Computergraphik für die Entwurfsplanung und interaktive Software für sämtliche Tätigkeiten der Bauleitung gestalten derzeit die Wissensbestände der Architektur grundlegend um. Auch in der Vergangenheit hat die Architekturgeschichte ähnliche epistemische Brüche erlebt. Die Geschichte des Bauens basiert bis weit in die Moderne auf praxisnahen Wissenstraditionen der Handwerker, Baumeister und Architekten: Der Entwurf von Bauwerken, das Wissen um Materialien und Bautechniken und die Organisation logistischer Abläufe wurde im wesentlichen durch Teilnahme am Arbeitsprozess und mündliche Unterweisung tradiert. Solches „handlungsimplizite Wissen“ ermöglichte die Monumentalbauten der frühen Hochkulturen (Tempelanlagen, Stadt-und Grenzmauern, monumentale Grabbauten wie die ägyptischen Pyramiden, Bewässerungssysteme), die modellgebende Architektur und Infrastrukturtechnologie der griechischen und römischen Antike (Straßenbau, Aquädukte), die Sakral- und Wehrbauten des Mittelalters (Kathedralen, Klosteranlagen, Burgen) sowie die riskanten und innovativen Bauprojekte der Renaissance (Großkuppeln, Flussregulierungen, Festungsanlagen). Erst die neuen Formen der Architektur und der Stadtplanung im Zeitalter des Absolutismus und der französischen Revolution suchten auch wissenschaftliche Erkenntnisse in der Baupraxis zu verankern.
Das den großen Bauleistungen der Vergangenheit zugrunde liegende Wissen und seine Entwicklung ist bisher allerdings kaum zum zentralen Gegenstand epochenübergreifender Untersuchungen gemacht worden. Aus diesem Grunde haben die Bibliotheca Hertziana (Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte) in Rom und das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin vor nunmehr zehn Jahren mit Unterstützung des Innovationsfonds des Präsidenten der MPG ein internationales Forschungsnetzwerk aufgebaut, das einer Wissensgeschichte der Architektur (epistemic history of architecture) gewidmet ist. Diese gemeinsame Forschungsinitiative hat die historische Dimension solcher epistemischer Brüche untersucht. Ziel war es, erstmals eine nach strukturellen Aspekten gegliederte Wissensgeschichte der Architektur zu erarbeiten. Das Projekt wurde gemeinsam mit Peter Damerow und mit der Unterstützung durch Marcus Popplow (MPI für Wissenschaftsgeschichte) konzipiert und zunächst von Claudia Bührig (MPI für Wissenschaftsgeschichte) und Hermann Schlimme (Bibliotheca Hertziana) geleitet. Seit Ende 2005 übernahm Wilhelm Osthues die Leitung des Projekts für das Institut für Wissenschaftsgeschichte. Peter Damerow wirkte bis zu seinem unerwarteten Tod im Jahre 2011 als zentraler Ideengeber und Mentor. Ihm ist dieses Werk in Dankbarkeit gewidmet.
Im Jahre 2003 fand im Rahmen des Projekts eine erste internationale Konferenz an der Biblioteca Hertziana in Rom statt. Sie bildete die Grundlage für den von Hermann Schlimme herausgegebenen Band Practice and Science in Early Modern Italian Building. Toward an Epistemic History of Architecture (Electa 2006). Dieser ersten Konferenz folgten ab 2004 eine Reihe von Workshops, die speziellen Themen einer Wissensgeschichte der Architektur gewidmet waren und auf denen wesentliche Voraussetzungen des vorliegenden Werks erarbeitet wurden. Ebenfalls im Jahre 2003 wurde in Madrid die erste einer Serie von Konferenzen abgehalten, die sich parallel zur Wissensgeschichte der Architektur mit neuen Ansätzen zur Konstruktionsgeschichte beschäftigten. Die aus diesem Kontext hervorgegangenen Publikationen sowie weitere neuere Veröffentlichungen haben auch für die hier vorgelegte Wissensgeschichte der Architektur einen wichtigen Referenzpunkt gebildet.1
Antike Großbauten, mittelalterliche Kathedralen oder die Großkuppeln der Renaissance wurden auch ohne Rückgriff auf formalisiertes Ingenieurwissen in logistischer und technischer Meisterschaft realisiert. Die solchen Bauwerken zugrundeliegenden Methoden und Verfahrensweisen sind kaum angemessen als bloßes „Alltagswissen“ zu beschreiben. Dem Verständnis des Projektes nach stellen sie vielmehr ein ausdifferenziertes „handlungsimplizites Wissenssystem“ dar. Der Zugang zu solchen Formen des Wissens der Handwerker, Baumeister und Architekten ist dadurch möglich, dass das Bauen schon früh durch den Einsatz schriftlicher oder bildlicher Repräsentationsmittel begleitet wurde. Entsprechende Quellenbestände wurden allerdings bislang oft nur als Hilfsmittel für Datierungsfragen und für die Aufschlüsselung der Entstehungsgeschichte einzelner Bauwerke genutzt, nicht aber im Hinblick auf die komplexen Fragestellungen einer Wissensgeschichte der Architektur.
Die Forschungen, deren wesentliche Ergebnisse hier vorgelegt werden, haben sich auf zentrale Aspekte der Wissensgeschichte der Architektur konzentriert, insbesondere auf das Planungswissen, das Materialwissen, das bautechnische Wissen und das logistische Wissen. Diese Wissensformen und die zu ihrer praktischen Umsetzung verwendeten Medien wurden epochenübergreifend untersucht. Unter den vielfältigen Wechselwirkungen solcher Wissenstraditionen in der Baupraxis wurde der Konfrontation praktischer und theoretischer Wissensbestände der Architektur in der historischen Analyse besondere Beachtung geschenkt.
Mit der Analyse der historischen Wissensformen der Architektur hat das Kooperationsprojekt der Bibliotheca Hertziana und des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte einen bislang unbeachteten Aspekt der Architekturgeschichte in den Blick genommen: Üblicherweise werden hier vornehmlich entweder die Ästhetik und Formgebung der Architektur, oder aber die Baugeschichte einzelner Bauwerke von der Planung bis zur Ausführung erforscht, nicht jedoch die intellektuellen Ressourcen, die die Realisierung von Bauprojekten überhaupt erst ermöglichten. Auch wenn neuere Überblicksdarstellungen die Vielfalt handwerklicher, künstlerischer und organisatorischer Aspekte des Bauwesens zunehmend in die Darstellung mit einbeziehen, hatte eine Wissensgeschichte der Architektur nicht nur in methodischer Hinsicht Neuland zu betreten, sie musste auch die epochale und disziplinäre Aufsplitterung bisheriger architekturhistorischer Forschung überwinden: Der Kunstgeschichte sind derartige Fragestellungen in der Regel zu technisch, während die Wissenschaftsgeschichte architektonisches Wissen oft erst mit der Formierung eines institutionalisierten Bauingenieurwesens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in den Blick nimmt. Die zuweilen in hohem Maße ausdifferenzierten vorwissenschaftlichen Traditionen des Wissens bleiben so von vornherein im Dunkel.
Um die langfristige Entwicklung solchen handlungsimpliziten Wissens zu untersuchen, musste das Kooperationsprojekt demnach letztendlich auch die Pfade verlassen, auf denen sich die Architektur selbst seit der Renaissance als eigenständige Disziplin zu konstituieren suchte: als Architekturtheorie. Bereits der erste große Architekturtheoretiker der Renaissance, Leon Battista Alberti (1404–72), behandelte baupraktisches Wissen nicht nur als philologisches Zitat aus dem antiken Traktat des Vitruv. Die 1563 in Florenz gegründete Accademia deI Disegno thematisierte baupraktisches Wissen bewusst nicht: es ging allein um die Einlösung ihres theoretischen Anspruches. Die in der Folgezeit noch verschärfte Dichotomie zwischen wissenschaftlichem Wissen und rein praktischem Erfahrungswissen repräsentiert in keiner Weise die ausdifferenzierten Wissensbestände der Baupraxis.
Das vorliegende Werk soll demnach einen neuen Blick auf die frühe Architekturgeschichte eröffnen. Wie wurden Bauwerke geplant, welches Wissen über Materialien und bautechnische Fragen und welche logistischen Kompetenzen waren zu ihrer Realisierung erforderlich? Und mit Hilfe welcher schriftlicher oder bildlicher Medien wurde solches Wissen konkret im Bauprozess umgesetzt? Aus diesen Leitfragen haben sich die beiden analytischen Schwerpunkte des Forschungsprojektes ergeben: Erstens die Identifizierung solcher historischer Wissensformen der Architektur und zweitens die Untersuchung der Wechselwirkung insbesondere praktischer und theoretischer Wissensformen am Beispiel ausgewählter Bauprojekte.
Zeitlicher Schwerpunkt des Projektes waren die Epochen vor der zunehmenden Verwissenschaftlichung der Bautätigkeit im 19. Jahrhundert, vom Neolithikum bis zur Renaissance. Jede dieser Epochen wird durch einen systematisch strukturierten Überblicksartikel zum Bauwissen abgedeckt. Zusätzliche Forschungsbeiträge fokussieren einzelne Aspekte von Bauwissen, seine Quellen und Hintergründe.
Ohne die sich über Jahre erstreckende engagierte Mitwirkung der Autoren dieses Bandes, Archäologen, Altorientalisten, Assyriologen, Ägyptologen, Bauforschern und Architekten, Wissenschafts- und Kunsthistorikern, wäre die Bearbeitung eines so großen zeitlichen Rahmens nicht möglich gewesen.
Die Endredaktion hat mehr Zeit als erwartet in Anspruch genommen. In der Schlussphase haben Lindy Divarci und Matteo Valleriani die Koordination der Abschlussarbeiten übernommen. Ohne ihre beherzte Mitwirkung und ihr souveränes Management des komplexen Projektes wäre das vorliegende Werk nicht zustande gekommen. Dafür sei ihnen an dieser Stelle besonders gedankt.
Wir hoffen, dass die hier vorgelegten Resultate dazu beitragen, die Wissensgeschichte der Architektur als Forschungsrichtung zu etablieren, auch über den geographischen und zeitlichen Rahmen des vorliegenden Werkes hinaus. Welches Wissen lag den Bauleistungen der frühen Amerikaner zugrunde, wie entwickelte sich das Bauwissen in Byzanz, China, Indien, Persien und in der islamischen Welt? Und wie veränderte sich das traditionelle Bauwissen im Zuge der Verwissenschaftlichung der Architektur seit der frühen Neuzeit? Hier liegen zukünftige Forschungsaufgaben, deren Bearbeitung um so dringender erscheint, wenn man die über die historischen Disziplinen hinausreichende Bedeutung bedenkt, die eine Wissensgeschichte der Architektur annehmen kann. In einer Zeit, in der sich die konfliktreiche Integration traditionaler und technisierter Gesellschaften nicht mehr auf der Ebene kolonialer Auseinandersetzung vollzieht, sondern sich auf der Ebene von Wissensressourcen und Wertorientierungen krisenhaft zuspitzt, ist nach unserer Überzeugung das Verständnis handlungsimpliziter Wissenssysteme, wie sie die Geschichte der Architektur geprägt haben, von vitalem Interesse für die Bestimmung der Rolle der Wissenschaft in diesem Integrationsprozess.