Multiplikation von igi 4 mit 30 durch „Erhöhen“ ausgeführt wurde. Geht es hier nicht um ein Produkt einer Zahl mit einer anderen? Nicht notwendig: der Ausdruck im Text, wo igi 4 gesucht ist, zeigt, dass es „abgespalten“ wird. Die Idee ist also ein Aufteilen in 4 Teile, von denen einer abgespalten wird. Es sieht so aus, dass das, was ursprünglich abgespalten wurde (zu den Zeiten, als das Sexagesimalsystem entwickelt wurde), eine Länge war – nämlich 1‵ [nindan] , nicht 1 [nindan]. Diese Vorstellung aus den Zeiten von Ur-III war in der altbabylonischen Epoche sicherlich vergessen; aber die terminologische Gewohnheit hatte überlebt.

Außerdem versteht es sich von selbst, dass n selbst in dieser Form geschrieben werden kann. Man überzeugt sich leicht davon, dass alle „reguläre Zahlen“ in der Form 2^p \cdot 3^q\cdot 5^ r geschrieben werden können, wobei p, q und r ganze Zahlen sind. 2, 3 und 5 sind in der Tat die einzigen Primzahlen, welche die Basis 60 teilen. Die „regulären Zahlen“ in unserem Dezimalsystem lassen sich analog in der Form 2^p \cdot 5^q schreiben, und 2 und 5 sind die einzigen Primteiler von 10.

Der Ausdruck „setzen zu“ bezieht sich auf die Art und Weise, wie einfache Multiplikationsaufgaben in der Schreiberschule gestellt wurden: Die beiden Faktoren wurden übereinander geschrieben (die zweite wurde zur ersten „gesetzt“), und das Ergebnis wurde unter die beiden Faktoren geschrieben.

Genauer steht das babylonische Wort für eine „Situation, bei welcher sich Gleiche gegenüberstehen“.

Was das Problem der „Schulen“ angeht, verweisen wir auf die Fußnote 8, Seite 23, und Seite 107.

Im Akkadischen steht das Verb am Ende des Satzes. Diese Struktur erlaubt es, eine Zahl ein einziges Mal zu schreiben. zuerst als das Ergebnis einer Rechnung und dann als das Objekt einer weiteren Rechnung. Um diese Architektur des Texts (Zahl/Operation: Ergebnis/neue Operation) zu bewahren wird die Stellung des Verbs am Ende in den Übersetzungen respektiert, auch wenn es ungrammatisch ist. Die Leser werden sich daran gewöhnen müssen.