12 Reaktionen der zwei Kontrahenten im Streitgespräch

Dietrich v. Engelhardt, Gunnar Berg

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10.34663/9783945561188-15

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Engelhardt, Dietrich v. and Berg, Gunnar (2011). Reaktionen der zwei Kontrahenten im Streitgespräch. In: Herausforderung Energie: Ausgewählte Vorträge der 126. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte e.V. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

Im Streitgespräch zu dritt, bei dem G. Schaefer als Moderator wirkte, vertrat Dietrich v. Engelhardt, Lübeck/München, als Medizin- und Wissenschaftshistoriker die geisteswissenschaftliche und Gunnar Berg, Halle/Saale, als Physiker die naturwissenschaftliche Sichtweise von Energie.

12.1 Der Begriff Energie aus geisteswissenschaftlicher Sicht

Energie ist ein vielfältiger Begriff, der in allen Wissenschaften, Künsten und auch im realen Leben eine Rolle spielt. Die obige Einleitung von G. Schaefer hat diese Vielfalt mit konkreten Zitaten und vertiefenden Erläuterungen deutlich manifestiert. Keine Wissenschaft, wie auch keine Kunst, kann das Recht auf eine Begriffs- oder Definitionshoheit für Energie beanspruchen. Bereits die in Abbildung 10.2 vorgestellte Etymologie belegt die alle Disziplinen übergreifende Bedeutung des Wortes.

Der Dialog zwischen den Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften hat historische Voraussetzungen und bleibt eine Herausforderung bis in die Gegenwart und auch weiterhin in der Zukunft. Ein symbolisches Datum für die Geschich- te dieses Dialogs, an das auch an dieser Stelle erinnert sei, bezieht sich auf den 26. April 1336. An diesem Tag bestieg − ob real oder fiktiv − Petrarca den Mont Ventoux in der Provence und war begeistert auf dem Gipfel dieses Berges über die Schönheit der Natur. Als gebildeter Humanist hatte er auch die Bekenntnisse des Augustinus mit sich genommen und schlug nun „zufällig“ die Stelle auf, in der der Kirchenvater von der Bewunderung der Menschen für die Sterne, Berge, Flüsse und Meere und von der Gefahr spricht, dass sie sich dabei verlieren oder aufgeben würden (et relinquunt se ipsos). Petrarca verschließt beschämt seine Augen vor der äußeren Natur und will sich von nun an nur noch mit der inneren Natur, das heißt mit dem Menschen beschäftigen (altitudo hominis).

In den folgenden Jahrhunderten kommt es immer wieder zu Zeugnissen der Trennung und Opposition wie Versuchen der Verbindung, der Betonung von Ge- meinsamkeiten – bei allen Unterschieden und Besonderheiten. Philosophen und Naturforscher des Idealismus und der Romantik um 1800 sind von der Identität wie auch Differenz von Natur und Geist und damit aller Wissenschaften überzeugt. Für Schelling ist Natur „sichtbarer Geist“ und Geist „unsichtbare Natur“. Hegel, der von der „Energie des Denkens“ spricht, erinnert an die aristotelische Unterscheidung von Möglichkeit (dýnamis, potentia), Wirklichkeit

(enérgeia, actus) und Entelechie (entelécheia), weist auf ihre Rezeption in der Scholastik des Mittelalters hin und versteht unter Energie „die Tätigkeit, das Verwirklichende, die sich auf sich beziehende Negativität“. Das höchste Wesen, der unbewegte Beweger oder die absolute Substanz verbinde bei Aristoteles die drei Bestimmungen der dýnamis, enérgeia und entelécheia. Auch in der christlichen Religion sei dieses Verständnis der Energie erhalten geblieben; grundsätzlich oder potentiell sei aber jeder Mensch fähig, das „natürliche Dasein“ in die „übersinnliche Welt“ zu transzendieren: „Diese Fähigkeit ist die dýnamis für jene enérgeia.“

Der Positivismus des 19. Jahrhunderts (Auguste Comte) will dagegen Physik und Chemie zu den einzig wirklichen Wissenschaften erheben, an dem sich alle anderen Wissenschaften in Methodik und Begrifflichkeit und damit auch ihrem Kausalverständnis zu orientieren haben. Die aristotelischen vier Ursachentypen (Wirkursache, Zielursache, Stoffursache und Formursache) werden im Laufe der Neuzeit allein auf die Wirkursache, die causa efficiens, reduziert; die Trennung zwischen den Wissenschaften und Künsten vertieft sich. Charles Darwin gesteht in seinem autobiographischen Rückblick, dass ihn Literatur und Kunst immer mehr anödeten, dass ihm bei der Lektüre von Shakespeare schlecht würde, dass der Verlust dieser kulturellen Neigungen sich allerdings wohl schädlich auf Verstand und Charakter auswirken würden („loss of happiness, injurious to the intellect, to the moral character“).

Der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers (1913) wiederum entwickelt den Methodendualismus von „Erklären“ und „Verstehen“ als Brücke zugleich zwischen den Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften (s. oben, Beitrag Schaefer): „erklärt“ werden physische Kausalitäten, „verstanden“ seelische Zusammenhänge. In diesem Sinn hatte bereits Wilhelm Dilthey (1894) formuliert: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.“ Große Resonanz findet schließ- lich Charles Percy Snow mit seinem Essay Die zwei Kulturen oder die wissenschaft- liche Revolution (1959). Nach Snow trennt ein tiefer Graben des gegenseitigen Unverständnisses und zum Teil sogar der Feindseligkeit Naturwissenschaftler (scientists) und Geisteswissenschaftler (literary intellectuals), der sich nicht überwinden ließe.

Die historischen Hintergründe der disziplinären Auseinandersetzungen wie auch Konkurrenzen von Natur- und Geisteswissenschaften können am Energiebegriff bestens demonstriert werden. Dazu hat G. Schaefer oben bereits zahlreiche Beispiele vorgestellt, die von G. Berg im folgenden Beitrag aus physikalischer Sicht erweitert und vertieft werden. Immer wieder zeigen sich dabei auch geisteswissenschaftliche Dimensionen der Naturwissenschaft, da diese als Produkt des menschlichen Bewusstseins insgesamt ja letztlich auch eine Geisteswissenschaft ist.

Die wissenschaftshistorische Entwicklung führt von der Antike bis in die Gegenwart. Aristoteles spricht von Energie (enérgeia - érgon) nicht nur als Ursache der Bewegung, sondern auch der Dauer und Ausdehnung. Nach der Scholas- tik stammen wichtige Beiträge von Kepler, Leibniz, Johann Bernoulli (Gleichge- wicht virtueller Kräfte), J.R. v. Mayer, J.P. Joule, Hermann v. Helmholtz. 1672 versteht Francis Glisson unter natura energetica ein immaterielles Vermögen zur Entfaltung von Initiativen. Naturwissenschaftliche Energetik meint die Lehre von der Energie und möglicher Umwandlungen zwischen ihren verschiedenen Formen. „Energetismus“ bezieht Wilhelm Ostwald auf entsprechende Transformationen in physischem wie psychischem Geschehen und setzt sich für einen „energetischen Imperativ“ als sinnvolle Nutzung aller verfügbaren Energie ein („vergeude keine Energie, verwerte sie“).

In der Physiologie ist die Rede von der Deckung des Energieverbrauchs, von Energiewechsel, Aufnahme von Energieträgern, Freisetzung und Verbrauch von Energie für bestimmte Leistungen. Im Kraftbegriff sind in früheren Zeiten, so wie auch heute noch in Schüleräußerungen (siehe Kapitel 11.11), nicht selten auch Momente der Energie enthalten; das gilt auch für Kant, Schelling und Hegel in ihren naturphilosophischen Texten.

Das Spektrum, mit dem der Begriff bzw. die Bezeichnung Energie in den Wissenschaften, den Künsten und im Alltag auftritt, ist in der Tat groß (siehe Kapitel 9 bis 11) und kann den Dialog oder das Streitgespräch zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften auf erhellende Weise stimulieren, kann zu Einsichten in Grenzen wie Gemeinsamkeiten sowie zentrale wissenschafts- und erkenntnistheoretische Prämissen und Problemen führen. Was Wissenschaft, was wissenschaftliche Methode und Sprache ist, kann nicht von einer einzelnen Wissenschaft dekretiert werden, sondern ist im Prinzip eine philosophische Frage, die natürlich nicht ohne Realkenntnisse der Einzelwissenschaften beantwortet werden kann.

In der Musik gibt es zum Beispiel die Bezeichnung energico für eine kraftvolle, entschiedene, mit anderen Worten: energische Spielweise. Menschen werden als dynamisch und energisch bezeichnet – natürlich ohne bewussten Bezug zur antik-philosophischen Bedeutung von Potentialität (dýnamis) und Wirksamkeit (enérgeia); auch bei der Charakterisierung eines Menschen als zielstrebig wird wohl kaum an Finalität (entelécheia, télos) gedacht. Selbst im Sport spielen diese Begriffe, auch wenn sie zum Teil nur politische Gründe haben, eine Rolle (FC Dynamo Dresden, FC Energie Cottbus).

In der mittelalterlichen Theologie kann Gott im Unterschied zu Existenz mit Energie identifiziert werden (enérgeia divines; vgl. Gott in Abbildung 10.1). Wilhelm v. Humboldt bestimmt Sprache als Energie, sie „ist kein Werk (Érgon), sondern eine Tätigkeit (Enérgeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische sein. Sie ist nämlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen.“

Der psychophysische Parallelismus vertritt einen Ansatz der Korrelationen, nicht aber der realen oder kausalen Transformationen. Die Theorie der Wechselwirkung differenziert faktisch materielle Einflüsse und Einwirkungen nur auf die Richtung einer Bewegung oder Entwicklung. Unterschieden werden induktiv gewonnene Realgesetze von wissenschaftlichen Fiktionen (Hans Vaihinger, 1911). Energie kann auch mit psychischer Energie, Libido, Willenskraft, sittlicher Kraft in Verbindung gebracht werden (siehe oben, Kapitel 11.4 und 11.6).

Stets stellt sich grundsätzlich die Frage, ob, wenn von Energie gesprochen wird, vielleicht Übertragungen aus der Physik oder Biologie vorliegen, oder ob sogar umgekehrt theologische oder philosophische Konzepte und Definitionen Anwendung finden, die ihrerseits dann in den Naturwissenschaften − manchmal ohne bewusste Kenntnis dieser Herkunft – aufgegriffen werden. Entscheidend ist für entsprechende Analysen die Unterscheidung von Phänomen, Differenzierung, Abstraktion, Begriff und Sprache.

Um an den Anfang zurückzukehren: Petrarcas Resignation kann auch im Blick auf Energie nicht akzeptiert werden. Es kommt hierbei sowohl auf Verbin- dung als auch Unterscheidung an. Die Initiativen der GDNÄ-Bildungskommission orientieren sich mit dem Konzept des fachübergreifenden Fachunterrichts an dieser integrierend-differenzierenden Perspektive (siehe die Bildungsrosette, Abbildung 13.3).

Die vielzitierten zwei Kulturen (Snow) sollten im Übrigen − nicht zuletzt auch im Blick auf den schulischen Unterricht und die universitäre Ausbildung − auf vier Kulturen erweitert werden: es gibt die Kultur der Naturwissenschaften, die Kultur der Geisteswissenschaften, die Kultur der Künste und die Kultur des Verhaltens im Alltag. In allen diesen Kulturen besitzt das Wort Energie einen spezifischen Sinn, zugleich handelt es sich aber hierbei doch um einen allgemeinen, die Kulturen übergreifenden Begriff. Im zusammenfassenden Fazit von G. Schaefer (Kapitel 13) wird eine pädagogische Grundlage für das Dolmetschen zwischen diesen Kulturen gelegt (Abbildung 13.1 und 13.2).

12.2 Der Begriff Energie aus naturwissenschaftlicher Sicht

Wie oben schon zitiert, hat sich der Nobelpreisträger Richard Feynman provozier- end über Energie geäußert, wenn er schreibt: „Es ist wichtig einzusehen, dass die heutige Physik nicht weiß, was Energie ist.“ Da erhebt sich natürlich als erstes die Frage, ob es die frühere Physik besser wusste. Wohl kaum, denn seit dem 19. Jahrhundert wurde in der Physik der Energiebegriff sowohl qualitativ als insbesondere auch quantitativ immer klarer gefasst. In dieser Absolutheit, wie der Satz isoliert stehend wirkt, kann er nicht zutreffen − schließlich ist Energie heute einer der grundlegenden Begriffe der Physik und damit der gesamten Naturwissenschaften.

Doch muss man natürlich einräumen, dass der Begriff hochabstrakt ist, wie übrigens fast alle grundlegenden Begriffe der Wissenschaften sich der unmittelbaren, anschaulichen Vorstellung entziehen. Der Energiebegriff befindet sich da in guter Gesellschaft: auch für andere thermodynamische Begriffe wie Entropie, Freie Energie und viele andere gibt es kein anschauliches Bild. Das gilt aber auch für Begriffe wie Impuls, Feld und elektrische Ladung. Letzten Endes lässt sich immer nur die Wirkung angeben, die beobachtet wird, wenn das mit dem entsprechenden Begriff bezeichnete Phänomen auftritt.

Haben wir z.B. ein Objekt, zu dessen Eigenschaften eine elektrische Ladung gehört (das mit anderen Worten eine „elektrische Ladung trägt“), so wird auf dieses in einem elektrischen Feld eine Kraft ausgeübt, die sich messen lässt. Aber man hat kein exaktes anschauliches Bild von solchen Größen, eher eine mehr oder weniger zutreffende, an der Alltagserfahrung orientierte Ahnung.

Man kann sicher Feynman Recht geben, wenn man das Zitat in folgender Weise abwandelt: „Die heutige Physik – und das heißt natürlich die Physik überhaupt – hat kein anschauliches Bild von einer Größe, die letztendlich alle die Eigenschaften zeigt und alle die Wirkungen hervorruft, die dem physikalischen Begriff Energie eigen sind.“ Aber natürlich ist dieser Begriff als wissenschaftliche Größe klar, verständlich und eindeutig definiert, so dass man ohne Einschränkungen damit arbeiten und – ein wichtiges Ziel der Naturwissenschaften – das Verhalten auch komplexer Systeme beschreiben und voraussagen kann.

Bei Energie im physikalischen Sinne ist zu betonen, dass es sich hier um eine universelle Erhaltungsgröße handelt, eine Größe, die in allen bisher bekannten Bereichen – allen Teilgebieten der Physik, aber auch bei allen chemischen und bei allen biologischen Vorgängen – erhalten bleibt. Zu beachten ist, dass die Energieerhaltung ein naturwissenschaftliches Grundgesetz ist, das sich nicht logisch bzw. philosophisch begründen und herleiten lässt. Es handelt sich um eine Erfahrungstatsache, die aus der Erfahrung folgt und die durch die Erfahrung bestätigt wird.

Dem widerspricht nicht, dass die Energieerhaltung zwanglos auch aus der Zeitsymmetrie (Zeittranslations-Invarianz, Emmy Noether) folgt, aber auch deren Existenz muss natürlich in der Natur empirisch bestätigt werden.

Um ein Beispiel für die Verletzung dieser Invarianz zu nennen: Wird das betrachtete System z.B. mit einem zunächst beschleunigten und dann verzögerten Fahrstuhl identifiziert, so gilt für dieses System die Zeittranslations-Invarianz nicht, denn es laufen mechanische Vorgänge, wie z.B. der Fall eines Gegenstandes, in den verschiedenen Phasen der Bewegung verschieden ab.

Wird der Fahrstuhl nach oben beschleunigt, so fällt ein Gegenstand, gemessen gegenüber dem Fahrstuhl, schneller als wenn dieser anschließend verzögert wird, d.h. für den Fahrstuhlinsassen ist eine formal gegenüber dem Boden des Fahrstuhls gemessene Fallbeschleunigung des Gegenstandes zeitabhängig, während es sich für uns bezogen auf die Erde um eine Naturkonstante handelt.

Auf das Innere des Fahrstuhls bezogen gilt der Energieerhaltungssatz nicht. Dieser Satz gilt erst, wenn das (umfassendere) System betrachtet wird, in dem sich der Fahrstuhl bewegt. Man kann das auch so ausdrücken, dass ein beschleunigter Fahrstuhl kein abgeschlossenes System ist, auch dann, wenn die Wände so gestaltet sind, dass die Insassen nicht aus dem Fahrstuhl heraus sehen und die Umgebung erkennen können.

Energie als physikalische Größe zeichnet sich dadurch aus, dass sie in vielfältigen Erscheinungsformen auftritt, so dass man mit Wilhelm Ostwald sagen kann: „der Allgemeinbegriff der Energie [ist] abstrakt […]; die einzelnen Energien dagegen sind durchaus real“ (Mauthner 1923, , Seite 414). Abhängig von den untersuchten Phänomenen haben wir mechanische Energie als kinetische und potentielle Energie, daneben Verformungsenergie, Wärmeenergie, elektromagnetische Energie, Bindungsenergie (oft auch als chemische Energie bezeichnet, da sie meist bei der Änderung von Bindungen infolge chemischer Prozesse in Erscheinung tritt) und weitere Energieformen, meist nach der dominierenden Wechselwirkung bezeichnet, die man sich häufig zumindest in gewisser Annäherung auch anschaulich vorstellen kann.

Das wesentliche Merkmal aller dieser Formen ist, dass sie sich wegen der Gültigkeit des Erhaltungssatzes mit konstanten Umrechnungsfaktoren ineinander umrechnen lassen, denn in der Natur sind sie ineinander umwandelbar – nicht nur ihre Existenz, sondern auch diese Umwandelbarkeit basiert natürlich wieder auf Erfahrungen −, und das funktioniert ohne Verletzung der Erhaltung nur, wenn die Umrechnungsfaktoren unabhängig von Ort und Zeit sind, könnte man doch sonst durch geeignete Wahl von Ort oder Zeit Energie erzeugen oder vernichten.

Die Entdeckung dieser Umwandelbarkeit − und der damit verbundene Erhaltungssatz − erlaubten es, „mehr Einheit als bisher in das Weltgeschehen hineinzudenken“, wie das Mauthner ausdrückt (, Seite 409), wodurch auch gekennzeichnet ist, dass es sich um eines der grundlegenden und weitestreichenden Konzep- te der Physik und damit der gesamten Naturwissenschaften handelt.

Natürlich ist es sinnvoll, das Feynman-Zitat vollständiger anzusehen, denn auf den eingangs zitierten Satz folgt: „Wir haben kein Bild davon, dass Energie in kleinen Klumpen definierter Größe vorkommt. So ist es nicht. Jedoch gibt es Formeln zur Berechnung einer numerischen Größe, und wenn wir alles zusammenaddieren, ergibt es … immer die gleiche Zahl.“, was sich natürlich auf die Existenz des Erhaltungssatzes bezieht. Er fährt dann fort: „Es ist eine abstrakte Sache insofern, als es uns nichts über den Mechanismus oder die Gründe für die verschiedenen Formeln mitteilt.“ Unter dem „nicht weiß“ Feynmans ist also nicht zu verstehen, dass die Physik mit dem Begriff Energie nicht umgehen könnte, sondern er drückt nur aus, dass uns eine anschauliche Vorstellung für diese Eigenschaft eines Systems fehlt – natürlich eingeschlossen einzelne Körper als primitivste Systeme −, die der Physiker als „Energie“ bezeichnet und für die er sehr komplexe Messverfahren entwickelt hat.

Ein Hauptziel der Naturwissenschaften ist es, „die massenhaften Tatsachen systematisch zu ordnen“ (Mauthner, , Seite 407) und auf dieser Basis Theorien zu entwickeln, die Prognosen bezüglich zukünftiger Ereignisse zulassen. Wenn auch in vergangenen Jahrhunderten versucht wurde, das auf der Basis anschaulicher Vorstellungen zu verwirklichen, so musste doch spätestens seit der Entwicklung von Maxwells Theorie der elektromagnetischen Phänomene eingesehen werden, dass das nur in ganz speziellen Bereichen möglich ist. Wichtiger als Anschaulichkeit ist es seitdem, Theorien zu entwickeln, deren Anwendungsbereich möglichst umfassend ist.

Seitdem mit Relativitätstheorie und Quantentheorie Naturbereiche großer Energien und Geschwindigkeiten sowie sehr kleiner Ausdehnung erreicht wurden, die alle unserer unmittelbaren Sinneserfahrung nicht zugänglich sind, ist es uns selbstverständlich, dass wir in den Naturwissenschaften mit abstrakten Größen umgehen müssen. Aber schon der Energiebegriff als eine ursprünglich nur auf mechanische Phänomene bezogene Größe war auch für diesen begrenzten Bereich nicht anschaulich. Zunächst wurde – siehe obiger Beitrag von G. Schaefer − der vermeintlich anschaulichere Begriff lebendige Kraft (vis viva) verwendet, da man glaubte, sich eine Kraft anschaulich vorstellen zu können. Doch in der Folge der Auseinandersetzung zwischen Descartes und Leibniz erkannte man, dass bei mechanischen Vorgängen in abgeschlossenen Systemen zwei voneinander verschiedene Größen – der Impuls einerseits und die Energie andererseits, für den bewegten Körper als kinetische Energie gemessen – erhalten bleiben.

Die Energieerhaltung wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts verallgemeinert und schließlich als 1. Hauptsatz der Thermodynamik eine der Grundlagen dieses Gebietes und damit auch aller mit Lebensvorgängen verbundenen Phänomene. Nebenher erschien die Erhaltung der Masse als nahezu selbstverständlich, war doch niemals das Verschwinden oder gar die „Schaffung“ einer Masse beobachtet worden, bis Einstein im Rahmen der Relativitätstheorie Anfang des 20. Jahrhunderts zeigte, dass bei hohen Energien doch Massenanteile in Energie und umgekehrt Energie in Teilchen umgewandelt werden können. Das berühmte E = mc2 erlaubte es nun auch, an Wechselwirkungen beteiligte Massen m in den Energiesatz einzubeziehen, wobei wegen der relativistischen Effekte berücksichtigt werden muss, dass m von der Geschwindigkeit abhängt.

Die Aussage eines Schülers, die G. Schaefer bei seinen Untersuchungen gesammelt hat (Aussage 4 in Kapitel 11.11), charakterisiert die allgemein verbreitete Vorstellung zur Rolle der Energie ganz gut: „Energie ist die treibende Kraft aller Dinge; ihr Vorhandensein ist die Voraussetzung des Lebens.“ Sieht man das im Sinne einer notwendigen (noch nicht hinreichenden) Bedingung an, dann trifft das auch als wissenschaftliche Aussage zu. Man muss sich nur die Bemerkung Ludwig Boltzmanns von 1905 hinzu denken: „Der Kampf der Lebewesen um Überleben geht letzten Endes nicht um Energie, sondern um Entropie.“ (G. Schaefer, Kapitel 11.1), oder mit anderen Worten: es geht hierbei um Energie aus Systemen mit hohem Ordnungszustand, das heißt mit geringer Entropie.

Die maximale Arbeit, die ein System der inneren Energie U, der Temperatur T und der Entropie S bei einem isothermen Prozess leisten kann, ist gleich der Freien Energie F = UTS, und dieser Anteil an der Gesamtenergie U des Systems ist umso größer, je kleiner die Entropie S ist. Mit jeder (irreversiblen) Energieumwandlung wird an irgendeiner Stelle des Systems (der Welt) zwangsläufig die Entropie erhöht, d.h. der Ordnungszustand und damit die Arbeitsfähigkeit verringert. Für das System Erde ist es die Sonne, die Energie mit niedriger Entropie liefert, entsprechend gibt die Erde Energie mit hohem Entropiegehalt in den Weltraum ab (Entropiestrom).

Energie ist also gemeinsam mit der Entropie eine für das praktische Leben unverzichtbare Größe. Ohne Energie im physikalischen Sinn gäbe es kein Leben. Natürlich war der Alltagsbegriff in all seiner Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit zuerst da, doch erst die exakte physikalische Definition, die über die Alltagsbedeutung hinaus geht, macht ihn im Sinne von Karl R. Popper zu einem wissenschaftlichen Begriff, der sowohl zur Welterkenntnis als auch zur Weltbeherrsch- ung beiträgt. Die Physik ist seit der Renaissance bei der Entwicklung solcher Begriffe und darauf basierender Theorien beispielgebend, so dass sie eine gewisse Leitfunktion übernommen hat. So modellieren heute z.B. die Sozialwissenschaften viele ihrer Phänomene mit Methoden, die in der Physik entwickelt wurden.

Trotzdem bleibt aber die Tatsache, dass in verschiedenen Bereichen mit verschiedenen Sprachen und Begriffssystemen gesprochen wird. Da wandelt nicht nur das Wort Energie seine Bedeutung, das gilt auch für viel banalere Ausdrücke. Man denke nur an die Sprache verschiedener Berufsgruppen wie z.B. die der Bergleute oder die der Jäger, aber auch an die Jugendsprache. Jedoch sind die Vertreter des jeweiligen Bereiches, besonders wenn sie den Anspruch erheben, Wissenschaft zu betreiben, gut beraten, ihre Begriffe, so wie die Naturwissenschaf- ten es tun, nachvollziehbar zu definieren und dann auch so zu gebrauchen.

Wenn in Dorsch Psychologisches Wörterbuch 2009 davon gesprochen wird (siehe Kapitel 11, 11.4): „Durch Freud erfolgte die Übertragung des Energiesatzes in die Psychologie. Danach bleibt die in einem Individuum vorhandene psychische Energie (Libido) über lange Zeitstrecken konstant“, dann sollte man sich auch bemühen, empirisch aufzuzeigen, dass das mehr ist als nur ein metaphorisches Geraune.

Es wäre allerdings unrealistisch anzunehmen, dass der Dialog zwischen Geisteswissenschaften einerseits und Naturwissenschaften andererseits dadurch befördert wird, dass man sich vorher auf eine gemeinsame Sprache einigt. Man sollte die Sprache des Gesprächspartners zumindest wie eine Fremdsprache kennen – die dafür notwendigen Grundkenntnisse muss die Schule im Sinne von Allgemeinbildung vermitteln; siehe Denkschrift der GDNÄ-Bildungskommission Allgemeinbildung durch Naturwissenschaften – und dann die Bereitschaft zeigen, sich auf diese Fremdsprache auch einzulassen.

In den Naturwissenschaften ist unter Wissen primär − von eindeutig definier- ten Grundlagen und Axiomen ausgehend – das Erklären von Phänomenen und die Zurückführung der Vielfalt auf einige wenige Grundsätze gemeint. Den Geisteswissenschaften dagegen geht es, worauf G. Schaefer und D. v. Engelhardt oben schon hinwiesen, mehr um ein (empathisches) Verstehen. Schon aus diesem Grund ist es nicht verwunderlich, dass der Energiebegriff der Physik rational und unanschaulich ist und bleiben muss, während Energie in seiner Alltagsbedeutung, aber auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften, stark gefühlsmäßig und mithin emotional geprägt ist, wodurch er aber naturgemäß auch unschärfer wird.

Im geeigneten Kontext, und dort wenigstens minimal präzise verwendet, wird der physikalische Energiebegriff sicher auch Diskussionen außerhalb der Naturwissenschaften befruchten, zumal damit zu rechnen ist, dass in der heutigen naturwissenschaftlich-technisch geprägten Welt, und beeinflusst durch den naturwissenschaftlichen Schulunterricht, doch bei allen Diskussionen immer auch die physikalische Bedeutung im Hintergrund mitschwingt.