12 Zur historischen Epistemologie des Raumes

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10.34663/9783945561355-12

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Schemmel, Matthias (2019). Zur historischen Epistemologie des Raumes. In: Culture and Cognition: Essays in Honor of Peter Damerow. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

In den letzten Jahren seines Lebens hat Peter Damerow ein Forschungsprojekt begleitet und mit eigenen Beiträgen bereichert, das mir sehr am Herzen lag: Die historische Epistemologie des Raumes, ein Projekt zur langfristigen historischen Entwicklung räumlicher Begriffe, das ich mit einer Forschergruppe im Rahmen des Projektclusters TOPOI am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte durchgeführt habe. Ich möchte hier zu Peters Gedenken einige Forschungsergebnisse dieses Projektes umreißen. Eine ausführliche Darstellung unserer Ergebnisse, die auch zwei bisher unveröffentlichte Beiträge von Peter enthält (Damerow 2016a, Damerow 2016b), ist kürzlich erschienen (Schemmel 2016b). Eine monographische Darstellung der historischen Epistemologie des Raumes ist Schemmel 2016a.

Das Thema der Gruppe war die langfristige Transformation räumlicher Begriffe in der Wissenschaftsgeschichte. Nun sind langfristige Wissensentwicklungen nicht allein auf der Ebene wissenschaftlichen Wissens zu verstehen. Wissenschaftliches Wissen, das ist eine Grundannahme, die sich wie ein roter Faden durch Peters Werk zieht, ist Teil einer komplexen Wissensarchitektur, in der sich verschiedene Wissensformen gegenseitig beeinflussen.1

In etwas vereinfachender Weise können wir drei Wissensebenen unterscheiden: elementares, instrumentelles, und theoretisches Wissen. Elementares Wissen erwirbt ein jedes Individuum erneut für sich im Prozess der Ontogenese, d. h. des Aufwachsens in seiner Umwelt. Aufgrund der Übereinstimmungen in der biologischen Konstitution und in den elementaren Eigenschaften der physikalischen Umwelt sind große Teile dieses Wissens kulturunabhängige Universalien. Dieses Wissen ist jedoch im Allgemeinen nicht begrifflich strukturiert, sondern bleibt, zum Beispiel als Handlungsschema, unbewusst.

Instrumentelles und, ganz allgemein, praktisches Wissen wird durch den Umgang mit Instrumenten und durch das Ausüben kultureller Praktiken erworben. Das Wissen ist daher ebenso kulturabhängig wie das Vorhandensein dieser Instrumente und Praktiken. Die Weitergabe des Wissens erfolgt häufig durch gesprochene Sprache und gemeinsames Handeln.

Theoretisches Wissen hingegen setzt eine Reflexion auf vorheriges Wissen voraus. Es ist meistens im Medium der Schrift oder anderer Symbolsysteme repräsentiert und bedarf zu seiner Tradierung gesellschaftlicher Institutionen wie Schulen oder Bibliotheken.

Ein fundamentales Ergebnis unserer Arbeit besteht in der Erkenntnis, dass die diesen verschiedenen Wissensebenen zugehörigen räumlichen Wissensstrukturen sich in ihrer historischen Dynamik tatsächlich gegenseitig formen und beeinflussen.

Ergebnis 1. Die Ebenen des elementaren, instrumentellen und theoretischen Wissens durchdringen sich in ihrer historischen Dynamik, indem sich die ihnen zugehörigen Wissensstrukturen gegenseitig formen und beeinflussen.

In den von uns verfolgten, konkreten Unterprojekten, die das räumliche Denken zu verschiedenen historischen Zeiten und in verschiedenen Kulturen zum Gegenstand hatten, haben wir derartige Wechselwirkungen aufzeigen können. So konnten wir etwa zeigen, wie elementares Orientierungswissen zur Erklärung von Gemeinsamkeiten in den unabhängig voneinander entstandenen, verschiedenartigen kulturellen Praktiken der räumlichen Orientierung in verschiedenen Gesellschaften herangezogen werden kann. Solches Orientierungswissen ist durch elementare Wissensstrukturen charakterisiert, wie zum Beispiel der der kognitiven Karte oder auch der des mentalen Modells des Raumes im Großen.

Ergebnis 2. Die elementaren Strukturen mentaler Modelle des Raumes im Großen erklären Gemeinsamkeiten der kognitiven Strukturen, die den räumlichen Orientierungspraktiken verschiedener Gesellschaften zugrunde liegen.

Eine fundamentale Eigenschaft des mentalen Modells des Raumes im Großen ist das Vorhandensein einer Dichotomie von bewegten und unbewegten Objekten. Eine andere ist das Verständnis bestimmter Zusammenhangsverhältnisse im Raum, zum Beispiel, dass ein Ziel auf mehreren Wegen erreicht werden kann. Dieses räumliche Wissen ist nicht nur unabhängig von jeder spezifischen Kultur, die es zu untersuchen gilt, sondern geht dem Vorhandensein menschlicher Kultur überhaupt voraus. Dies zeigen Untersuchungen des räumlichen Verhaltens nicht-menschlicher Primaten. So ist es zum Beispiel bei Schimpansen nachgewiesen worden.2

Unser vergleichendes Studium verschiedener kultureller Praktiken der Orientierung hat nun gezeigt, wie diese elementaren Wissensstrukturen die Grundlage für elaborierte praktische Wissenssysteme bilden. Dabei können ganz unterschiedliche Aspekte räumlichen Wissens durch kulturelle Wissensakkumulation zu einem Expertenwissen entwickelt werden, das kein außerhalb dieser Kultur stehendes Individuum jemals hätte entwickeln können. Ein Beispiel ist das für die Orientierung mikronesischer Navigatoren essentielle System absoluter Richtungen, das sich an Sternen und Sternkonstellationen ausrichtet und 32 Richtungen definiert. Mithilfe dieses Sternkompasses bestimmen die Navigatoren nicht nur Richtungen, sondern auch ihre eigene Position. Dazu wird die Lage einer Insel, die weder Ausgangspunkt noch Ziel der Reise ist, unter den Sternen in Betracht gezogen. Die Navigatoren wissen nämlich, in welcher Richtung diese Insel zu welchem Zeitpunkt der Reise zu sehen sein muss.3

Die Praxis der mikronesischen Navigatoren bietet daher auch ein interessantes Beispiel für eine Modifikation elementarer Wissensstrukturen im praktischen Wissen. Die Dichotomie von bewegten und unbewegten Objekten wird auf interessante Weise verkehrt. Es sind nun nicht mehr die Inseln, die die unbeweglichen Landmarken darstellen, zwischen denen sich das Boot bewegt. Vielmehr betrachten die Navigatoren ihr Boot als unter dem richtungsfixierenden Sternkompass ruhend, während sich die Inseln daran vorbei bewegen.

Ergebnis 2a. Praktische Wissensstrukturen können die elementaren aber auch überformen, wie das Beispiel der modifizierten Dichotomie von bewegtem und unbewegtem Objekt bei den mikronesischen Navigatoren zeigt.

Eine weitere elementare Wissensstruktur, die sich in den anderen Wissensebenen widerspiegelt, ist die des mentalen Modells des permanenten Objekts. In den ersten Jahren unseres Lebens entwickeln wir ein Wissen von Objekten als Strukturen mit bestimmter Form und Größe, die sich an einem bestimmten Ort befinden oder sich bewegen, und die unterschieden sind von den Zwischenräumen, die sie trennen. Diese Wissensstrukturen spiegeln sich zunächst in der Alltagssprache wider, was bereits Wörter wie ‚groß‘, ‚klein‘, ‚dick‘, ‚dünn‘, ‚hart‘, ‚weich‘, ‚nah‘, ‚fern‘, ‚leer‘ und ‚voll‘ anzeigen.

Unter gewissen historischen Umständen, die zum Beispiel das Vorhandensein einer Kultur der Disputation und in den meisten Fällen wohl auch das einer Schriftsprache einschließen, kommt es zur theoretischen Reflexion über diese sprachliche Repräsentation elementaren Wissens. Ein prominentes Beispiel bieten die atomistischen Theorien der Antike, in denen die elementare Dichotomie von Objekt und leerem Zwischenraum zu einem fundamentalen Prinzip der Welterklärung absolut gesetzt wird (Damerow 2016a). Ein anderes Beispiel ist Aristoteles’ Lehre vom Ort, die elementares Wissen darüber, das alle Dinge einen Ort haben, aber nicht zwei Dinge am selben Ort sein können, reflektiert. Nach dieser Doktrin ist ein leerer Ort unmöglich, da ein Ort immer der Ort von etwas sein muss.

Wir haben in unserem Projekt einen chinesischen Text, den sogenannten Mohistischen Kanon, aus der Zeit um 300 v. Chr. neu übersetzt, analysiert und interpretiert, um mithilfe des Vergleichs der voneinander unabhängigen westlichen und chinesischen Traditionen etwas über Notwendigkeit und Kontingenz bei der Entstehung theoretischen Wissens in der Antike herauszufinden (Boltz und Schemmel 2016).4

Dies ist ein Beispiel eines der knapp zweihundert Abschnitte des Mohistischen Kanons, die immer aus einer Definition oder einer Proposition und einer dazugehöriger Erläuterung bestehen.

盈,莫不有也。

盈:無盈無厚。於尺無所往而不得二。

yíng ‘ausgefüllt sein’ bedeutet, nirgends nicht etwas zu haben.

yíng ‘ausgefüllt sein’: Wo es kein Ausgefülltsein gibt, gibt es auch keine Ausdehnung. Auf dem Maßstab gibt es keinen Ort, zu dem er sich erstreckt, an dem nicht beides (Ausfüllung und Ausdehnung) statthätte.

Die Aussage, dass Ausdehnung nur da zu finden ist, wo auch Ausgefülltsein vorhanden ist, erinnert an die aristotelische Doktrin vom Plenum, also von der Unmöglichkeit des leeren Ortes. Tatsächlich reflektieren beide Texte, die Aristotelische Physik und der Mohistische Kanon, in weiten Teilen dieselben elementaren Strukturen räumlichen Denkens. Allerdings formuliert Aristoteles seine Ablehnung des Leeren direkt als Kritik an der atomistischen Weltsicht, der er eine eigene umfassende Weltsicht entgegenstellt. Der mohistische Text formuliert dagegen keine Kritik an einer solchen Weltsicht, geschweige denn, dass er eine solche aufstellen würde. Tatsächlich sind in der chinesischen Antike umfassende Kosmologien erst nach der Zeit der Mohisten entstanden, also nach dem Auftreten metasprachlicher Reflexionen über Raum und Wissen.

Der Vergleich von griechischer und chinesischer Antike zeigt uns also, und das ist ein weiteres Ergebnis unserer Forschung, dass das Auftreten elementarer mentaler Modelle im theoretischen räumlichen Wissen ein kulturübergreifendes Phänomen ist. Die Verknüpfung solcher Reflexionen mit umfassenden Weltsystemen oder Kosmologien ist hingegen eine Besonderheit der griechischen Entwicklung. Dieser Unterschied lässt sich auf das zeitliche Verhältnis verschiedener theoretischer Traditionen innerhalb einer Kultur zurückführen.

Ergebnis 3. Das Auftreten elementarer mentaler Modelle im theoretischen räumlichen Wissen ist kulturübergreifend nachweisbar.

Die Verknüpfung derartiger Reflexionen mit umfassenden Weltsystemen oder Kosmologien hingegen stellt eine Besonderheit der griechischen Entwicklung dar, die von der zeitlichen Koinzidenz unterschiedlicher theoretischer Traditionen abhängt.

Die Theorien des Raumes der griechischen Antike prägten alle späteren Raumphilosophien im arabischen und im europäischen Raum bis in die Moderne. Grundsätzlich kann von zwei alternativen Modellen gesprochen werden:

dem Raum als Gefäß aller körperlichen Dinge, wie es der atomistischen Lehre entspricht, und

dem Raum als „Lagerungs-Qualität der Körperwelt“5, wie es der Aristotelischen Lehre vom Ort entspricht.

Ihre Überzeugungskraft gewannen diese Modelle wohl weniger durch die Autorität einzelner Philosophen als vielmehr durch die intuitive Plausibilität der elementaren Wissensstrukturen und ihre Einbettung in umfassende Wissenssysteme.

Der theoretische Kontext mit seinen Forderungen nach Allgemeinheit und Konsistenz führte dabei zu fundamentalen Fragen über den Raum, die auf der Ebene des elementaren Wissens niemals entstanden wären, wie der Frage nach dem absolut Leeren, oder der Frage nach Endlichkeit oder Unendlichkeit des Raumes oder nach seiner Kontinuität oder Diskontinuität. Die elementaren Wissensstrukturen haben auf der Ebene elementaren Handelns ihre eindeutigen Bereiche der Anwendbarkeit. Auf der Ebene theoretischen Denkens besteht im Gegensatz dazu eine inhärente Unsicherheit darüber, auf welche Aspekte der elementaren Modelle aufgebaut werden soll. Diese Uneindeutigkeit rührt von der Abwesenheit der konkreten Handlungskontexte her, die die Bedeutung der sprachlichen Repräsentationen räumlichen Wissens in ihrem alltäglichen Gebrauch einschränken. Die Operationen reflexiven Denkens sind losgelöst von diesen ursprünglichen Kontexten und fördern Strukturen zutage, die im System der Mittel zur Wissensrepräsentation, zum Beispiel der Sprache, angelegt sind. Das Ergebnis derartiger Reflexionen ist im Allgemeinen nicht vorherbestimmt, weil der Raum der möglichen Wissensstrukturen, den die Repräsentationsmittel aufspannen, viel reichhaltiger ist, als jede konkrete Realisierung einer Theorie des Raumes.

Das heißt aber keineswegs, dass theoretisches Denken beliebig wäre. Der reflektierende Umgang mit dem sprachlich repräsentierten Wissen setzt intersubjektiv geteilte Argumentationsstandards voraus. Verschiedene Raumtheorien können daher motiviert und Argumente können für und wider sie vorgebracht und abgewogen werden, wobei Kriterien der Konsistenz, Allgemeinheit, empirischer Angemessenheit und, in entsprechenden historisch-kulturellen Kontexten, theologischer Angemessenheit angeführt werden können.

Diese Unterdeterminiertheit als allgemeine Eigenschaft theoretischen Denkens erklärt die anhaltende kontroverse Diskussion über die fundamentalen Eigenschaften des Raumes in der Spätantike, dem arabischen und dem lateinischen Mittelalter, bis in die Neuzeit. Aber kam es in der frühen Neuzeit nicht zu einer eindeutigen Entscheidung in dieser Auseinandersetzung? Newtons Begriff vom absoluten Raum lässt sich eindeutig in die Tradition atomistischer Raumauffassungen einordnen. Mit Newtons Raumbegriff scheint das Modell des Raums als „Behälter aller körperlichen Objekte“ gegenüber dem Raum als „Lagerungs-Qualität der Körperwelt“ zu siegen. In vielen historischen Darstellungen bis heute wird tatsächlich suggeriert, dieser „Sieg“ sei einer inhärenten Überlegenheit des Gefäß-Modells gegenüber dem Lagerungsqualität-Modell geschuldet, als sei es das rationalere oder wissenschaftlichere der beiden Modelle.6

Unsere Analyse des Newtonschen Raumbegriffs und das Studium der weiteren Entwicklung des Raumbegriffs in der klassischen Physik haben aber deutlich gezeigt, dass es sich keineswegs um eine inhärente Überlegenheit des Modells handelte. Auch Newtons theologische Begründungen seines Raumbegriffs, die im Briefwechsel von Leibniz und Clarke eine so zentrale Rolle spielten,7 waren immer umstritten und waren späteren Generationen von Philosophen und Physikern undienlich. Das Vorherrschen des Newtonschen Begriffs des absoluten Raumes in der klassischen Physik geht vielmehr auf den Erfolg der Newtonschen Mechanik zurück, die sich einerseits auf diesen Raumbegriff stützte und der es andererseits gelang, ein enormes Korpus empirischen Wissens erfolgreich zu integrieren: die irdische Mechanik (für Newton verkörpert in der Figur Galileis) und die himmlische Mechanik (für Newton verkörpert in der Figur Keplers). Es war also empirisches Wissen, das zunächst ganz unabhängig von der Betrachtung des Raumbegriffes über lange Zeiten astronomischer Beobachtung und mechanischen Ingenieurwesens kumulierte und zur Stützung eines bestimmten Raumbegriffes führte. Und es war das Auftreten der Trägheitskräfte bei beschleunigten Bewegungen, das Newton als einen neuen Beweis für die Existenz des absoluten Raumes anführen konnte. Der Erfolg dieses Raumkonzeptes war so durchschlagend, dass das Primat des Raumes gegenüber den ihn füllenden Körpern auch die neuzeitliche Erkenntnistheorie nachhaltig prägte, wie die Kantsche Lehre vom Raum als „reiner Anschauungsform“ gegenüber dem „empirischen Begriff“ der Materie deutlich zeigt (Kant 1997, 6).8

Während der Erfolg der Newtonschen Mechanik also zur Auszeichnung des Gefäß-Modells des Raumes führte, enthielt der Newtonsche Raumbegriff viele Elemente, die durch die mathematisch-physikalische Theorie der Mechanik nicht gedeckt waren. Eine solches Element war etwa die Annahme eines absoluten Standards der Ruhe. Der Zustand absoluter Ruhe ist im Newtonschen Raumbegriff prinzipiell von dem der gleichförmigen Bewegung unterschieden, obwohl dieser Unterschied in der Mechanik nicht zum Ausdruck kommt. Die Vorstellung absoluter Ruhe ist eindeutig eine Widerspiegelung der elementaren Dichotomie von bewegten und unbewegten Objekten, die auch in den Antiken Raumtheorien implizit – manchmal auch explizit – gegeben ist. Aber im Gegensatz zur elementaren Struktur, bei der es Landmarken sind, die unbeweglich sind, ist das Unbewegte Objekt bei Newton nun zum reinen Raum sublimiert.

Dies lässt sich zusammenfassen als:

Ergebnis 4. Das Vorherrschen des Gefäß-Modells des Raumes gegenüber dem Lagerungsqualität-Modell im 18. und 19. Jahrhundert liegt nicht in einer inhärenten Überlegenheit dieses Modells begründet, sondern war eine Folge der langfristigen Expansion mechanischen und astronomischen Erfahrungswissens und seiner erfolgreichen theoretischen Integration.

Zugleich wiesen die zeitgenössischen Raumbegriffe aber Aspekte auf, die durch dieses Erfahrungswissen nicht begründet waren.

Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts lebte die Diskussion der Frage der Bedeutung des absoluten Raumes in der Mechanik wieder auf. In diesem Kontext wurde auch vorgeschlagen, die Newtonsche Sublimierung des ruhenden Objekts rückgängig zu machen und einen „Körper alpha“ einzuführen, der den absoluten Ruhezustand verkörpern sollte (Neumann 1870). Erst in dieser Zeit entstand das Konzept des Inertialsystems, das es möglich macht, den Raumbegriff der klassischen Physik ohne einen solchen Ruhestandard zu formulieren (Lange 1886, 133–141).

Die Entwicklung der Physik zeigt aber nicht nur, dass das Gefäß-Modell modifiziert werden musste, um eine kohärente Grundlage für den Raumbegriff der klassischen Mechanik darzustellen, sondern auch, dass die Entscheidung für dieses Modell nicht endgültig war. Die allgemeine Relativitätstheorie, die den fortgeschrittensten Raumbegriff unter den gegenwärtigen etablierten physikalischen Theorien aufweist, ist wohl eher mit dem Lagerungsqualität-Modell als mit dem Gefäß-Modell vereinbar. So gesehen ist der moderne Raumbegriff dem Aristotelischen wieder nähergerückt als es im 19. Jahrhundert der Fall war. Tatsächlich sind in der allgemeinen Relativitätstheorie die natürlichen Schwerebewegungen wieder eine Folge von Eigenschaften des Raumes, wie bei Aristoteles. Allerdings hat der fortgeschrittene Formalismus der modernen Physik die zugrundeliegenden Modelle stark modifiziert. Insbesondere der Feldbegriff, dem man eine Zwitterstellung zwischen Raum und Körper zusprechen kann, sprengt die elementare Dichotomie von Objekten und leeren Zwischenräumen und spielt in den gegenwärtigen Diskussionen über den Raumbegriff der allgemeinen Relativitätstheorie eine zentrale Rolle.

Ergebnis 5. Die Autonomie des Raumbegriffs, die der erkenntnistheoretischen Sonderrolle des Raumes gegenüber der Materie zugrunde liegt, ist ein historisches Phänomen, das mit der allgemeinen Relativitätstheorie sein Ende fand.

Die Rückkehr zum Lagerungsqualität-Modell des Raumes erfolgte unterdessen auf einer durch den neuen Formalismus der Feldtheorie modifizierten Grundlage.

Allerdings setzen die etablierten quantentheoretischen Behandlungen physikalischer Felder, insbesondere die Quantenelektrodynamik, nach wie vor eine (speziell-relativistische) Behälter-Raumzeit voraus. Was für einen Raumbegriff eine zukünftige Theorie hervorbringen wird, die Einsichten der allgemeinen Relativitätstheorie mit solchen der Quantentheorie verbindet, ist derzeit noch eine offene Forschungsfrage.

Damit endet diese Zusammenfassung einiger Ergebnisse aus der Forschungsarbeit zur historischen Epistemologie des Raumes, die in ihrer Gesamtheit, wie ich meine, das eingangs formulierte zentrale Forschungsergebnis stützt: Die drei Ebenen räumlichen Wissens (elementar, instrumentell und theoretisch) durchdringen sich in ihrer historischen Dynamik, indem sich die den verschiedenen Ebenen zugehörigen Wissensstrukturen gegenseitig formen und beeinflussen. Insbesondere hat sich herausgestellt, dass wissenschaftliche Raumbegriffe auf einer Vielzahl kognitiver Vorannahmen aufbauen, die ihren Ursprung in der Lösung praktischer Probleme der Orientierung und der Koordination in Raum und Zeit haben, auf die sie andersherum wieder zurückwirken. Diesen engen Zusammenhang praktischen und theoretischen Wissens hat Peter Damerow in verschiedenen Kontexten, insbesondere in der Entwicklung des Zahlbegriffs und der Mechanik vielfach dargestellt.9

References

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Schemmel, Matthias (2016a). Historical Epistemology of Space: From Primate Cognition to Spacetime Physics. Cham: Springer.

– Hrsg. (2016b). Spatial Thinking and External Representation: Towards a Historical Epistemology of Space. Berlin: Edition Open Access. url: http://edition-open-access.de/studies/8/index.html.

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Fußnoten

Siehe beispielsweise Damerow und Lefèvre (1981); Damerow (1994, 1996) und Damerow, Freudenthal, et al. (2004). Insbesondere Damerow (1994) kann als ein Modelltext für das Programm einer historischen Epistemologie fundamentaler Begriffe aufgefasst werden.

Einen umfassenden Überblick geben Tomasello und Call (1997); eine klassische Studie zu Schimpansen ist insbesondere Menzel (1973).

Siehe Gladwin (1974) für eine umfassende Darstellung der Kultur der mikronesischen Navigatoren und Hutchins (1983) für eine Interpretation ihrer kognitiven Grundlagen.

Bei unserer Arbeit haben wir sehr von dem wegweisenden Werk A. C. Grahams profitiert (1978).

So Albert Einstein in seinem Vorwort zu Max Jammers Das Problem des Raumes (1960, XIII), in dem er diese Unterteilung vornimmt.

Ein Beispiel für eine solche Darstellung ist die Max Jammers, der den Weg zu Newtons Raumbegriff als Befreiung vom Aristotelischen Denken feiert: „Die Überwindung des Aristotelischen Raumbegriffes“ (1954).

Siehe zum Beispiel Leibniz and Clarke (1991).

Zu Kants empirischen Begriff der Materie, siehe insbesondere Friedman (2001).

Zum Zahlbegriff siehe Damerow (1994), zur Mechanik siehe Renn and Damerow (2007), zur Geometrie siehe Wolfgang Lefèvres Beitrag in diesem Band.