2 Das Bauwerk als Quelle
Zur Untersuchungsmethodik

Download Chapter

DOI

10.34663/9783945561058-04

Citation

Flüge, Bernhard (2015). Das Bauwerk als Quelle Zur Untersuchungsmethodik. In: Domus solaratae: Untersuchungen zu Steinhaus und Stadtentstehung um 1100 in Cluny. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

2.1 Vorbemerkungen

„Die besondere Schwierigkeit der Bauforschung liegt gewiss darin, dass eine seriöse Bauuntersuchung Zeit braucht und ohne seriöse Untersuchung der Einzelbefund tendenziell wertlos ist. Wenn es es dem Fach aber nicht gelingt, im Sinne einer vergleichenden Bauforschung den diffizilen Einzelbefund als Fundament einer übergreifenden, auf heutige Fragen und Bedürfnisse gerichteten Erkenntnissuche darzustellen, so wird es künftig schwer sein, die Daseinsberechtigung des Fachs zu vermitteln.“1

So lautet Johannes Cramers Fazit einer kurzen kommentierten Historiographie der Methodik neuerer Bauforschung an nachantiken Bauten. Die Verwertung des Bauwerks als Quelle, wie Wulf Schirmer es umreißt und zur Erhellung kulturgeschichtlicher Zusammenhänge als notwendig darstellt, war von Beginn an Ziel der vom Verfasser unternommenen Bauforschungen.2 Das Symposion „Ateliers clunisiens“ stand im Jahr 2000 unter dem Leitthema „Les maisons médiévales de Cluny comme document historique“ und etablierte das Quellenverständnis des Stadthauses als Desiderat der fächerübergreifenden Cluny-Forschung. An dieser Stelle kann die vorliegende Untersuchung dienen. Die umfangreiche Inventarisierungs– und Öffentlichkeitsarbeit des Centre dʼétudes clunisiennes wird durch eine baugeschichtliche Analyse ergänzt, deren Ergebnisse über die neuartige bauhistorische Stellung früh– und hochromanischer Stadthäuser und deren Typologie hinausreichen. Neben planungsgeschichtlichen Ergebnissen – die bislang mit unterschiedlichem Erfolg vor allem von Historikern gesucht wurden – und einem ebenfalls neuen Erklärungsansatz der Stadtentstehung wurde auf der Basis der vertieft analysierten Hausbefunde die Aula der Anlage Cluny III identifiziert. Das Verständnis einer der wichtigsten Schrift– und Bildquellen zu Cluny konnte als Zusatzergebnis geklärt werden. Es ist der Abschnitt der Vita Hugonis, der die Gründungslegende der Abtei III enthält und als „monument de lʼhistoriographie clunisienne“ bezeichnet wurde.3 So kann die vorliegende Arbeit in die allgemeine historische und archäologische Cluny-Forschung eingebettet werden und liefert neue Grundlagen dafür. Bemerkenswert scheint, dass die übergreifenden Erkenntnisse in der Mehrzahl gegen Ende des Untersuchungszeitraums und nach Vollendung der Baudokumentation entstanden sind. Der Vergleich mit einem 2001 publizierten Vorbericht4 zeigt deutlich den Unterschied zwischen der begonnenen Bauuntersuchung und dem vorliegenden Endergebnis.

Die Untersuchungsobjekte wurden nach stilistischen, konstruktiven und typologischen Kriterien ausgewählt, denen am Bauwerk beobachtete Merkmale zugeordnet wurden. Die Objektfindung nach individuellen Merkmalen leitet die jeweilige Objektbeschreibung ein und trägt so von vornherein zum Verständnis des untersuchten Bauwerks bei. Das Fundament der Arbeit bilden eine Vielzahl von beobachteten Einzelheiten, die als Bauaufnahme – „sichere Grundlage“ für die Bauforschung (Dethard von Winterfeld)5 – dokumentiert wurden und eine fundierte Einordnung und Ergänzung der untersuchten Baufragmente erlauben. Nur auf dieser Basis war die Ableitung auch übergeordneter Fragen und Erkenntnisse möglich. Das ist schon oft gesagt worden, erhält allerdings in Gewärtigung der Forschungsgeschichte Clunys eine ganz konkrete Bedeutung: Fast jede vorhandene, markante Aussage zu Typologie und Datierung von Wohnbauten oder auch zur Siedlungsgeschichte musste auf ihre Herleitung überprüft und oftmals revidiert werden.

Um das Kernthema der Arbeit, die bislang vollkommen unbekannten Bauten der Zeit vor 1150 nämlich, seiner Bedeutung entsprechend überhaupt darstellen zu können, musste der Forschungskontext geklärt – etwa die verbreitete, falsche dendrochronologische Datierung eines Vergleichsbaus korrigiert – und der fragliche Zeitraum insgesamt von übereilt dargestellten Hypothesen befreit werden. Der Aufwand dafür war oft größer als die Erschließung von unberührtem Gelände. Es ist auch nicht zu übersehen, dass die Forschung immer wieder unter Konkurrenz– und Erfolgsdruck publiziert, bevor noch die Ergebnisse ausreichend fundiert sind. Oder sie begleitet zwangsläufig die wirtschaftlich bedingte Zerstörung eines Bauwerks und hat weder die Freiheit der Wahl des Gegenstands, noch die Möglichkeit der längerfristigen, vergleichenden Beobachtung. Die bestehenden Forschungslücken, vor allem auf dem Terrain fächer– und epochenübergreifender Erkenntnis, bleiben so der Spekulation überlassen. Voraussetzung für die Wertschätzung baugeschichtlicher Leistungen aber ist die Verlässlichkeit und Überprüfbarkeit der Ergebnisse. Nur dadurch kann der Bedarf an solchen Leistungen erkannt und begründet werden. Dazu kommt, dass die angewandte Sorgfalt auch von bauarchäologischen Laien, die mit den Bauten zu tun haben, durchaus wahrgenommen und verstanden wird: Nicht selten hat im Untersuchungszeitraum vor allem die Präzision der Dokumentation erst das Interesse von Hauseigentümern, Architekten und teils hochgebildeten Touristen am Forschungsinhalt geweckt.

2.2 Zusammenfassung der angewandten Methoden

Da es sich bei der vorliegenden Untersuchung um eine Grundlagenarbeit handelt, ist die Vermittlung des Einzelbefundes und seiner Rolle für eine übergeordnete Fragestellung außerordentlich wichtig. Er sollte überprüfbar bleiben, auch wenn der Zugang vor Ort nicht mehr möglich ist. Diese Aufgaben kommen der anhängenden, detaillierten zeichnerischen baugeschichtlichen und –archäologischen Dokumentation zu (s. Pl. 9.19.45). Als naturwissenschaftliche Datierungshilfen dienten 11 dendrochronologische Kampagnen und eine 14C-Radiokarbondatierung. Auf der Basis der Baudokumentation sind maßstäbliche Rekonstruktionen erarbeitet worden. Sie kommen mit nur wenigen hypothetischen Zutaten aus und vermitteln ein schnell verständliches, realistisches Bild der interessantesten Gebäudephasen. Es liegen Planzeichnungen, Isometrien und – für den ‚Saalbau mit hohem Wohnhaus‘ von 1136 – eine virtuelle Echtzeitsimulation vor. Aus der Dokumentation heraus werden typologische Zusammenhänge leicht ersichtlich. Am Beispiel des solarium ist die namengebende typologische Besonderheit der für die Zeit hochmodernen und vorbildhaften Steinhäuser (domus solaratae) herausgearbeitet worden, einschließlich der neu definierten Aula von 1107/08 (d) als Großbau der Abtei. Das solarium spielt für die Entwicklungsgeschichte des europäischen Stadthauses eine zentrale Rolle (vgl. Kap. 5.4, S. 325338).

Das zweite Thema der Arbeit betrifft die Stadtentstehung. Die Analyse kann sich erstmals auf entsprechend differenzierte Hausbefunde stützen. Mehr noch als die Erforschung der Häuser ist die Interpretation der Stadtentstehung auf die Auswertung unterschiedlichster Indizien angewiesen. Dazu gehören neben der präzisen Kartierung von Haus– und stratigraphischen Befunden die Analyse moderner und historischer Kataster und der ältesten detaillierten Stadtperspektive, die anthropo– und hydrogeographische Auswertung eines Luftbildes (im Plananhang enthalten), die Sichtung und Überprüfung von Text– und Bildquellen und ihrer bisherigen Interpretation, die umfassende, genaue Geländebeobachtung und der Versuch einer siedlungsgeographischen Interpretation. Zu Hilfe kommen die Beobachtungen und Erfahrungen entsprechender Forschungen in Freiburg im Breisgau und der Vergleich mit Angaben des Corpus agrimensorum, des nach heutigem Ermessen einzigen Handbuchs zur Anlage von Siedlungen, das in der behandelten Zeit um 1100 bekannt war und verbreitet wurde. In einer vergleichbar umfassenden Weise ist die Siedlungsgenese und Stadtanlage von Cluny bisher nicht behandelt worden. Aus der Verdichtung einer Vielzahl unabhängiger Einzelbeobachtungen ergibt sich diesbezüglich ein neues Bild. Durch die ungewöhnlich weitgehend erhaltene Erstbebauung ergibt sich die seltene Möglichkeit der anschaulichen Vermittlung einer für das Hochmittelalter exemplarischen Stadt.

Die Fragestellungen waren nur mit Hilfe eines interdisziplinären methodischen Ansatzes zu behandeln. Interdisziplinäre Vorbildung und jahrelange bau– und bodenarchäologische Felderfahrung ermöglichten es, übergreifende Antworten zu finden und neue Fragen zu entwickeln. Es ist wünschenswert und ganz sicher ertragreich, für Untersuchungen zur mittelalterlichen Stadt die verstärkte Zusammenarbeit von Wissenschaftlern unterschiedlicher Fächer zu suchen und symbiotisch zu verbinden.

2.3 Anmerkungen zur Baudokumentation (Pl. 9.19.45)

Mit der vorliegenden Arbeit wurde die steingerechte, verformungsgetreue Baudokumentation nach dem Vorbild der Antikenforschung in Cluny eingeführt. Rechnet man den Arbeits– und Zeitaufwand, bildet die Dokumentation weitaus den Hauptteil der vorliegenden Abhandlung. Sie dient als Bestandsnachweis, darüber hinaus als ausreichend präzise Ausgangsmaterie für Ergänzungen, isometrische und virtuelle Rekonstruktionen und die typologische Interpretation. Ihre Anschaulichkeit ist durch eine umfassende Beschriftung ergänzt und dient der effizienten Inhaltsvermittlung. Neben der Wissenschaft gibt es weitere Adressaten. Es sind die Berufsgruppen, die mit historischen Bauten zu tun haben, es sind die Eigentümer, die nicht selten über einen technischen oder naturwissenschaftlichen Hintergrund verfügen, es sind Touristen, die für Cluny nicht nur ein Wirtschaftsfaktor sind, sondern auch neues Wissen nach außen tragen.

Abb. 2.1: Cluny, frühneuzeitlicher Raum vor der Bauaufnahme.

Abb. 2.1: Cluny, frühneuzeitlicher Raum vor der Bauaufnahme.

Bei der Bauaufnahme geht es vorrangig um das Erschließen von zeittypischen Kenntnissen des Anordnens und Schaffens von Räumen, deren handwerkliche Umsetzung nicht ohne ästhetischen Anspruch bleibt. Die Herangehensweise an das Objekt entspricht derjenigen der ingenieurmäßigen Baugeschichte, ergänzt durch Methoden der Klassischen Archäologie. Die Stärken der ersteren liegen im Erfassen und Darstellen räumlicher und konstruktiver Zusammenhänge und im entwerfenden Akt der Rekonstruktion. Die Betrachtungs– und Dokumentationsweise der Klassischen Archäologie eröffnet den Zugang zu fragmentierten Situationen und komplizierten Schichtbildern sowie zur feinen Stilanalyse. Ihre Anwendung auf eine zunächst kaum geordnet erscheinende Ansammlung mittelalterlicher Steine erwies sich im vorliegenden Fall nicht nur als möglich, sondern als notwendig für ein richtiges Ergebnis. Der Aufwand der Bauaufnahme und Baubeobachtung beispielhafter Architektur, die nach wenigen sichtbaren Merkmalen ausgewählt wurde (vgl. Abb. 2.1), richtete sich durchaus nach der Fragestellung und den Erfordernissen eines sinnvollen Ergebnisses im Sinne einer (fach-)übergreifenden Erkenntnis. Wie in der Antikenforschung tritt zur stein– und verformungsgerechten Aufnahme exemplarischer Einzelbauten die Rekonstruktion des Erstzustandes und, zum Teil, folgender Zustände eines Bauwerks. Für jedes der hauptsächlich untersuchten Häuser ergab sich die Möglichkeit einer Sondierung der archäologischen Bodenschichten bis zum Fundamentbankett, meist auf dem Niveau der geologischen Deckschicht. Neben Erkenntnissen zum Straßenbezug der untersuchten Architektur, zum Anwachsen des Straßenniveaus, zu Siedlungsalter und –intensität, entstand auf diese Weise die richtige Proportionierung der Rekonstruktion, mithin eine Basis auch für entwurfsbezogene und metrologische Interpretationen. Im ‚Haus mit Rundbogentor‘ von 1090/91, dem bisher ältesten mittelalterlichen Stadthaus Frankreichs, konnte der Einzelhaustypus mit Hilfe einer bodenarchäologischen Sondierung des ehemaligen Vorhofs und des westlichen Seitenbereichs bestätigt werden.

Abb. 2.2: Cluny, Haus 20, rue du Merle, Fassade des Kernbaus von 1090/91 (d).
Links: Einzelblatt der Vor-Ort-Dokumentation mit Hartgraphit auf verzugsfreier Zeichenfolie.
Rechts: Übertragung in Tusche zur Darstellung des Gesamtbefunds und zur Reproduktion.
Pl. 9.9 (links) und Pl. 9.8 (rechts), jeweils Ausschnitt.

Abb. 2.2: Cluny, Haus 20, rue du Merle, Fassade des Kernbaus von 1090/91 (d).
Links: Einzelblatt der Vor-Ort-Dokumentation mit Hartgraphit auf verzugsfreier Zeichenfolie.
Rechts: Übertragung in Tusche zur Darstellung des Gesamtbefunds und zur Reproduktion.
Pl. 9.9 (links) und Pl. 9.8 (rechts), jeweils Ausschnitt.

Bei der praktizierten Bauaufnahme handelt es sich durchweg um konventionelles Handaufmaß mit Schnurgerüst, ergänzt durch die Steinkonturaufnahme mit dem Feldpantographen, die nachträglich präzisiert und durch das Steinbild ergänzt wurde (Abb. 2.2). Das Vorgehen ist bekannt und erfahrungsgemäß eine verlässliche Analysemethode, die bereits von anderen ausführlich und anschaulich dargestellt wurde.6 Eine geodätische Vorvermessung war mit den vorhandenen Mitteln und Möglichkeiten nicht zu leisten. Freilich hätte eine tachymetrische Kampagne im Vorfeld die Arbeit wesentlich erleichtern können und das unmittelbare Einhängen der Befunde ins geodätische Koordinatensystem erlaubt. Sie wurde durch besondere Präzision beim manuellen Einrichten und Verwenden von Schnurgerüsten kompensiert. Die festgestellten Toleranzen bleiben hinreichend genau, um Aussagen zu Bauproportion und –dimensionierung der untersuchten Gebäude zu machen. Der faktische Toleranzbereich der metrologisch hauptsächlich festgestellten Längeneinheit pertica liegt bei 6.30 ± 0.03 m, je nach Bauwerk. Messfehler bei der Bauaufnahme betragen maximal 5 Promille, wenn die Räume innerhalb eines Geschosses nur schwierig miteinander korrelierbar sind. Durch Unebenheiten der Mauerflächen können Messungen derselben Strecke im Grundriss um bis zu 0.02 m variieren. Durch Verformung eines Baus entstehen noch größere Abweichungen vom ursprünglichen Baumaß. Die Auswahl zu verwendender Messpunkte und die Rückrechnung von Verformungen hat mindestens so große Bedeutung wie die Genauigkeit der einzelnen Messung. Für eine metrologischen Auswertung müssen alle Faktoren, die Toleranzen erzeugen, berücksichtigt werden.

Die im Maßstab 1 : 20 erstellte, beschriftete Baudokumentation ist verkleinert im Anhang enthalten. Sie wäre zum verlustfreien Abdruck im Maßstab 1 : 50 geeignet (siehe Planköpfe). Sie erübrigt wenig anschauliche Beschreibungstexte und dient zugleich als Nachweis für die baugeschichtliche Einordnung der betreffenden Architektur, für Rekonstruktion und weitergehende Interpretation. Das Medium der Vor-Ort-Aufnahme ist verzugsfreie Folie, auf die mit Hartgraphit gezeichnet wurde. Der Aufnahmemaßstab 1 : 20 ermöglichte in der reproduktionsfähigen Reinzeichnung die Darstellung des Einzelsteins und des Gesamtbauwerks auf noch praktikablen Planformaten. Im Fall der Aula (Kap. 3.4) reichte der Maßstab 1 : 50 als Basis aus, nicht zuletzt wegen der grundsätzlich mächtigeren Dimensionierung aller Bauteile im Vergleich zum Stadthaus. Allerdings war die akribische Dokumentation und genaue Kenntnis der zeitgleich einzuordnenden Stadthäuser eine Voraussetzung für die Beobachtung und Interpretation des Großbaus.

Eine photogrammetrische Aufnahme ist vor allem bei steinsichtigen Großbauten sinnvoll, etwa der Aula von 1108 oder auch dem Tour des Fromages, wo unter der Leitung des Autors im Sommer 2013 eine Bauaufnahme unternommen wurde, die zur Erstellung einer verformungs– und steingerechten Dokumentation eine Kombination aus Tachymetrie, Photogrammetrie und Handaufmaß einsetzte. In den Stadthäusern ist das Baugefüge für eine photogrammetrische Auswertung zu kleinteilig und zu kompliziert. Es erforderte die unmittelbare, wiederholte Beobachtung aus nächster Distanz und nicht selten die Zeichnung vor Ort, um Klarheit über das Baugefüge zu gewinnen. Davon abgesehen, bildeten die Vorarbeiten den Hauptteil des Untersuchungsaufwands. Erst die Freilegung der Originalsubstanz durch Beseitigung von Verschmutzungen, Verschüttungen und baugeschichtlich unbedeutenden Aufputzen ermöglichte, eine Vorstellung vom Bauwerk zu entwickeln. Dazu kommen bauteileingreifende Maßnahmen zur Klärung des Baugefüges.7 Bis auf weiteres wird die seriöse Untersuchung vor Ort auf Freilegung von Hand, Beobachtung, Messung, Zeichnung und Beschreibung angewiesen bleiben. Eine gute Unterstützung bilden Baufotos, die digital unkompliziert anzufertigen und auszuwerten sind. Neue elektronische Techniken sind derzeit erst für den Umgang mit der fertigen Baudokumentation interessant. Das Problem einer anwendungsfreundlichen Vektorisierung der Dokumentation wird wahrscheinlich in den nächsten Jahren gelöst werden, um Ergänzungen per CAD einzutragen und die Basis für Rekonstruktionen unmittelbar aus der Dokumentation exzerpieren zu können. Vorliegend brachte das Scanning der Dokumentation als Fotografie die beste Wiedergabe. Die Datenmenge brachte die genutzten Rechner an oder über die Grenzen der Leistungsfähigkeit. Die Reduzierung durch Schwarzweiß-Konvertierung, Glättung und Umformatierung als datenreduzierte Bitmap waren Voraussetzung für die digitale Nachbearbeitung. In der Baudokumentation (s. Anhang) ist anschauungshalber für die Fassade des ‚Hauses mit Rundbogentor‘ von 1091 (d) zusätzlich die kontrastverstärkte und nachbearbeitete Vor-Ort-Aufnahme enthalten (Pl. 9.9).

2.4 Zur dendrochronologischen Datierung von Bauwerken in Cluny

Die Dendrochronologie ist neben der Radiokarbonanalyse und der Thermolumineszenz ein etabliertes naturwissenschaftliches Verfahren zur Datierung historisch interessanter Substanz und braucht nicht von Grund auf erläutert zu werden. Der Nutzen der dendrochronologischen Datierung ist erstrangig, wenn drei Bedingungen erfüllt sind: Erstens, dass die Referenzkurven richtig kalibriert sind; zweitens, dass eine umfassende Bauuntersuchung die Zugehörigkeit der datierten Bauhölzer zu einer bestimmten, richtig rekonstruierten Bauphase zweifelsfrei zuordnet; drittens, dass die Untersuchung eine ausreichende Anzahl von Proben mit Splintholz und Schalkante umfasst, die eine sorgfältige Auswertung erfahren. Andernfalls kann die gesamte Datierung wertlos, sogar irreführend sein.

Nicht selten wird das Ergebnis einer nur oberflächlichen Baubeobachtung durch eine dendrochronologische Datierung legitimiert. Es bleibt die Gefahr, dass es dennoch nicht für den zeitlichen und typologischen Vergleich mit anderen Bauten geeignet ist. Die Präzision der Datierung kann nicht die Präzision der Bauuntersuchung ersetzen, gerade beim eingangs genannten „diffizilen Einzelbefund“. Umgekehrt muss die Auswertung durch das beauftragte Labor gewissenhaft und akribisch erfolgen, um die Befunddarstellung nicht zu verfälschen. Beide folgenreichen Fehler sind im Zusammenhang mit exemplarischen Gebäuden in Cluny aufgetreten; deshalb die folgenden Bemerkungen.

Zu zwei der vier vorliegend jahrgenau datierten romanischen Profanbauten lagen bereits zu Beginn der Untersuchung dendrochronologische Daten vor, die als Referenzwerte dienten. Es war die Datierung „1109–1149“ für das ‚Haus eines Händlers‘ (vorliegend dendrochronologisch neu um 1200 datiert), des Weiteren „1096–1102“ für den „Gästetrakt Abt Hugos“ (vorliegend neu bestimmt als Aula von 1107/08 (d)). Im ersteren Fall waren nach Überprüfung des Datierungsberichts nur drei Proben ohne Splintholz genommen worden, die eigentlich gar keine Aussage über das Baudatum zulassen. Dennoch wurde das der Fällungszeitraum „1109–1149“ vom Dendrolabor der Universität Besançon festgestellt, von der Forschung als Baudatum übernommen und als Standard festgeschrieben.8 Die Revision dieser Angabe zog wiederum die Revision der Datierung der Aula nach sich, da beide Datenreihen derselben Kampagne entstammten. Es zeigte sich, dass die Referenzzuordnung mit großer Wahrscheinlichkeit richtig war, die Probenentnahme bzw. Ergebnisdarstellung dagegen methodische Mängel aufwies.9 Diese Diagnose war nur durch eine erneute Untersuchung möglich, die durch sorgfältige Probenauswahl allerdings zu einer jahrgenauen Datierung für Erd– und Dachgeschoss beider Bauwerke führte.

Im Fall des ‚Saalbau mit hohem Wohnhaus‘ von 1136 sind die aufgekommenen Fehlerursachen noch komplizierter. 1996 wurde vom CRMH Paris unabhängig von der vorliegenden Untersuchung eine dendrochronologische Datierung in Auftrag gegeben, die erstmals in der Angabe „1135/36“ resultierte.10 Allerdings fehlten der bauarchäologische Nachweis der Zusammengehörigkeit des Datums mit dem Erstzustand des Bauwerks, außerdem ein überzeugender, überprüfbarer Rekonstruktionsversuch.11 Da der Bau, ausgehend von stilistischen, typologischen und konstruktiven Merkmalen, deutlich älter als das ‚Haus eines Händlers‘ eingestuft werden kann, war der fehlende bauhistorische Nachweis des Dachs von 1135/36 mit ein Grund dafür, das dendrochronologisch ermittelte Datum als erste Umbauphase anzusehen.12 Bei der Besichtigung anlässlich der „Ateliers clunisiens“ im Jahr 2000 stimmten alle anwesenden Experten dem Vorschlag einer Datierung des Hauses noch ins 11. Jahrhundert zu. Der Fortgang der detaillierten Bauuntersuchung stellte allerdings die Zusammengehörigkeit des dendrochronologisch festgestellten Fällungsjahrs mit dem Erstzustand des Saalbaus fest. Auch dessen Dachform und Kubatur konnten nun zweifelsfrei definiert werden. Vier weitere dendrochronologische Kampagnen wurden beauftragt, die das Fälldatum 1135/36 bestätigten. Diese Ausgangslage bot hinreichend Anlass, die Datierung des ‚Haus eines Händlers‘ zwischen 1109 und 1149 in Frage zu stellen. Dessen Neuuntersuchung führte schließlich zu einer Datierung „um 1208 (d)“.13

An der Menge der gesammelten Proben und der jetzigen baugeschichtlichen Einordnung der zugehörigen Architektur kann ermessen werden, dass die dendrochronologischen Referenzkurven für Cluny mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zur richtigen Datierung führen. Sehr gut sind die Erfahrungen mit einem versierten Dendrochronologen, der sowohl die Probenentnahme wie auch die Auswertung vornimmt. Eine Kontrolle und Nachinterpretation der Berichtsdaten unter Einbeziehung baugeschichtlicher Beobachtungen führte zu präziseren Aussagen bezüglich der Bauorganisation und der Baudauer. Am wichtigsten erscheint, dass die dendrochronologische Datierung eines Bauwerks immer nur als Ergänzung einer gründlichen Bauanalyse betrieben wird, und dass die Probenentnahme im Beisein und unter Absprache mit dem bearbeitenden Vertreter der Baugeschichte oder Bauarchäologie stattfindet, gegebenenfalls auch durch diesen selbst.14 Ist eine falsche Grundlage erst einmal ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, ist ihre Korrektur sehr aufwendig.

Eine 14C-Radiokarbondatierung wurde im Hof des Hauses 1–3, rue de la Chanaise vorgenommen. Sie diente der groben Abklärung der frühesten feststellbaren Bautätigkeit in diesem Bereich. Das gewonnene Datenspektrum (1019–1211) passt durchaus zu den Ergebnissen der Bauanalyse des Hauses und fließt in die Interpretation der Stadtgenese ein.15

2.5 Zur Verwertung ikonographischer Quellen

2.5.1 Hochmittelalterliche Ikonographie

In der hochmittelalterlichen Ikonographie ist das Wohnhaus mit Merkmalen wiedergegeben, deren Realitätsgehalt durch die vorliegende Bauuntersuchung bestätigt wird (Abb. 2.3).16 Es sind in der Regel zweigeschossige Steinbauten. Die neuen Hausbefunde in Cluny zeigen, dass die Darstellungen zwar stilisiert sind, doch im wesentlichen sachlich richtig die typologische Ausprägung des damaligen europäischen Hausbaus wiedergeben. Die angesprochenen Phänotypen der hochmittelalterlichen Ikonographie entsprechen beispielsweise auch den Ergebnissen, die Etienne Hubert anhand von Notarurkunden für das hochmittelalterliche Rom vorgestellt hat.17 Die zeitgenössische Ikonographie kann zu Erkenntnissen sowohl hinsichtlich der Konstruktion, der Typologie wie auch der Verbreitung der dargestellten domus solaratae beitragen.

Abb. 2.3: Ikonographische Beispiele steinerner domus solaratae.
Von links: Diptychon des Tutilo, (850–913; zwei Beispiele), Egbert-Codex (950–993; zwei Beispiele), Codex von Cambrai, Säulenkapitell aus Vézelay
Ausstellung „Die romanische Stadt – Freiburg von unten“, Tafel 7 (Ausschnitt).

Abb. 2.3: Ikonographische Beispiele steinerner domus solaratae.
Von links: Diptychon des Tutilo, (850–913; zwei Beispiele), Egbert-Codex (950–993; zwei Beispiele), Codex von Cambrai, Säulenkapitell aus Vézelay
Ausstellung „Die romanische Stadt – Freiburg von unten“, Tafel 7 (Ausschnitt).

Auch die Ausprägung des hochmittelalterlichen Stadthauses als Einzelhaus scheint sich auf den ersten Blick in der Ikonographie abzubilden, allerdings bleibt die Morphologie des Stadtraumes hin zur geschlossenen Bebauung bis zum Spätmittelalter in der Ikonographie nicht adäquat berücksichtigt. Besonders in stadtmorphologischer Hinsicht besteht deshalb die Gefahr der Überinterpretation von Bildquellen, wenn diese unzureichend an zeitlich entsprechenden Baubefunden und zeitüblichen Darstellungscodes differenziert werden.18

Mit dem Realitätsgehalt der Darstellung großer Saalbauten verhält es sich ganz ähnlich wie bei den Wohnhäusern. Die Zeichnung der „AULA NOVA“ des „Eadwine“-Psalters (Abb. 2.4) entspricht bis in die Einzelheiten (Grundform, Proportion, Geschossigkeit, Außentreppe, Obergaden, Giebeldreieck, Löwen-Giebelfigur) der typologisch neu definierten Palastaula von 1108 der Anlage Cluny III. Dazu tritt die genannte Bezeichnung „AULA NOVA“, die das Gebäude in Canterbury unzweifelhaft dokumentiert und dem Ausbau der Abtei in der Zeit nach 1100 zuweist.19

Abb. 2.4: „AULA NOVA“ von Canterbury.
Plan des Kathedralkomplexes aus dem „Eadwine-Psalter“ (um 1155–70)
Cambridge, Trinity College, Ms R.17.1 fol. 285.
Historische Umzeichnung mit formal unpräziser Beschriftungswiedergabe n. Benevolo 1983, S. 186 Abb. 515 (ohne Signatur).
Ausschnitt und Layout: Verfasser.

Abb. 2.4: „AULA NOVA“ von Canterbury.
Plan des Kathedralkomplexes aus dem „Eadwine-Psalter“ (um 1155–70)
Cambridge, Trinity College, Ms R.17.1 fol. 285.
Historische Umzeichnung mit formal unpräziser Beschriftungswiedergabe n. Benevolo 1983, S. 186 Abb. 515 (ohne Signatur).
Ausschnitt und Layout: Verfasser.

Im Unterschied zu diesem Plandokument ist die Darstellung eines palatium auf dem Teppich von Bayeux (wohl nach 1070) stärker stilisiert. Darstellungsinhalt des textilen Mediums ist die Geschichte der Eroberung Britanniens durch Wilhelm den Eroberer. Im Obergeschoss des Palastes tafelt Harold vor seiner Wahl zum König mit seinen Genossen. Die Architekturdarstellung des palatium ist auf die wesentlichen Merkmale reduziert, bleibt aber klar erkennbar: ein Sockelgeschoss mit Arkadenreihe, darüber das Saalgeschoss mit der tafelnden Personengruppe, seitlich außerhalb eine Treppe, die vom Erdboden zum Saal führt. Wie auch bei Kirche, Königsburg und einfachem, eingeschossigen Haus ist auf dem Teppich die Erkennbarkeit des beschriebenen Gebäudetypus konsequent und unterscheidend durchgehalten.20 

Derselbe Geist der Reduktion auf das Wesentliche begegnet in den beiden Miniaturen der Vita Hugonis, die die Gründungslegende der Abtei Cluny III illustrieren. Ihre technischen Inhalte und ihre Aussage bezüglich der Planung der Abteikirche konnte nach Erkenntnissen aus dem Baubefund der Aula verstanden und dargelegt werden.21 An dieser Stelle sei nur auf einige wichtige, neu festgestellte Merkmale der Darstellungen hingewiesen. Auf der Miniatur, die Gunzo mit drei Aposteln zeigt, die Seile verspannen, ist das Ergebnis der Absteckung, ein Quadratraster, in der oberen Bildhälfte von der horizontalen in eine vertikale Ebene geklappt, so dass eine Verwandtschaft dieser Darstellung zu den damals üblichen Rasterskizzen als Planungsgrundlage entsteht, wie sie etwa Villard de Honnecourt abbildet (Abb. 3.54).22 Es ist im Gegenzug bei der „AULA NOVA“ auf dem mittelalterlichen Klostergrundriss des „Eadwine“-Psalters (Abb. 2.4) das Umklappen in umgekehrter Richtung, von der Ansicht in den Grundriss, zu beobachten. In der Miniatur der Gunzo-Legende ist die große Seilrolle dargestellt, die unzweifelhaft Hilfsmittel und Vorgang der Baubemessung wiedererkennen lässt. Die zweite Miniatur (Gunzo beim Abt) erhebt mit dem Handzeichen des Fußmaßes in der Bildmitte die quantitas, die Größe des Bauwerks zur Hauptaussage und weist das geometrische Seilnetz als arithmetisches Maßstabsnetz aus. Diese neuen Ergebnisse weisen der hochmittelalterlichen Ikonographie eine eigenständige Rolle als technischer Informationsträger zu, die die Schriftlichkeit ergänzt und erläutert (siehe Kap. 7).

2.5.2 Der Cluny-Prospekt von Louis Prévost (um 1670) (Prévost 1670, Pl. 9.49.5)

Der Stadtprospekt von Louis Prévost (um 1670) stellt die älteste vollständige Ansicht von Abtei und Stadt Cluny dar.23 Er geht der ersten schematischen Katastermappe, dem Terrier Bollo von 1693 (Plans Geometraux de la Ville de Cluny et des Environs. Avec Les Cartes de la Rente Noble Abbatialle dudit Lieu. Echelle de 200 pieds 1693), nur um gut 20 Jahre voraus. Der Prospekt, ein Stich aus drei Platten, steht in der Tradition der Stadtprospekte des 16. Jahrhunderts und gibt einen recht verlässlichen Eindruck von der Topographie des Ortes. Allerdings ist er malerischer als diese Stadtansichten aufgefasst und gibt etwa das Straßennetz nicht wieder (Abb. 2.5). Für die vorliegende Arbeit ist der Prospekt hinsichtlich der Topographie, der Verkehrswege außerhalb der Stadt, der Stadtmauer, der Kanal– und Bachläufe und der Ortsbestimmung und Legendenbeschreibung einzelner Bauwerke interessant. Hier sind die Aula der Periode Cluny III von 1107/08 (d) und der Tour des Fromages, „[Tour] jointe aux Granges, Greniers & Escuries de lʼAbbaye“ hervorzuheben. Die Aula findet sich unter Legendennummer F mit dem Kommentar „Le College, accompagné de toutes les Classes, & dʼune tres grande Salle pour les Actions publiques“.24

Abb. 2.5: Cluny-Prospekt von Louis Prévost (zwischen 1668 und 1672).
Blick von Norden auf Stadt und Abtei.
Rahmenmarkierung: Giebel des „College“ (Gebäude der Aula von 1108).
Cluny, Musée dʼart et dʼarchéologie, Inv.-Nr. 896.5.20 (Ausschnitt).
Markierung: Verfasser.

Abb. 2.5: Cluny-Prospekt von Louis Prévost (zwischen 1668 und 1672).
Blick von Norden auf Stadt und Abtei.
Rahmenmarkierung: Giebel des „College“ (Gebäude der Aula von 1108).
Cluny, Musée dʼart et dʼarchéologie, Inv.-Nr. 896.5.20 (Ausschnitt).
Markierung: Verfasser.

Der an ihn gerichteten Vermutung, der ‚Saalbau mit hohem Wohnhaus‘ von 1136 sei an einer bestimmten Stelle des Prospekts wiedergegeben,25 ließ der Vefasser eine Perspektivanalyse folgen, die den Grundaufbau des Prospekts erklärt.26 Dazu wurden verschiedene markante Gebäude des Prospekts im modernen Kataster verortet. Hintereinander dargestellte Bauwerke wurden im Kataster mit Geraden (Sehstrahlen) verbunden. Diese Linien wurden auf den Betrachter zugeführt, bis zu dem Punkt, wo sie sich (nahebei) vereinigen. Es entstanden zwei Strahlenbündel: Für die Abtei und die umgebenden Stadtbereiche intra muros ergab sich ein Augpunkt beim Umfassungsturm Tour ronde,27 für die restliche Stadt, die Ansicht der Umfassungsmauer und die Umgebung ein zweiter oberhalb von Saint-Lazare, d. h., des heutigen Restaurants „LʼHermitage“, das unmittelbar an der Talrandstraße von Massilly am nördlichen Ortseingang liegt. Aus beiden Perspektiven ist die Darstellung zusammengesetzt, um möglichst alle prominenten Gebäude zu zeigen und dabei einen topographisch richtigen und der ortskundigen Sehgewohnheit entsprechenden Eindruck des Gesamtbildes bei der Zufahrt auf die Stadt zu wahren. Die Augpunktanalyse am Kataster zeigt, dass der ganze zentrale Bereich der Stadt und das Kloster auf der Darstellung von der Abteikirche verdeckt gewesen wären, wenn Prévost einzig die weiter entfernte Betrachterposition bei Saint-Lazare genutzt hätte. Zwar ist schon früher festgestellt worden, dass die Darstellung der Abtei aus der Gesamtperspektive herausfällt, doch wurde diese Tatsache mit der willkürlichen Auffächerung der Bauten auf der Zeichnung begründet: „La vue est moins infidèle quʼon ne pourrait le croire, si lʼon admet le système du dessinateur, qui est quasi-médiéval. Tout ce qui devait être caché par la grande église est déplacé vers lʼEst et a été ainsi mis en évidence [...]“.28

Abb. 2.6: Cluny-Prospekt von Louis Prévost (zwischen 1668 und 1672).
„Grande Infirmerie“ mit zweibahnigen gotischen Fenstern (Markierung, dazwischen jeweils Wandpfeiler).
Cluny, Musée dʼart et dʼarchéologie, Inv.-Nr. 896.5.20.
Ausschnitt und Markierung: Verfasser.

Abb. 2.6: Cluny-Prospekt von Louis Prévost (zwischen 1668 und 1672).
„Grande Infirmerie“ mit zweibahnigen gotischen Fenstern (Markierung, dazwischen jeweils Wandpfeiler).
Cluny, Musée dʼart et dʼarchéologie, Inv.-Nr. 896.5.20.
Ausschnitt und Markierung: Verfasser.

Das Ergebnis der Analyse, dass nämlich Prévost den Stadtprospekt aus zwei Perspektiven zusammensetzte, erscheint nicht mittelalterlich, sondern durchaus dem 17. Jahrhundert zeitgemäß. Zwar ist der Stich eher ein künstlerisch-repräsentatives als ein geodätisches Abbild der Stadt, doch wird insgesamt großer Wert auf realistische Detailgenauigkeit gelegt, die sich in den präzisen Legendenangaben und dem informationsreichen, rahmenden Begleittext zur Geschichte des Ortes fortsetzt.29 Unterhalb der Widmung an den König mit Kartusche am unteren Bildrand steht der Vermerk „Dessiné sur les Lieux“ von „LOVIS PREVOST Aduocat, natif de Cluny“ – „vor Ort gezeichnet“ von „Louis Prévost, Rechtsanwalt, gebürtig aus Cluny“, was der Vermutung der grundsätzlichen Richtigkeit der Darstellung nicht entgegensteht. Die beiden unterschiedlichen Perspektiven bzw. Augpunkte sind im übrigen unmittelbar unterhalb des Rahmens aus Eichen– und Lorbeerblättern in Kapitalschrift erklärt. Der Text unter der linken Bildhälfte, „Abbaye de Cluny et ses dépendances, veuës de cet aspect“, verortet die entsprechende Betrachterposition auf der linken Bildseite; der als Augpunkt bestimmte Tour ronde ist zentral in der linken Bildhälfte positioniert. Der Text der rechten Bildhälfte, „Ville de Cluny et ses dehors, veus de cet aspect“, verweist auf den Augpunkt an der Stelle der Hügelkuppe oberhalb von Saint-Lazare, die im Vordergrund ins Bild ragt, und auf der zwei Figuren mit breitkrempigen Hüten die Aussicht genießen. Die eigenartig verdoppelt erscheinende Formulierung „veu(ë)s de cet aspect“ auf dem knapp bemessenen und von Redundanz ansonsten freien Blatt findet auf diese Weise erstmals eine plausible Erklärung.

Zuletzt sei auf eine Einzelheit des Stichs hingewiesen, die die vorliegende Arbeit nur indirekt betrifft, allerdings für die Baugeschichte der Abtei von Bedeutung ist, denn sie gehört zum großen Hospital, das seit Kenneth John Conant dem Abbatiat Peters von Montboissier (1122–1156), wenn nicht dem Hugos von Semur (1049–1109) zugerechnet wird.30 Die Westwand der Grande Infirmerie wird von vier zweibahnigen, hohen Fenstern mit bekrönendem Okulus oder Rose gegliedert (Abb. 2.6). Vielleicht handelt es sich um Maßwerkfenster, wie beim so genannten Gelasiuspalast (um 1300), oder um eine Aufteilung mit doppeltem Lanzettfenster und bekrönendem Rundfenster bzw. Rose wie am Obergaden der Pfarrkirche Notre-Dame (2. H. 13. Jh., vgl. Abb. 6.8). Im Gegensatz zur überhöhten Turmdarstellung aller auf dem Stich abgebildeten Kirchen, besteht bei diesem Detail kein Anlass zur Vermutung einer dem künstlerischen Bildaufbau geschuldeten Erfindung oder Manipulation. Des Weiteren weist die konsequent gleichmäßige Anordnung der großen Fenster nicht auf einen Umbau hin. Es sieht so aus, als sei der große Hospitalgrundriss, der im „Plan anonyme“ der Klosteranlage (Anonymus nodate) um 1700 erscheint, entgegen bisheriger Vermutung erst im 13. Jahrhundert entstanden.31 Dann aber würde sich die Sonderstellung der Aula von 1108 als hochromanischer Großbau noch deutlicher abzeichnen.32

Fußnoten

Flüge 2001 passim.

Beispielhafte Abhandlungen und Handbücher: Mader 2005; Seckel et.al. 1983; Cramer 1984.

Der minimalen Zerstörung, die die Freilegung der Baubefunde darstellt, steht nicht nur der fachliche Erkenntnisgewinn, sondern eine größere öffentliche Wertschätzung der Baufsubstanz gegenüber, die allein auf lange Sicht die Erhaltung des Bauwerks garantiert. Die Fragen und Bedürfnisse der heutigen Zeit, von denen Johannes Cramer spricht, beschränken sich sicherlich nicht auf ein technisches und sachliches Mehrwissen von Berufsgruppen, die mit dem Baumonument zu tun haben. Der einzige signifikante Unterschied zur Antikenforschung besteht für die „nachantike“ Bauforschung in der Tatsache, dass die Untersuchungsobjekte in der Regel genutztes und bewohntes Privateigentum sind, dessen Erhalt sich nach Parametern wie der wirtschaftlichen Zumutbarkeit richtet. Zur Methodik der Bauforschung gehört deshalb zusätzlich die Vermittlung von Ergebnissen an Hauseigentümer, –bewohner und die zuständigen öffentlichen Verwaltungen. Wie schon die Vermittlung von Techniken der Bauuntersuchung, gerade bei schwierigen Befunden, nur durch den Kontakt mit einer qualifizierten und erfahrenen Person geleistet werden kann, so bedarf die Vermittlung des Denkmalswertes genauso des persönlichen Kontakts zu einer engagierten Bauforschung. In fast allen Objekten führte die Bauuntersuchung zu Konservierung und Zurschaustellung auf Wunsch und mit freiwilliger Kostenübernahme durch den Eigentümer. Das Centre dʼétudes clunisiennes regte an einem „Tag des offenen Denkmals“ 2009 die Eigentümer zur Öffnung der interessantesten Privathäuser des Ortes an. 300 Besucher in fünf Stunden waren allein im Haus 11–13, place Notre-Dame zu verzeichnen.

In beiden Bauwerken wurden die Proben nicht aus den – vorhandenen – jahrgenau datierbaren Hölzern mit Schalkante extrahiert. Bei der Ergebnisdarstellung von Lambert und Lavier wurde außerdem das jüngste konstruktionszugehörige Holz des „Gästetrakts“ übersehen (vgl. Lambert and Lavier 1991, 8. Aug. 1991, S. 8, „Comptage 30: CLUNY.Theatre 7“). Es ist eine Probe ohne Splint, ältester Jahrring 933, jüngster Jahrring 1090. Mindestens 12 Jahrringe wären als Splintholz zu ergänzen, so dass als Datierungsergebnis „nicht vor 1102“ hätte festgestellt werden können.

Archéolabs réf. ARC 96/R861D, Dormoy and Orcel 1996.

Vgl. die Darstellung von Garrigou Grandchamp et.al. 1997, S. 128.

Nähere Interpretation der Fälldaten in der jeweiligen Baubeschreibung.

Im Dachstuhl der Aula von 1108 wurde das jahrgenau datierbare Holz vom Verfasser gefunden (s. Pl. 9.35, Ansicht, Dachstuhl).

Archéolabs réf. ARC 08/R3630C, Calibration de datation radiocarbone par AMS (Accelerator mass spectrometry). Site du 1/3, rue de la Chanaise, Cluny (71), France 2008. Vgl. Kap. 3.3.2, S. 9091, Einzelbeschreibung Haus 1–3, rue de la Chanaise, 14C-Radiokarbondatierung im Hof.

Vgl. Ausstellung „Die romanische Stadt – Freiburg von unten“, Architekturwoche Baden-Württemberg, 18. bis 26. Sep. 1998, Tafel „Vom Turmhaus zum Stadthaus“. Es sind Hausdarstellungen aus dem Egbert-Kodex des Erzbischofs von Trier (950–993), aus dem Tutilo-Diptychon eines Mönche in St. Gallen (850–913), aus dem Kodex des Erzbischofs von Cambrai sowie eine Kapitelldarstellung aus Vézelay (nach 1120) wiedergegeben.

Ausführungen hierzu in Kap. 5.1 und 5.2, S. 310328 mit Abb. 5.13 sowie Kap. 6.4.3, S. 381.

Siehe ebenfalls Kap. 5, S. 310311.

Planzeichnung aus dem 12. Jahrhundert mit Darstellung des Kanalsystems und der Klostergebäude, deren Ansicht in die Grundrissebene geklappt ist. In ähnlicher Genauigkeit wie die „AULA NOVA“ ist das typologisch vollkommen verschiedene Gästehaus dokumentiert. Die Architekturdarstellungen widersprechen der bisherigen Interpretation der Aula von 1108 in Cluny als „Gästetrakt“ (vgl. Kap. 3.4.5, S. 142149).

Vgl. S. 333, Abb. 5.17.

Abb. und Ausführungen siehe Kap. 7.2, S. 405412.

Honnecourt 1230, Paris, B.n.F., Ms fr. 19093 fol. 14v. Um 1220–40.

Louis Prévost, Abbaye de Cluny et ses dépendances / Ville de Cluny et ses dehors, Kupferstich aus drei Platten, H 0.51x B 1.38 [m], zwischen 1668 und 1672 (Cluny, Musée dʼart et dʼarchéologie, Inv.-Nr. 896.5.20).

Ausführungen zur Bedeutung von Feststellungen am Prospekt siehe Kap. 3.4.5, Bauhistorische Stellung als Aula S. 142149, bzw. Kap. 6.3.3, Präurbane Wege, S. 361, und Kap. 6.3.4.d, Digue de l’Étang-Neuf, S. 369.

Im Bereich zwischen den Kirchen „Nostre-Dame“ und „Les Recolets“, Prévost, Legendennummern 1. und 6. Diese Vermutung wurde negativ bestätigt.

Siehe. Pl. 9.4 und 9.5.

Gemeint ist der hohe Rundturm an der Nordostecke der Abteiumfassung, Prévost, Legende S, „Grosse Tour ronde, servant de Prisons pour le dedans de lʼAbbaye“.

Die seitlichen „Remarques“ enthalten die detaillierte Auflistung aller Äbte und weiterer Personen, ihrer Daten und Handlungen während der Geschichte von Abtei und Stadt. – Übrigens ist die Abbatiale, im Gegensatz zu den vergrößert dargestellten Pfarrkirchen, in realer Länge wiedergegeben.

Der Eindruck, der sich für Ortskundige ergeben kann, dass nämlich Prévost die Legendennummern der Petite Infirmerie und der Grande Infirmerie zur besseren Darstellung der letzteren einfach vertauscht habe, entsteht aus der Anordnung des großen Hospitals links vom kleinen, die der Wahrnehmung vom äußeren Augpunkt bei Saint-Lazare aus entgegensteht. Aus der Perspektive des Augunktes auf dem Abteieckturm Tour ronde allerdings entspricht diese Anordnung der Realität. Die zur Abtei gehörenden Bauten erscheinen nach der Einfügung der vom Tour ronde aus skizzierten Perspektive in das Gesamtbild der Stadt, das vom Hügel über Saint-Lazare aus aufgenommen wurde, diesem gegenüber nach rechts gedreht. Dadurch entsteht ein parallelperspektivischer Eindruck mit besserer Übersicht und optischer Beruhigung der Darstellung von Abtei und Stadt intra muros.

Vgl. unterstützend Hamann 2000, S. 255 Anm. 1049: „[...] die Rekonstruktion des Refektoriums stützt Conant auf den ältesten Plan der Abtei, heute Musée Ochier [gemeint ist das jetzige Musée dʼart et dʼarchéologie, Anm.], Cluny (Inv.-Nr. 896.5.19), den er 1700–1710 ansetzt. Die so genannte „Infirmerie de Saint-Hugues“, also das Hospital, folgt bei Conant ebenfalls diesem Plan, seine eigenen Grabungen in diesem Bereich lassen kaum Schlüsse zu; Conant 1968, S. 71; die Datierung stützt Conant auf die Weihe der nahegelegenen Marienkapelle im Jahre 1085, die er als Terminus ante quem annimmt; es ist nicht zu entscheiden, welche Partien des Krankentraktes tatsächlich aus romanischer Zeit stammen und welche aus späteren Epochen.“ – Vgl. auch Kap. 3.4.5., Bauhistorische Stellung als Aula, S. 142149.