Wenn, wie oben gezeigt, das Wort Energie in vielen Bereichen unseres Lebens in jeweils verschiedener Bedeutung auftritt, und wenn sich, worauf D. v. Engelhardt hinwies, unsere Gesamtkultur nicht aus zwei (Snow), sondern aus mindestens vier Subkulturen zusammensetzt, so liegt es nahe, dass man für eine Dolmetscherfunktion wenigstens diese vier Subkulturen so weit verstehen muss, dass man ihre Sprachen kennt und sie sinnvoll ineinander übersetzen kann. Gebildet wäre dann ein Mensch, der diese Dolmetscherfähigkeit besitzt.
Nun ist es in der heutigen Schule immer noch üblich, die vorhandenen Subkulturen durch verschiedene Fächer repräsentieren zu lassen, die sich darauf jeweils spezialisieren. Das ist das Konzept einer Allgemeinbildung durch Addition von Fächern (Abbildung 13.1).
Wie die Erfahrung zeigt, funktioniert dieses Konzept aber nicht oder nur sehr ungenügend: Schüler und Schülerinnen haben ihre Lieblingsfächer und sind selten in der Lage oder gewillt, sich in andere Fächer so weit einzudenken, dass sie zwischen ihnen dolmetschen könnten. Es kommt noch hinzu, dass in der Schule die Spezialisierung der Fächer häufig so weit getrieben wird, dass die Lernenden oft „den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen“.
Daher verfolgt die GDNÄ-Bildungskommission − D. v. Engelhardt und G. Berg wiesen oben schon darauf hin − ein anderes Konzept: Allgemeinbildung durch Integration verschiedener Fachaspekte innerhalb eines Faches (Abbildung 13.2), genannt fachübergreifender Fachunterricht. In einem solchen Unterricht wird versucht, die vorhandenen Subkulturen in jedem einzelnen Fach miteinander zu verknüpfen. So wird Schülern und Schülerinnen Gelegenheit geboten, das Übersetzen schon innerhalb des Faches zu üben.
Fig. 13.1: Konzept I für fachübergreifenden Unterricht: Addition der Schulfächer.
Fig. 13.2: Konzept II für fachübergreifenden Unterricht: Fachübergreifender Fachunterricht.Integration der Schulfächer innerhalb jedes Faches. Schwerpunkt ist hier die Überlappungszone im Zentrum der Figur (schraffiert).
Das Konzept wird zunächst in Abbildung 13.2 am Beispiel der drei weit auseinanderliegenden Fächer Deutsch, Sozialkunde und Physik dargestellt, dann aber in Abbildung 13.3 auf die drei naturwissenschaftlichen Fächer übertragen.
Fig. 13.3: Anwendung von Konzept II auf die drei naturwissenschaftlichen Fächer: Bildungsrosette der GDNÄ
Bei diesem Ansatz kommt dem Zentrum der Rosette (Zone 1) für das Dolmetschen zwischen den Fächern bzw. den von ihnen vertretenen Subkulturen eine herausgehobene Bedeutung zu:
1dem Beherrschen wichtiger Fundamentalbegriffe wie Struktur, Ordnung, Gesetz, Zufall usw.;
2der Verfügbarkeit wichtiger Fertigkeiten wie beobachten, beschreiben, defi- nieren, messen, erklären, werten usw.; und
3der Ausprägung wichtiger Haltungen wie Ehrlichkeit, Genauigkeit, Naturachtung, Wissbegierde, Rationalität, Objektivität, usw.
Diesem Zentrum ist in der GDNÄ-Denkschrift besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Es kann als „Fundament des Dolmetschens“ angesehen werden.
Wenn Schule es schaffen sollte, die Lernenden mit dieser Mitgift auszustatten, wird sie Menschen ins Leben entlassen, die zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen vermitteln und damit zum Zusammenhalt unserer Kultur beitragen können. Sie werden dann auch in der Lage sein (und vielleicht sogar Freude daran haben), das Wort Energie in seiner Vieldeutigkeit zu sehen, zu schätzen, zu verstehen und dabei auch den physikalischen Begriff entsprechend würdigen und richtig anwenden zu können, − selbst wenn Physik nicht ihr Lieblingsfach sein sollte.
Mögen sich die Schulen der Zukunft bald von dem Zwang eines immer härter werdenden internationalen Wettringens auf dem Wissens-Sektor befreien und sich auf diese eigentliche, zentrale Bildungsaufgabe konzentrieren!
Bildung heißt nicht, dass man in einem Fach viel weiß, sondern dass man zwischen den verschiedenen Fachkulturen zu dolmetschen vermag.