2 Bauwissen im Italien der Frühen Neuzeit

Hermann Schlimme, Dagmar Holste, Jens Niebaum

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DOI

10.34663/9783945561041-04

Citation

Schlimme, Hermann, Holste, Dagmar and Niebaum, Jens (2014). Bauwissen im Italien der Frühen Neuzeit. In: Wissensgeschichte der Architektur: Band III: Vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

Das Bauwesen der Frühen Neuzeit in Italien ist ein sehr großes sowie gut dokumentiertes und bearbeitetes Forschungsfeld. Der vorliegende Beitrag versucht, einen Überblick über das Bauwissen dieser Epoche zu geben. Die Texte wurden von drei Autoren erstellt.1

2.1 Die Frühe Neuzeit in Italien

2.1.1 Naturräumliche Bedingungen

Italien ist mit Ausnahme der Po-Ebene und Teilen Apuliens eine bergige bis hochgebirgige Halbinsel. So prägen sich die Regionen kulturell unterschiedlich aus. Die Topographie bringt zudem reiche Natursteinvorkommen mit sich, die sich von Region zu Region unterscheiden und die regionale Architektur maßgeblich beeinflussen. Die Verwendung von Marmor ist für ganz Italien charakteristisch. In der Po-Ebene, wo es keinen Naturstein gibt, entwickelte sich dagegen eine auf Ziegelstein beruhende Baukultur. Holz ist in ganz Italien vorhanden. Eine für Italien typische Ansiedlungsform sind Bergdörfer und Bergstädte, die auf die geographischen Vorgaben reagieren und sich gleichzeitig gut verteidigen lassen. Da die Schifffahrt entlang der Küsten und auf den Flussunterläufen eine große Bedeutung hatte, blieb ein Schwerpunkt der Ansiedlung in Küstennähe. Fruchtbarer Boden in ganz Italien sowie im Jahresdurchschnitt ausreichend feuchtes, gemäßigtes bis subtropisches Klima sorgt für eine gute Ernährungslage und ermöglichte die zahlreichen Blütephasen der Städte und der kulturellen Zentren Italiens.

2.1.2 Staatliche Organisation

Das frühneuzeitliche Italien war politisch in zahlreiche kleinere Staaten gegliedert. Das waren zunächst die Stadtrepubliken (comuni) in Ober- und Mittelitalien, die sich im hohen Mittelalter gebildet hatten.2 Pestausbrüche, Kriege und entsprechende wirtschaftliche und soziale Umwälzungen prägten die Jahre von 1350 bis 1450. In dieser Zeit erlangten einzelne Familien (signori), die vielfach dem alten Adel entstammten, die politische Führung in den Stadtrepubliken und bekamen mit der Zeit die Rolle und auch den Rang von Fürsten. Die Höfe der Este in Ferrara, der Gonzaga in Mantua, der Visconti und danach der Sforza in Mailand oder der Medici in Florenz bildeten im 15. Jahrhundert konkurrierende kulturelle Zentren. Das hatte positive Auswirkungen auf die Entwicklung von Kunst und Bauwesen. Der Frieden von Lodi (1454) läutete einen wirtschaftlichen Aufschwung und eine Phase außerordentlich guter Baukonjunktur ein, die bis ins 16. Jahrhundert fortdauerte. Florenz wurde 1532 zum Herzogtum erklärt, erhielt 1557 Siena und wurde 1569 zum Großherzogtum erhoben. Die Päpste gewannen im 15. Jahrhundert die Herrschaft über Rom, das Latium, Umbrien und Teile der Romagna zurück. In der Wahlmonarchie Kirchenstaat änderten sich die Bedingungen für das Bauwesen mit jedem neuen Papst. Venedig blieb hingegen Stadtrepublik und hatte seit dem 15. Jahrhundert ein großes Territorium, das unter anderem etwa ein Drittel Oberitaliens umfasste. Venedig, im späten Mittelalter das Wirtschaftszentrum Europas, erlebte zwar einen langsamen wirtschaftlichen Niedergang, bewahrte aber seine politische und territoriale Unabhängigkeit bis Ende des 18. Jahrhunderts, als es sich Napoleon ergeben musste und im Vertrag von Campoformio 1797 an Österreich fiel.

Auch wenn die Zahl der konkurrierenden Staaten in Ober- und Mittelitalien mit dem Frieden von Lodi deutlich abgenommen hatte, gerieten die relativ kleinen Staaten in den folgenden Jahrhunderten immer mehr unter den Einfluss der europäischen Großmächte Frankreich, Spanien und des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation (vor allem der österreichischen Linie der Habsburger). So war z. B. das Herzogtum Savoyen im 16. Jahrhundert spanisch, im 17. Jahrhundert französisch kontrolliert. Mailand unterstand im 16. und 17. Jahrhundert direkt Spanien und wurde im 18. Jahrhundert habsburgisch. Genua und die Toskana waren im 16. und 17. Jahrhundert unter spanischem Einfluss. Das Königreich Neapel, d. h. der Bereich Italiens ab Kampanien und den Abruzzen südwärts stand unter der Herrschaft der Anjou. Diese wurden ab 1442 durch die Aragón abgelöst. Damit wurden Neapel und die Königreiche Sizilien und Sardinien, die bereits zuvor den Aragón unterstanden, ein zusammenhängendes Herrschaftsgebiet, das von 1504 bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts von einem spanischen Vizekönig mit Sitz in Neapel regiert wurde. Die Dominanz Spaniens über viele der italienischen Staaten bedeutete Stabilität, aber führte auch zu einem zunehmenden Provinzialismus. Norditalien wurde in die Konflikte der europäischen Großmächte einbezogen, etwa durch den Mantuaner Erbfolgekrieg (1627–31), der den französischen Einfluss im Norden Italiens stärkte. Mit dem Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) büßte Spanien seine Großmachtrolle dann gänzlich ein. Als Schlüssel für den Friedensschluss (1713 Utrecht und 1714 Rastatt) erwies sich der Tausch von Herrschaftsbereichen, über die lange verhandelt wurde, bis Ausgewogenheit erzielt war. Dabei bildeten die italienischen Staaten den größten Teil der Verhandlungsmasse. Die Herrscherwechsel erwiesen sich für einige Staaten als glücklich. Für das Herzogtum Savoyen, das sich von Frankreich lösen konnte und mit Sizilien (1718 gegen Sardinien getauscht) die Königswürde bekam und Neapel (zunächst ohne Sizilien), das erst habsburgisch bzw. durch den Polnischen Erbfolgekrieg 1735 bourbonisch wurde, gab es in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen wirtschaftlichen Aufschwung, der sich in einer günstigen Baukonjunktur auswirkte. In der Folge des Österreichischen Erbfolgekriegs (1740–1748) verschoben sich die Herrschaftsgebiete der Fürstenhäuser in Italien abermals. Der allgemeine wirtschaftliche Aufschwung im 18. Jahrhundert betraf vor allem die Landwirtschaft. Für ein stark verstädtertes Territorium, wie es Italien seit Jahrhunderten war, bedeutete der starke Anstieg der Landbevölkerung eine Umkehr der demographischen Entwicklung. Bis auf Neapel, Rom und Palermo wuchsen die Städte praktisch nicht mehr. Ausnahme war Turin, das sich von 43.000 Einwohnern im Jahre 1702 auf 92.000 im Jahre 1761 mehr als verdoppelte.

2.1.3 Gesellschaftliche Struktur

Die gesellschaftliche Struktur in den italienischen Staaten der Frühen Neuzeit war durch eine Reihe von Konstanten bestimmt. Zum einen waren dies die feudalen Besitzstrukturen, die sich v. a. im ländlichen Mittelitalien in Form der mezzadria bis in die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg gehalten haben. Mezzadria bedeutet Halbpacht. Dabei stellt der Grundeigentümer Land, Vieh und Haus zur Verfügung, der Pächter die Arbeitskraft seiner ganzen Familie. Die Hälfte des Ertrages muss an den Grundeigentümer abgeliefert werden.

Die Macht des Adels blieb in vielen Bereichen die ganze Frühe Neuzeit hindurch ungebrochen, ständische bzw. durch die Herkunft erworbene Privilegien bestimmten nach wie vor weite Bereiche der Gesellschaft. Das ging einher mit einem Zunftwesen, das im Mittelalter die Stadtrepubliken dominiert hatte und das sich in der Frühen Neuzeit weiter ausdifferenzierte. Wenn auch das neu entstehende Akademiewesen und ein neues Selbstverständnis der bildenden Künstler, das sich seit dem 15. Jahrhundert immer stärker ausgeprägt hatte, eine Schwächung des Zunftwesens und eine gewisse soziale Durchlässigkeit mit sich brachten, so waren doch auch diese Institutionen bestrebt, Privilegien aufzubauen und zu verteidigen.

Ebenso entscheidend war die ungebrochene Vorherrschaft der katholischen Kirche. Eine besondere Dynamik ging dabei von den im Zuge der Gegenreformation neu gegründeten Orden wie den Theatinern, den Oratorianern und vor allem den Jesuiten aus, die mit ihren in den Zentren der Städte errichteten Konventen und den kapillar auf das gesamte katholische Europa verteilten Kollegien die städtische Gesellschaft und die höhere Bildung entscheidend prägten.

Gleichzeitig gab es eine Reihe von Veränderungen, die sich freilich in den Staaten Italiens unterschiedlich darstellten. Verwaltungsfunktionen konnten erst im Laufe der Zeit aus den feudalen Strukturen herausgelöst werden. Erst langsam ersetzte der Amtsgedanke das Prinzip der Erblichkeit, verdrängte die Dienstanweisung den Ehrenkodex. Die Fürsten umgaben sich mit Verwaltungsfachleuten, die ihnen einen direkten Einfluss auf das Territorium sicherten.3 Diese Tendenzen mündeten schließlich in den Absolutismus, der eine frühneuzeitliche, vor allem zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und der Französischen Revolution anzutreffende Herrschaftsform bezeichnet, die – nach traditioneller Auffassung – von der Regierung eines aus eigener Machtvollkommenheit handelnden Herrschers ohne politische Mitwirkung ständischer Institutionen bestimmt war. Die heutige Forschung sucht jedoch zunehmend auch nach dem Nichtabsolutistischen im Absolutismus. Kennzeichen des Absolutismus’ war ein Verstaatlichungsprozess, der sich unter anderem in der Aufstellung stehender Heere, dem Aufbau eines allein vom Herrscher abhängigen Beamtenapparats, der Einbindung der Kirche in das Staatswesen und einem merkantilistischen Wirtschaftssystem manifestierte. Darüber hinaus führte ein Wandel im Selbstverständnis des Fürsten zu einer Intensivierung des höfischen Lebens, das dem Bauwesen immer wieder entscheidende Impulse gab. Während der Versailler Hof Ludwigs XIV. als Höhepunkt und Idealbild des absolutistischen Hofes gilt, war all dies in Italien nur zum Teil ausgeprägt. Das Herzogtum Savoyen kam durch den unmittelbaren französischen Einfluss in der Folge des dreißigjährigen Krieges und die aktiven Reformen, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf einen zentralisierten Staat im Sinne Colberts ausgerichtet waren, dem Vorbild am nächsten: Die Kirchen verloren ihre Vormachtstellung in der höheren Bildung. Die Privilegien von Kirche und Adel wurden beschränkt. Durch die Aufstellung eines Katasters erhielt man eine fiskalisch aussagekräftige Zusammenstellung von Besitztiteln, die nun in erweiterter Form besteuert werden konnten. Eine auf verlässlichen Aufstellungen von Einnahmen und Ausgaben beruhende Finanzverwaltung schuf die Grundlagen für die Planung auch längerfristiger Projekte. Der Adel übernahm Ämter in Militär, Diplomatie und Verwaltung, die jedoch zahlenmäßig durch das Bürgertum dominiert waren und auch ein gewisses Maß sozialer Aufstiegsmöglichkeiten boten. Gleichzeitig blieb das Herzogtum Savoyen in der Form des klassischen Absolutismus nach dem Vorbild Ludwigs XIV: Die Wirtschaft wurde nicht liberalisiert und Intellektuelle sahen sich mitunter gezwungen, das Land zu verlassen. In der Toskana gab es allenfalls Ansätze zu einer einheitlichen Verwaltung, wenn diese auch bereits im 16. Jahrhundert eingeführt worden waren. Großherzog Pietro Leopoldo aus dem Hause Habsburg reformierte die Toskana schließlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und schuf eine moderne Verwaltung. Dem Territorium des spanischen Vizekönigs in Neapel fehlte vielfach diese straffe Organisation und es wurde erst unter Habsburgern und Bourbonen im 18. Jahrhundert zögerlich in diese Richtung reformiert. Während es gelang, den Einfluss der Kirche zurückzudrängen, blieben die feudalen Strukturen praktisch unangetastet, denn der Versuch, im Jahre 1741 ein Kataster aufzustellen, scheiterte letztlich.

Die Veränderungen im Bildungssektor und deren Bedeutung für die Gesellschaft sind bereits mehrfach benannt worden. Die Berufsorganisationen differenzierten sich aus, Akademien im Bereich von Kunst und Wissenschaft wurden gegründet, die Universitäten wurden aus- und zahllose Jesuitenkollegien aufgebaut. All diese Lehrinstitutionen, die nunmehr weite Teile der Bevölkerung erreichten, bildeten sich unter anderem deshalb, weil Wissen durch Verschriftlichung lehrbar geworden war. Ohne den Buchdruck und die graphischen Vervielfältigungstechniken wie Holzschnitt oder Kupferstich, die im 15. Jahrhundert von Deutschland aus Verbreitung fanden, wäre das neu erarbeitete Wissen kaum breit zugänglich vorzuhalten gewesen. Große, oftmals öffentlich zugängliche Bibliotheken entstanden ebenso wie der Wunsch, in Enzyklopädien das vorhandene Wissen zusammenzustellen. Ohne die Architekturtraktate und die kommentierten und übersetzten Vitruvausgaben wäre die Auseinandersetzung mit der Architektursprache der Antike nicht in dieser Breite möglich gewesen und die Kanonisierung der schließlich in ganz Europa verbindlichen Architektursprache der italienischen Renaissance hätte so nicht ablaufen können. Im 17. Jahrhundert wurde insbesondere die römische Architekturkultur in Publikationen und Vorlagenstichen verbreitet. Für Architekten wurde Buchbesitz, bzw. der Zugang zu den einschlägigen Publikationen zu einem entscheidenden Aspekt beruflichen Erfolgs und entschied über ihren Status in Profession und Gesellschaft.

Gleichzeitig wurde das mündlich und praktisch tradierte Wissen abgewertet, auch wenn es keineswegs an Bedeutung für das Bauwesen und die Genese seiner konkreten Resultate eingebüßt hatte. So geriet dieses Wissen in der Frühen Neuzeit vielfach in ein Spannungsfeld: Handwerkstechniken, wie etwa Holzkonstruktion, wurden einerseits Thema von Buchpublikationen, andererseits ließen sich die manuellen Implikationen dieses Wissens und das so entscheidende Element der ,Erfahrung‘ in Büchern nicht festhalten.

2.1.4 Standardbauaufgaben und besondere Architekturleistungen

Im Italien der Frühen Neuzeit gab es eine Reihe charakteristischer Bauaufgaben. Die neue Bedeutung des öffentlichen Raumes in den Stadtrepubliken hatte seit dem hohen Mittelalter nach angemessenen Bauten verlangt. Die Feudalherrenkastelle wurden durch Rathäuser und öffentliche Bauten verdrängt, die sich mit Fassaden auf den Stadtraum ausrichteten. Infolge des sozialen ,Aufstiegs‘ weniger Familien aus der Masse des städtischen Bürgertums in der Folge der Kriege und Krisen des Zeitraums von ca. 1350 bis ca. 1450 wurden städtische Familienpaläste eine wichtige Bauaufgabe; man orientierte sich dabei typologisch an den öffentlichen Bauten aus den Jahrhunderten zuvor. Seit dem 15. Jahrhundert bekam die Fassade des städtischen Palastes eine antikisierende Gliederung. Der Palast stand im Idealfall frei und erhielt einen Vorplatz. In größerer Dimension war er städtische Residenz des Fürsten bzw. wurde in Rom zum repräsentativen (Privat-) Wohnsitz der Kardinäle und Päpste und ihrer Familien. Der städtische Palast blieb als Typus bei allen formalen und architektursprachlichen Veränderungen durch die ganze Frühe Neuzeit entscheidend in Italien. Mit dem Interesse für die antike Baukultur verbreitete sich seit dem 15. Jahrhundert ein weiterer Bautypus: Die auf dem Land, aber oftmals auch direkt vor den Toren der Stadt gelegene Villa. Dabei handelt es sich um ein größeres freistehendes Haus (casino) auf einem großen gartenartigen Grundstück. Das deutlich größer dimensionierte Schloss im weitläufigen Park hingegen entwickelte sich maßgeblich in Frankreich und kam von dort gegen Ende des 17. Jahrhunderts nach Italien.

Im Bereich des Kirchenbaus wirkte das Konzil von Trient 1545–1563 normativ. Die Organisation der Kirche wurde gestrafft, die Liturgie reformiert. Kunst und Architektur wurden stärker instrumentalisiert und sollten helfen, die Frömmigkeit der Menschen zu stärken. Carlo Borromeos Anweisungen zum Kirchenbau, die Instructiones, erschienen 1577 und waren ein unmittelbares Ergebnis des Konzils von Trient. Sie schrieben im Kirchenbau einen langgestreckten Grundriss auf lateinischem Kreuz vor. Insbesondere der Kirchenbau der neugegründeten Orden der Jesuiten, Oratorianer und Theatiner, aber darüber hinaus auch eine große Zahl der übrigen Kirchenneubauten der nächsten Jahrhunderte folgte diesem Schema. Die zahlreichen Kriege und die drohenden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den vielen kleinen Staaten und die Konkurrenz der Großmächte in Italien führte zu einer besonderen Blüte des Festungsbaus, für den sich bereits gegen Ende des 15. Jahrhunderts, dann aber vor allem im 16. Jahrhundert das Bastionärssystem herausbildete.

Der Bau der Großkuppeln in Florenz und Rom ist hingegen als besondere Architekturleistung zu werten. Wie bereits beschrieben entstand im Italien des 15. und 16. Jahrhunderts eine Architektursprache, die sich schließlich in ganz Europa durchsetzte. Dies ist ebenso als eine besondere Architekturleistung zu sehen wie die von Italien ausgehende Neubewertung des Architekturentwurfs als intellektuelle Leistung. Seit der Gründung der Accademia del Disegno (Florenz) und der Accademia di San Luca (Rom) im 16. Jahrhundert wurden die Rolle der Künste und insbesondere die des Architekten neu definiert.

Eine besondere Architekturleistung der Frühen Neuzeit in Italien war schließlich auch die Anwendung von Erkenntnissen der entstehenden modernen Naturwissenschaft im Bauwesen und Schritte hin zur Entwicklung von Berechnungsverfahren in Statik und Materialwissenschaft. Das Wissen und das Verständnis, das Handwerker und Bauleute von der Natur haben, hatte bereits seit dem 15. Jahrhundert das Interesse der Naturphilosophen gefunden, die die Handwerkstechniken als tagtäglich durchgeführte Experimente mit der Natur verstanden. Das Auswerten von Experimenten wiederum war für die entstehende moderne Naturwissenschaft ein Schlüssel zum Verständnis der Naturgesetze. Galileo Galilei lernte etwa von den Handwerkern des Venezianischen Arsenals, Francis Bacon stellte Dokumentationsprogramme für Handwerks- und Bautechniken auf. Die zunehmende Interaktion zwischen Bauwesen und entstehender moderner Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert fand vor allem in Italien, Frankreich und England statt und führte zur Gründung diverser wissenschaftlicher Akademien, die sich auch um das Bauwesen kümmerten. Ausgehend von Frankreich wurde diese Interaktion ab Mitte des 18. Jahrhunderts in Form der Polytechnischen Schulen institutionalisiert.

2.2 Bauverwaltung

Die Organisation und Verwaltung des Bauwesens im frühneuzeitlichen Italien ist durch Quellen sehr gut dokumentiert. In der Forschung werden diese Quellen zumeist genutzt, um die Entstehungsgeschichte einzelner Bauten oder auch einzelner, für das Bauwesen relevanter Institutionen nachzuvollziehen. Um die Einblicke, die diese Quellen darüber hinaus in das praktische Wissen der Bauleute und seine Anwendung ermöglichen, soll es im folgenden gehen. Dazu werden eine Reihe von Einzelfällen betrachtet. Zumeist war die Organisation von Baustellen zum einen durch bauspezifische Verfahrensweisen bestimmt, wie etwa die Bezahlung nach Tagwerken oder nach gemessenem Werk (misura e stima). Im Laufe der Frühen Neuzeit kamen mit der Erstellung von Ausschreibungsunterlagen (capitolati) und Festpreislisten weitere bauspezifische Verfahrenweisen hinzu. Abrechnungs- oder Finanzierungsverfahren wurden dagegen oftmals bewusst dem kaufmännischen Wissen und in Einzelfällen dem Wissen der Bankiers4 entlehnt, indem Zünfte oder Personen mit entsprechendem beruflichen Hintergrund mit der Organisation eines Bauprojektes beauftragt wurden. Im Verlauf der Frühen Neuzeit gab es im italienischen Bauwesen die Tendenz zu einer weiteren Ausdifferenzierung der Arbeitsteilung. Grund dafür war zunächst das neue Selbstverständnis der Architekten und die Neubewertung der architektonischen Planung als intellektuelle Leistung, die aus dem unmittelbaren Realisierungsprozess zunehmend ausgegliedert wurde. Vor allem aber war die zunehmende Arbeitsteilung eine Folge der Dimension einzelner Bauprojekte und der Intensivierung des Bauwesens. So stieg das Bauvolumen etwa in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erheblich an. Die hohe Zahl der am Bau beteiligten Personen erforderte Buchführung und Schriftlichkeit in größerem Umfang. Dadurch entstanden wiederum neue Aufgabenbereiche auf der Baustelle. Die Trennung zwischen Planung und Ausführung stärkte die Rolle der Zeichnung als Kommunikationsmedium.

2.2.1 Kuppel von S. Maria del Fiore

Der Florentiner Dom gehört zu den am besten dokumentierten Bauten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit und erlaubt daher einzigartige Einblicke in die Organisation einer Großbaustelle in dieser Zeit, auch wenn sich die Befunde aufgrund der besonderen Komplexität des Beispiels nur bedingt verallgemeinern lassen.5 1296 wurde mit den Bauarbeiten begonnen, die Vorarbeiten reichen bis mindestens 1294 zurück.6 Anfangs scheint die Baulast zwischen Kommune und Bischof geteilt gewesen zu sein, folglich wurde auch die Opera von beiden Seiten beschickt.7 Ein entsprechendes, die jeweiligen Rechte und Pflichten regelndes Statut aus dieser Zeit ist freilich nicht bekannt. 1321 zog die Kommune das Unternehmen gänzlich an sich und übertrug die Durchführung den fünf größten Zünften, die einander in Jahres-turni abwechseln sollten;8 1331 schließlich wurde die Opera ausschließlich der Arte della Lana, der Wollfabrikantenzunft, anvertraut.9 Hinter dieser Entscheidung stand offensichtlich die Absicht, sich für die Organisation einer so komplexen Baustelle wie der von S. Maria del Fiore die gerade in den Zünften besonders ausgeprägte administrative Kompetenz zunutze zu machen; speziell für die Arte della Lana mag gesprochen haben, dass sie mit den Läden ihrer Mitglieder ein über die ganze Stadt gespanntes engmaschiges Netz besaß, das für eine möglichst breit angelegte Unterstützung des Projektes aktivierbar war.10

Die Verwaltungsstruktur der Opera bildete sich erst in den Jahren nach 1331 heraus.11 Geleitet wurde sie von vier Operai, die vier, ab 1338 sechs Monate amtierten und jeweils in Zweiergruppen gegeneinander versetzt gewählt wurden, so dass sich eine flüssigere personelle Verzahnung ergab. Die Wahl sowie das vorherige scruptinium der möglichen Kandidaten oblag den Konsuln der Arte della Lana. Die Operai genossen volle Autorität über die Belange des Baues; in besonders wichtigen Fragen (etwa der Beschlussfassung über Projekte) entschieden sie mit den Zunftkonsuln gemeinsam. Ihnen standen als einziger hauptamtlicher Mitarbeiter ein Notar sowie für die Buchhaltung ein camerarius zur Seite, dem angesichts der zunehmenden Komplexität seiner Aufgaben eine wachsende Anzahl von Assistenten zugeordnet wurde.12 Bei Entgegennahme der für die Opera bestimmten Summen sowie bei Auszahlungen bedurfte er zudem der Anwesenheit des Notars, der auch den gemeinsam mit den Operai vorzunehmenden monatlichen Bücherabschluss zu protokollieren hatte. In den 1350er Jahren kam das Amt des Proveditore hinzu, der als „Bindeglied zwischen dem eigentlichen Bauvorgang und dem Verwaltungsapparat“ fungiert zu haben scheint. Ihm oblagen die Überwachung von Quantität und Qualität der geleisteten Arbeit, Kontrolle und Abrechnung der Lieferungen, die Durchsetzung von Verwaltungsbeschlüssen ebenso wie das Erwirken von Genehmigungen für Änderungen oder Fortführung begonnener Arbeiten etc. Auch ihn unterstützten mehrere Assistenten.13 Die Ausdifferenzierung und Erweiterung der Ämterstruktur in der Opera lässt klar erkennen, dass man die besonderen Anforderungen, die eine Baustelle dieser Größe und dieses technischen Anspruchs stellte, erst schrittweise erkannte und entsprechend reagierte.

Als eigentlicher Bauleiter amtierte der capomaestro. Er war jedoch keineswegs automatisch auch der Entwerfer für die am Bau auftretenden Gestaltungsaufgaben. Gerade in den Jahren der Vorbereitung des definitiven Projektes (1366/67) setzte die Opera verstärkt auf Maler und Steinmetzen, d. h. auf Bildkünstler, denen offenbar höhere gestalterische Kompetenz zugetraut wurde.14 Die capomaestri waren demgegenüber in erster Linie Bautechniker, die zwar auch Entwürfe vorlegen konnten, ihre eigentliche Tätigkeit aber unabhängig von Erfolgen in diesem Bereich ausübten.

Charakteristisch für die Florentiner Planungen (und nicht nur für sie) war die Tatsache, dass zum Teil auch recht detaillierte Aspekte des Baugeschehens in Expertenkommissionen beraten und immer wieder Bürgerentscheide gesucht wurden.15 Daher spielten Modelle in der Planung eine erhebliche Rolle.16 Als etwa im August 1357 drei Modelle für die Langhauspfeiler zur Wahl standen, berief die Opera zunächst eine Expertenkommission aus fünf Baumeistern anderer Bauten;17 das von ihnen gewählte Modell wurde für die Öffentlichkeit ausgestellt, verbunden mit der in großen Lettern auf seinem Fuß angebrachten Aufforderung an qualunque persona volesse apovi alchuno difetto (jedwede Person, die auf irgendeinen Mangel hinweisen möchte), diese Kritik binnen acht Tagen bei der Opera vorzubringen, wozu es aber nicht kam.18 Über das endgültige Projekt für den Dom berieten im Sommer und Herbst 1367 zunächst mehrere Gremien, bevor es zu einem abschließenden Bürgervotum kam, an dem sich mehrere hundert Florentiner beteiligten.19 Man bemühte sich also einerseits um die Kompetenz ausgewiesener Fachleute in ästhetischen und technischen Fragen, andererseits aber auch, dem kommunalen Charakter des Bauprojektes entsprechend, um eine möglichst breite Verankerung der Entscheidungsfindung in der Bürgerschaft – besonders im Hinblick auf das extrem aufwendige Kuppelprojekt.20

Der Bau der Kuppel, der ab 1417 vorbereitet wurde, stellte nochmals bedeutend höhere Anforderungen als die übrigen Bauteile, bautechnischer ebenso wie -organisatorischer Art. Im August 1418 wurde ein öffentlicher Wettbewerb für ein Modell oder eine Zeichnung zur Wölbung der Kuppel ausgeschrieben. Die Tradition der Entscheidungsfindung durch Wettbewerbe wurde also fortgesetzt; daran sollte sich auch nichts ändern, als es 1436, nach Vollendung der eigentlichen Kuppelwölbung und auf der Höhe von Brunelleschis Ruhm, um den Entwurf für die Laterne ging. Neu an der Ausschreibung von 1418 war indes, dass jedem Teilnehmer seine Unkosten erstattet werden sollten: Offensichtlich wollte die Opera verhindern, dass ihr möglicherweise praktikable Vorschläge aus finanziellen Gründen entgingen.21

Im November 1419 richtete die Arte della Lana den Ausschuss der Quatuor offitiales Cupule ein: Für jeweils sechsmonatige Amtsperioden gewählt als sollicitatores et conductores hedifitii prelibati (Antreiber und Geschäftsführer der vorgesehenen Bauten), hatten sie für den reibungslosen Ablauf des Kuppelbaus zu sorgen; sie besaßen dabei die gleichen Vollmachten wie Operai und Zunftkonsuln, mit der Ausnahme, dass sie ohne deren Zustimmung keine eigenständigen Beschlüsse fassen konnten.22 Offensichtlich befand man die bisherige Verwaltungsstruktur für die Durchführung eines so komplexen Bauvorhabens für nicht mehr ausreichend. Die Bauleitung wurde einem Triumvirat übertragen: Brunelleschi, Ghiberti sowie der seit 1418 kommissarisch tätige Battista d’Antonio. Überaus interessant sind die gewählten Amtsbezeichnungen: Zunächst wurde das Trio als capomaestri tituliert; bald wurde ihre Amtsbezeichnung in provisores operis Cupole construendi geändert,23 während Battista d’Antonio zumindest seit 1421 zusätzlich auch als capomaestro angestellt war. Deutlich wurde hier auch terminologisch zwischen einer eher theoretischen, planenden Tätigkeit, die gerade hier besondere Anforderungen stellte,24 und dem Amt des tatsächlichen Bauleiters unterschieden. Dabei fungierte Battista, der als einziger der drei tägliche Präsenzpflicht auf der Baustelle hatte, als Bindeglied zwischen Brunelleschi und Ghiberti einerseits sowie den Ausführenden andererseits; gleichzeitig ging es wohl darum, neben den Goldschmieden Brunelleschi und Ghiberti eine bautechnisch versierte Persönlichkeit im Provisoren-Gremium zu haben, der in der Opera verwurzelt war. Umso bemerkenswerter ist, wie umfassend sich Brunelleschi gerade auch um die praktischen Aspekte des Kuppelbaus gekümmert hat.

Schon den Zeitgenossen galt Brunelleschi als eigentlicher Schöpfer der Kuppel; von ihm stammte jedenfalls die Methode, nach der die gewaltige Wölbung ohne durchgehendes Bodengerüst errichtet werden konnte. Dennoch war er anfangs nach Rang und Bezahlung Ghiberti gleichgestellt.25 Im Februar 1426 wurde sein Gehalt gegenüber demjenigen Ghibertis jedoch nahezu verdreifacht, wofür er umgekehrt täglich auf der Baustelle anwesend sein musste.26 Offenkundig hatte sich Brunelleschi gerade auch in der Leitung der Baustelle als unabkömmlich erwiesen. Das dürfte sich neben der Planung der Wölbung selbst und der praktischen Bauleitung wesentlich auf die stets zu überwachende Qualität der Baumaterialien sowie seine Erfindung der zum Kuppelbau nötigen Maschinen bezogen haben.27

Die Ernennung der drei Proveditoren scheint zunächst auf Widerruf erfolgt zu sein; seit 1426 wurden Brunelleschi und Ghiberti jährlich neu in ihrem Amt bestätigt, letzterer bis 1436, ersterer bis 1443.28 Auch als provisor Cupole magne ecclesie maioris, et eius Lanterne, et totius edifitii dicte ecclesie (Proveditor der großen Domkuppel und ihrer Laterne und aller Bauteile der genannten Kirche) ab Februar 1438 (st.c.) änderte sich an den Jahresverträgen für Brunelleschi also zunächst nichts. Erst im April 1443 erfolgte – angesichts der gewaltigen Herausforderung, die großen Marmorblöcke emporzuwinden und aufzurichten, die man keinem Anderen zutrauen mochte – die Ernennung des mittlerweile Sechsundsechzigjährigen auf Lebenszeit.29 Dass Brunelleschis Stellung in der Opera freilich schon in den Jahren zuvor eine überaus gefestigte gewesen sein muss, enthüllt eine bemerkenswerte Episode aus dem Jahr 1434. Im August ließ die Steinmetzzunft Brunelleschi, ungeachtet einer entsprechenden Freistellung, verhaften, da er nicht in der Zunft eingeschrieben war. Die Opera antwortete, indem auf ihr Betreiben hin einer der Konsuln der Steinmetzzunft verhaftet und erst aus der Haft entlassen wurde, nachdem auch Brunelleschi wieder auf freien Fuß gesetzt worden war.30 Deutlich wird hier zweierlei: einmal, wie das zünftisch organisierte Bauwesen unter Druck geraten konnte, wenn es sich mit Aufgaben konfrontiert sah, deren Lösung einmaliges Expertenwissen voraussetzte; zum anderen, wie Inhaber solchen Wissens ihre Stellung selbstbewusst auszuspielen vermochten.

Ein Unternehmen wie das der Kuppel erforderte neue Wege im Hinblick auf die rationale Organisation der Arbeit sowie Sicherheitsvorkehrungen auf der Baustelle. Um 1425/26 wurde ein ganzes Maßnahmenbündel verabschiedet, mit dem man offenbar die Lehren aus Erfahrungen zog, die man während der ersten Jahre des Baues – und angesichts der mit größerer Höhe und Neigung der Kuppel wachsenden Herausforderungen – gesammelt hatte. So wurde den Handwerkern nur noch einmal pro Tag gestattet, von der Kuppel hinabzusteigen.31 Im Februar 1425 (st.c.) wurde die Anbringung eines Stundenglases mit Kreidetafel angeordnet, um die Absenzen zu erfassen: eine frühe Form der Stechuhr.32 1433 existierte sogar eine Art Betriebskantine,33 die natürlich auch Wein im Angebot hatte; um den einschlägigen Gefahren vorzubeugen, wurde im April 1426 verfügt, dass dieser nur in zu mindestens einem Drittel verdünntem Zustand auf die Kuppel gebracht werden dürfe.34 Die Arbeit auf den Mauern wurde spätestens seit 1428 um ein Viertel besser bezahlt als diejenige am Boden.35 Das mag einerseits dem höheren Risiko der Arbeit auf der Kuppel selbst geschuldet sein, andererseits aber auch der Tatsache, dass bei ungünstiger Witterung dort nicht gearbeitet werden konnte: Es würde sich dann gleichsam um eine Vorform des Schlechtwettergeldes handeln. Für die Schlechtwettertage selbst wurde 1432 eine Regelung getroffen: Demnach durften die Maurer der Kuppel an solchen Tagen keine Steinmetzarbeiten am Boden verrichten (gewiss um die Arbeiter am Boden zu schützen). Lediglich fünf von ihnen konnten ausgelost und für untergeordnete Arbeiten wie das Verputzen von Wänden eingesetzt werden; die anderen blieben an solchen Tagen ohne Lohn.36 Um die Sicherheit der Arbeiter auf der Kuppel zu gewährleisten, hatte man seit März 1425 mit dem Bau von hölzernen Brüstungen als Sichtschutz begonnen, deren Ausführung in der zweiten Erweiterung des Bauprogramms von 1426 nochmals festgeschrieben wurde.37 Sicher gab die immer stärker werdende Neigung der Kuppel den Anlass zu dieser Maßnahme.

Die Buchführung erfolgte in der Domopera in verschiedenen Serien. Die umfangreichste bilden die ab April 1362 erhaltenen Quaterni deliberationum, heute Bastardelli di Deliberazioni e Stanziamenti genannt: in lateinischer Sprache verfasste, kladdenartige Bücher, die jeweils ein halbes Jahr umfassten und vom Notar der Opera geführt wurden. Sie enthalten, jeweils in Untergruppen gegliedert, Beschlüsse (deliberazioni), stanziamenti, catture, fideiussioni. Zwischen 1406 und 1446 gab es parallel auch in Italienisch abgefasste Bastardelli di Stanziamenti e Ricordanze. In Latein sind die Libri di deliberazioni geschrieben, die den Bau betreffende Beschlüsse der Operai sowie der Konsuln der Arte della Lana enthalten. Schließlich wurden vom Kämmerer der Opera Kassenbücher (Quaderni di cassa) geführt, die, ab 1434 erhalten, in doppelter Buchführung angelegt sind. Nur ein Journal hat sich aus dem für uns relevanten Zeitraum erhalten; es mag aber solche für weitere Jahre gegeben haben.

Den Institutionalisierungsgrad der Opera spiegelt die Art und Weise wider, wie die Finanzierung des gewaltigen Bauvorhabens geregelt wurde. Vor 1331 war sie noch von starker Diskontinuität und einer Pluralität an Geldgebern gekennzeichnet gewesen:38 Schon 1297 bestritt man einen kommunalen Zuschuss zum Dombau aus bestimmten Zöllen, doch waren es zeitlich begrenzte Zuwendungen, die immer wieder erneuert werden mussten. Seit 1296 war als weitere Maßnahme ein obligatorisches Legat, also eine Art Steuer, zugunsten des Baues für jedes in Florenz und seinem Contado geschlossene Testament beschlossen worden. Kirchliche Beiträge blieben auf die ersten Jahre beschränkt. Davon abgesehen, blieb der Dom ein öffentlich finanziertes Unternehmen in dem Sinne, dass die Finanzierung ausschließlich über gesetzlich festgelegte Abgaben und Kommunalzuschüsse erfolgte.

Was sich mit der Verwaltungsreform von 1331 in Bezug auf die Finanzierung vor allem änderte, war die Tatsache, dass die Zuwendungen der Opera nun ohne zeitliche Begrenzung festgeschrieben wurden.39 Der geringe Baufortschritt der vergangenen Jahrzehnte hatte offenbar die Einsicht befördert, dass ohne eine langfristige finanzielle Sicherung ein Bauprojekt dieser Größenordnung nicht zu stemmen sein würde. Diese Einkünfte hatten drei Standbeine: zum einen direkte kommunale Finanzierung, d. h. einen bestimmten Anteil an verschiedenen Einkünften der Kommune; zum zweiten indirekte kommunale Finanzierung, die also nicht aus den Einkünften der Kommune stammten, der Opera aber aufgrund kommunaler Gesetze zustanden; schließlich, wenn auch erst ab 1380, eine eigenständige Finanzierung dank der Überschreibung ausgedehnter Waldgebiete im Casentino durch die Kommune an die Opera, die nicht nur deren enormen Holzbedarf deckte, sondern der Behörde auch eine eigene unternehmerische Tätigkeit gestattete. In Spitzenzeiten betrugen die Einkünfte der Opera allein aus der direkten kommunalen Finanzierung bis zu 13.700 fl. jährlich.40

Allerdings sind hierbei gewisse Abstriche zu machen. Denn einerseits wurde die Opera gerade im späten 14. Jahrhundert auch zu zweckfremden Bauunternehmungen (wie der Loggia dei Signori) herangezogen, bei denen man sich ihrer technischen und administrativen Kompetenz gleichermaßen versichern wollte.41 Andererseits bestand immer die Möglichkeit, die Zahlungen an die Opera vorübergehend auszusetzen, wenn etwa militärische Erfordernisse dies nötig machten. Die Rückzahlung der einbehaltenen Gelder konnte erhebliche Zeit in Anspruch nehmen.42 Überdies waren gerade die der Opera gesetzlich zustehenden Einkünfte in der Praxis nur schwer einzutreiben. So vermieden es Erben und Notare immer wieder, Testamente an die Opera zu melden.43 Und um die direkten Abgaben in vollem Umfang zu erhalten, musste die Opera gar Beamte bei den abgabepflichtigen Behörden unterhalten, die den korrekten Zufluss der Mittel an den Dombau zu überwachen hatten.44 Die Rechte über die ‚grazie fiscali’ schließlich kamen zuweilen nur mit jahrzehntelangen Verspätungen in der Kasse der Opera an.45 Dennoch stellten die langfristigen gesetzlichen Regelungen der Einnahmen eine wesentliche Voraussetzung für das schließliche Gelingen des Dombaues dar.

Die erheblichen Vorteile des Florentiner Verfahrens werden besonders deutlich im Vergleich mit dem Dombau der großen Rivalin Siena.46 Im 12. und 13. Jahrhundert basierte das Finanzsystem der dortigen Domopera schwerpunktmäßig auf der Bereitstellung direkter kommunaler Mittel, die seit dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts als feste halbjährliche Summe gezahlt wurden, sowie auf Anleihen, für die die Kommune Garantien bereitstellte.47 Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts, vor allem aber seit einer radikalen Neuorganisation des Finanzsystems der Opera in den 1270er Jahren, wuchs freilich ein anderer Zweig zur Haupteinnahmequelle der Opera heran: die Kommerzialisierung jener Abgaben an Wachs, die die Kommune und die Bürger von Siena sowie die ihr unterstehenden Kommunen und Signorien des Contado zum Hauptfest der Kathedrale, der Himmelfahrt Mariens, nach einem an der normalen Steuer- und Abgabenlast orientierten (und folglich mehrfach angepassten) Schlüssel zu entrichten hatten. Namentlich in den 1330er Jahren erreichte dieses System der Mittelakquisition seinen Höhepunkt. Damals machten die Wachsspenden ca. zwei Drittel der Gesamteinnahmen der Opera aus, ein Wert, der im weiteren Verlauf des Trecento sogar auf bis zu vier Fünftel anstieg. Die Abhängigkeit vom lokalen Wachsmarkt, in die man sich auf diese Weise begab, machte sich seit dieser Zeit jedoch nachteilig bemerkbar: Die pizzicaioli verkauften das Wachs teuer an die zur Abgabe Verpflichteten und nahmen es der Opera billig wieder ab; ein erheblicher Teil der Abgaben blieb damit bei den Wachshändlern. Die Opera versuchte dieser Entwicklung zunächst dadurch Herr zu werden, dass nur von speziell lizenzierten Händlern gefertigtes Wachs für die Abgaben verwendet werden durfte; ab den 1360er Jahren gewann die Möglichkeit an Verbreitung, anstelle von Wachs einen Geldbetrag zu leisten, der unter dem Einkaufspreis der Besteuerten, aber über dem Verkaufspreis der Opera lag. 1393 wurde dieses Verfahren zur Norm erhoben, nicht zuletzt als Konsequenz aus einem starken Preisverfall des Wachses seit den 80er Jahren. Wesentlich härter freilich hatte die Opera die verheerende Pest von 1348 getroffen: Bedingt durch den dramatischen Bevölkerungsrückgang waren die Kosten für Arbeitskraft wesentlich stärker gestiegen als der Wachspreis, so dass für den gleichen Preis eine wesentlich geringere Arbeitsleistung zu Buche schlug. Diese Entwicklung dürfte, neben strukturellen Problemen, eine Rolle bei der Einstellung des Duomo Nuovo gespielt haben. Deutlich wird aus all dem, wie unkalkulierbar Einnahmen sein konnten, die auf einem einzigen Marktsegment basierten. Das Florentiner System der direkten und indirekten Besteuerung von Geldleistungen war hier zweifellos das leistungsstärkere.

2.2.2 Reverenda Fabbrica di San Pietro

Es mutet angesichts der in Florenz gesammelten Erfahrungen seltsam an, dass beim Neubau von St. Peter zunächst keine Baufabrik im Sinne eines handelnden Rechtssubjekts bestand.48 Nachdem im Herbst 1505 der Neubau der Basilika beschlossen worden war, erfolgte der Aufbau eines hierfür bestimmten Sondervermögens, zunächst durch die Zuweisung der Einträge vakanter Pfründen sowie durch gezielte Bittschreiben des Papstes an potentielle Geldgeber, darunter an Heinrich VII. von England, 1507 dann vor allem durch die Organisation eines in großen Teilen der Christenheit zu predigenden Ablasses zum Bau der Peterskirche, der unter Julius und seinem Nachfolger Leo X. den Kern der Mittelakquisition ausmachte.49 Eigene Angestellte hatte die Fabbrica anfangs jedoch nicht. Der Buchhalter (computista) Girolamo da Siena und der Vermesser (mensurator) Rinieri da Pisa wurden offenbar von der Camera Apostolica bestallt, die auch zuvor für Erhaltungs- und Erneuerungsarbeiten der alten Basilika verantwortlich gewesen war; der architectus Bramante scheint als familiaris des Papstes sein Gehalt bezogen zu haben.50 Er lieferte nicht nur die Entwürfe und Modelle für den Neubau, sondern schloss stellvertretend für die Camera die Verträge mit den Handwerksmeistern, überwachte mit Hilfe des Vermessers ihre Arbeiten und zahlte gemeinsam mit dem Buchhalter die Löhne und Gehälter aus. Die dafür nötigen Beträge erhielt er von der Bank des Sienesen Stefano Ghinucci, der die aus Ablassverkäufen, Spenden, Legaten etc. stammenden Gelder als Depositar verwaltete und auf ein vom Generalthesaurar der Camera gegengezeichnetes Mandat des Papstes hin an Bramante oder Girolamo auszahlte.51 Die Bauausführung selbst wurde ab 1506 abschnittsweise fünf fabricatores verdingt, die mit ihrer Werkstatt auf eigene Rechnung arbeiteten.52 Seit Juli 1507 wurde es jedoch nötig, aus dem Fabrikvermögen bezahlte Oberaufseher (soprastanti) für die unterschiedlichen Gewerke anzustellen, da die ursprünglichen Strukturen den Anforderungen der komplexen Baustelle nicht länger gewachsen waren. In allen wesentlichen Punkten – der Stellung des leitenden Architekten, dem Institut der bestallten Soprastanti sowie der Verdingung der Ausführung an freie Unternehmer – lassen sich, wie Frommel betont hat, enge Parallelen in den päpstlichen Baustellen unter Pius II. und Paul II. erkennen.53 Man knüpfte also an lokale Traditionen der Bauorganisation an.

Eine Reform erfuhr die Administration unter Leo X. Strukturell sind dabei vor allem drei Aspekte hervorzuheben. Der erste betrifft die Anzahl der Architekten. Nach dem Tod Bramantes im März 1514 lag die Planungsarbeit zunächst in den Händen eines Triumvirats: Raffael als dem eigentlichen Nachfolger Bramantes standen mit Fra’ Giocondo und, als administer et coadiutor operis in untergeordneter Position, Giuliano da Sangallo zwei ebenso betagte wie erfahrene Baumeister zur Seite,54 die offenbar dem in baukonstruktiven Dingen noch wenig beschlagenen Raffael unter die Arme greifen sollten. Nach Giocondos Tod am 1. Juli 1515 und Giulianos Weggang nach Florenz blieb Raffael als einziger architetto übrig; ihm wurde wohl zur Entlastung auf eigenen Wunsch am 1. Dezember 1516 Antonio da Sangallo d. J. zur Seite gestellt.55 Sie alle erhielten, dies bildet die zweite Neuerung, ein festes Gehalt aus dem Fabrikvermögen.56 Beide Maßnahmen hatten Parallelen an anderen großen Dombaufabriken – insbesondere am Florentiner Dom, wo man bereits 1477 die Beschäftigung zweier capomaestri in hierarchisch differenzierter Stellung beschlossen hatte und 1514 gar drei capomaestri mit unterschiedlicher Zuständigkeit beschäftigte, die alle ein – nach Stellung und Amtspflichten differenziertes – Gehalt bezogen.57

Die dritte große organisatorische Veränderung unter Leo bildete die spätestens Anfang August 1514 erfolgte Ernennung des römischen Händlers und Bauunternehmers Giuliano Leni zum curator der Baustelle, ein Amt, das bis dato nicht existiert hatte und für das es auch keine echten Beispiele zu geben scheint.58 In seiner neuen Funktion war Leni Vertragspartner der capomaestri und zahlte sie aus, Aufgaben, die unter Julius noch der Architekt übernommen hatte. Überdies trat er aber auch als Materiallieferant und Bauunternehmer bestimmter Baulose an der von ihm selbst verwalteten Baustelle auf.59 Manches an dieser Konstruktion bleibt im unklaren, etwa, wie weit Lenis Kontrolle über andere, potentiell konkurrierende Unternehmer reichte, ja selbst die zentrale Frage, ob er die Verwaltung des Baues als Angestellter des Papstes oder auf eigene Rechnung übernommen hatte.60 Wichtig ist im Unterschied zum Pontifikat Julius’ II. zum einen die Trennung von Entwurfs- und Verwaltungsarbeit, die besonders den auch außerhalb von St. Peter vielbeschäftigten Architekten größere Spielräume in ihrem eigentlichen Arbeitsgebiet eröffnete, und zum anderen die Übertragung des administrativen Tagesgeschäfts an einen Kaufmann. Es ist sicher zu Recht vermutet worden, dass gewisse Elemente dieser Konstruktion auf Usancen des Florentiner Bauwesens mit seinen von Kaufleuten beschickten opere zurückzuführen sind, wie sie Leo X. als zweitältestem Sohn des baubegeisterten Lorenzo de’ Medici wohlvertraut waren.61 Gerade Santa Maria del Fiore konnte ja als eindrucksvoller Beleg für die Leistungsfähigkeit einer bürgerlich-merkantil geprägten Bauverwaltung gelten. Leni übernahm an St. Peter im Grundsatz jene Aufgaben, die an der Florentiner Domopera auf den Provveditore und den Camarlingo entfielen. Allerdings hat der Vergleich seine Grenzen: In Rom spielte das bürgerlich-merkantile Element letztlich eine wesentlich geringere Rolle als in Florenz: Anstelle von operai und Wollenzunft hatte Leni als Präfekten der Fabbrica einen Kardinal und letztlich den Papst über sich. Überdies war die Stellung der Architekten nun eine andere: Sie wurden nicht, wie die capomaestri und selbst die provisores cupolae in Florenz, von den Administratoren, sondern vom Papst selbst ernannt; speziell zwischen Leni und dem 1521 als Nachfolger des verstorbenen Raffael aufgerückten Antonio da Sangallo d. J. kam es hier wiederholt zu Rivalitäten.62 Und schließlich waren die Operai in Florenz nicht unternehmerisch auf der von ihnen betreuten Baustelle engagiert. Gerade diese Position Lenis zwischen Fabbrica auf der einen und Handwerkern auf der anderen Seite, die es ihm ermöglichte, einerseits sein unternehmerisches Potential voll zur Geltung zu bringen und andererseits Druck auf Konkurrenten auszuüben, dürfte ihn für den Papst attraktiv gemacht haben.63

Die Finanzierung des Bauvorhabens erfolgte wie unter Julius durch Ablassgelder aus ganz Europa – ein Umstand, der bekanntlich Luthers Protest gegen den Ablasshandel auslöste. Dabei entwickelten sich die Einnahmen, dem Rechnungsbuch des Fabbrica-Präfekten Kardinals Bernardo Dovizi da Bibbiena zufolge, in den ersten Jahren überaus günstig.64 Vor dem Hintergrund der sich hier zumindest andeutenden Perspektiven dürften die Ankündigungen des Papstes zu einer Intensivierung der Bautätigkeit, die Raffael in einem Brief an seinen Onkel überliefert,65 wohl mehr sein als reine Rhetorik. Gleiches gilt für die vorübergehende Verdoppelung der Soprastanti-Stellen.66 Alles in allem machten die Gehälter für Architekten und Oberaufseher, entgegen anderslautenden Einschätzungen, nur etwas mehr als ein Zehntel der für den Bau im Jahr 1515 angewiesenen Summe und nicht einmal 1/25 der aus Indulgentien und Jubiläumsablässen zur Verfügung stehenden Gesamtsumme aus.67 Wenn der Bau in diesen Jahren dennoch nicht voran kam, so lag dies nicht an den Gehältern, sondern an der massiven Zweckentfremdung der für St. Peter bestimmten Mittel, über die schon die Zeitgenossen klagten.68

Ab 1516/17 entzogen der allgemeine Ruin der päpstlichen Finanzen durch Leos grenzenlosen Luxus und die Ausgaben des Urbino-Krieges sowie die zunehmende Ablasskritik im Reich und in Spanien dem Neubau wesentliche Teile seiner materiellen Grundlage.69 Clemens VII., der Cousin und zweite Nachfolger Leos, reagierte hierauf mit einer erneuten umfassenden Reform der Bauverwaltung von St. Peter, indem er am 12. Dezember 1523 mit der Bulle Admonet nos suscepti das Collegium fabricae basilicae Beati Petri errichtete: ein Gremium von 60 Kurialen aller Nationen, die von den Botschaftern der Könige, Fürsten und Staaten benannt werden sollten. Diese ,internationale‘ Ausrichtung begründete der Papst mit der aus dem primatus papae abgeleiteten Feststellung, dass die Peterskirche weder dem Papst noch sonst jemandem allein, sondern allen christlichen Nationen gehöre (hoc sacrum et sublime B. Petri templum non nostri, neque cuiusque esse proprium, sed omnium christianarum nationum commune).70 Das Kollegium hatte sicherzustellen, dass die für den Bau bestimmten Gelder tatsächlich für diesen verausgabt bzw. die ihm zustehenden Mittel auch eingetrieben wurden. Zur Durchsetzung dieser Ziele konnte es aus seiner Mitte einen eigenen Richter wählen, der in allen die Fabbrica betreffenden Streitfragen urteilsberechtigt war; für die täglichen Geschäfte des Kollegiums wurden officiales ad tempus bestimmt. Diese vier bis fünf Deputierten trafen sich regelmäßig – 1526 im Schnitt immerhin einmal wöchentlich – und entschieden die anfallenden Fragen, zu denen die Ernennung oder Bestätigung von Ablasskommissaren ebenso gehörte wie die Anweisung der Gehaltszahlungen an die Architekten und Soprastanti, die Ausstellung von Zahlungsmandaten, Beschlüsse über das Vorgehen gegen Schuldner oder die Entgegennahme von Spenden. Das gesamte Kollegium trat nur gelegentlich zu einer Generalkongregation zusammen.71 Die Aufgaben der Deputierten des Kollegiums entsprachen im Grunde denen, die in den spätmittelalterlichen Baufabriken Italiens die Operai zu erfüllen hatten.72

Außerordentlich weitreichend waren die Vollmachten, die Clemens dem Kollegium gewährte: Es war in allen die Baustelle der Peterskirche betreffenden Fragen allein dem Papst unterstellt und speziell vom Kapitel und dem Erzpriester unabhängig – ein Status, den es wiederum mit den meisten italienischen Domopere des 14./15. Jahrhunderts teilte, die als Behörden der jeweiligen Kommune bzw. einer von dieser entsprechend eingesetzten Korporation (in Florenz ab 1331 die Wollenzunft) unterstanden. Neu und den spezifischen Gegebenheiten des zu betreuenden Baues geschuldet ist natürlich die internationale Ausrichtung des Gremiums. Dabei ist der Versuch, das Verwaltungsgremium im Hinblick auf den ‚Einzugsbereich‘ repräsentativ zu besetzen, ebenfalls aus den mittelalterlichen opere bekannt, etwa aus Florenz, Orvieto und Mailand.73 In allen Fällen ging es darum, durch repräsentative Beteiligung die Mittelakquisition auf eine möglichst breite Basis zu stellen. Beim Collegium fabricae basilicae Beati Petri kam überdies die Absicht hinzu, den verbreiteten Zweifeln an der zweckgemäßen Verwendung der für St. Peter bestimmten Gelder zu begegnen: Die Deputierten sollten sich jedem Entfremdungsversuch widersetzen, selbst wenn er vom Papst selbst ausgehe (etiam si nos et successores nostri Romani Pontifices aliter disponeremus et ordinaremus). Verwehrt blieb freilich auch ihnen die Kontrolle über die Architekten: Sie wurden weiterhin vom Papst ernannt, der, so der Deputierte Francesco Pallavicini am 18. Dezember 1546, è del tutto patrona.74 Das Verhältnis zwischen Sangallo und den Deputierten war aber offenbar ein konstruktives und vertrauensvolles. Anders sah es bekanntlich bei Michelangelo aus, der die Deputierten lediglich als Geldbeschaffer sah und in allen Entwurfsfragen allein mit dem Papst reden wollte.75 In dem berühmten motu proprio vom 11. Oktober 1549 erhielt Michelangelo von Paul III. eine Stellung zugesprochen, in der sich nicht umsonst die Titel des commissarius, prefectus, operarius und architector vereinigten, verbunden mit freier Hand in Fragen des Personals, des Budgets, der Entscheidungshoheit sowie der baulichen Gestaltung.76 Sie zielte auf ein Ende der ständigen Diskussionen um die Gestalt des Baues. Doch anders, als es die Deputierten 1539 beabsichtigt hatten, indem sie Sangallo zur Ausführung des Modells verpflichteten (wobei sie sicher auch an das erfolgreiche Vorbild der definitiven Planung in Florenz von 1367 dachten),77 war dies nun gerade nicht mehr mit der Festlegung auf ein einmal ausgearbeitetes Projekt verbunden, sondern mit der Erhebung des potentiell wandelbaren Willens eines Künstlers zum allein rechtsverbindlichen Maßstab. Der im Kern neuzeitliche Gedanke, das Kunstwerk als persönliche Schöpfung des Künstlers – ein Konzept, dem gerade für Michelangelo und gerade für sein St.-Peter-Projekt zentrale Bedeutung zukam – hatte nie zuvor und selten danach einen solchen Freibrief erhalten.78

Großbaustellen wie die des Florentiner Doms oder von Neu-St. Peter in Rom erweiterten das Bauwissen in technischer und administrativer Hinsicht. Sie stellten zwar aufgrund ihrer Dimension Sonderfälle dar, andererseits interagierten sie mit den zahllosen kleineren und mittelgroßen Baustellen. Die Organisation letzterer soll jetzt anhand eines Spektrums von Beispielen aus der Toskana, Umbrien und Oberitalien aufgezeigt werden.

2.2.3 Santa Maria delle Carceri, Prato

Um näheren Einblick in die Organisation einer Baustelle zu erhalten, bietet sich die Madonna delle Carceri in Prato als Fallbeispiel an.79 Die Kirche wurde ab 1485 nach einem Entwurf Giuliano da Sangallos zu Ehren eines wundertätigen Marienbildes errichtet. Patronatsherrin war, wie die päpstliche Bulle zur Einrichtung des locus von S. Maria delle Carceri ausdrücklich festhielt, die Kommune.80 Das war nicht immer so: Häufig übernahm diese Aufgabe, wie etwa in Todi, eine zu diesem Zweck gegründete Laienbruderschaft, die freilich Unterstützung seitens der Kommune erfuhr.81 Das Bild der Madonna del Massaccio bei Spoleto befand sich in einer Kapelle, die dem Kapitel der Abtei S. Pietro gehörte, das folglich auch Patron des Neubaus blieb.82 Das wundertätige Bild der Madonna del Calcinaio bei Cortona gehörte der Arte de’ Calzolari (der Schuhmacherzunft), die bei einer nahegelegenen Kalkgrube ihr Leder gerbte; erst kritische Stimmen über die Angemessenheit des Ortes sowie Skepsis angesichts der eigenen Möglichkeiten zum Bau einer großen Kirche bewogen die Zunft, die Kommune als Co-Patronin ins Boot zu holen.83

Als Behörde zur Ausführung und Verwaltung des Baues fungierte jeweils die dem Träger direkt unterstellte Opera. In Prato umfasste sie jeweils vier für ein Jahr gewählte Bürger, die man anscheinend aus jedem der vier Stadtviertel zu wählen pflegte;84 hinzu kamen ein Provveditore (Verwalter), ein Camerlengo (Kämmerer), der alle Zahlungen für die Opera vornahm, und ein Depositar.85 In Todi bestand die Fabbrica (wie die Behörde dort hieß) aus dem Operaio, einem Buchhalter und einem Kämmerer.86 In Crema setzte sich die Fabbrica aus sechs jeweils für ein halbes Jahr gewählten Bürgern sowie den drei Provveditoren der Kommune zusammen; dabei hatten die Fabbricieri zugleich die Kontrolle über das Ospedale Maggiore, die andere große bürgerliche Institution der Stadt.87 Den Bau der Incoronata in Lodi leitete zunächst ein vom Stadtrat ernanntes Gremium von sindici et officiales mit Prioren an der Spitze sowie einem Tesoriere und einem Contrascriptor. Zehn Jahre später erfolgte dann die Gründung einer Bruderschaft (Schola) aus Bürgern Lodis, aus der jeweils einige Mitglieder ad id pro tempore deputati für die Verwaltung der Kirche und des Kultes zuständig waren.88

Die Aufgaben und Kompetenzen der Opera, insbesondere in Relation zu denen der übergeordneten Behörde, waren von Fall zu Fall unterschiedlich definiert. Die Opera der Madonna delle Carceri besaß volle Kontrolle über die Verwaltung der Einnahmen, ähnlich wie etwa in Crema. Hingegen lag die Finanzhoheit bei der Madonna della Consolazione in Todi seit Anbeginn in den Händen einer Bruderschaft, die auch die Verträge mit den Handwerkern abschloss; die Fabbrica war lediglich ausführendes Organ.89 In Cortona, wo sich das wundertätige Bild im Besitz der Schuhmacherzunft befand, bestimmte zunächst diese vier Soprastanti und einen Kämmerer für den Bau und die Verwaltung der Einnahmen. 1488 wurde die Kirche von Regularkanonikern von S. Salvatore übernommen, denen 1489 auch die Leitung der Bauarbeiten übertragen wurde, während die Kontrolle der Spenden bei den Soprastanti verblieb. Hier wurden also Bau und Spendenverwaltung getrennt. Der Versuch, auch die letztere in die Hand zu bekommen, endete für die Kanoniker mit der vorübergehenden Ausweisung aus der Kirche.90

Woher kam das Geld? Das Fundament der Einnahmen legten bei den Sanktuarien stets die Spenden der Gläubigen und Pilger. In Prato kamen sie aus folgenden Quellen:

1den Opfergaben am Altar des wundertätigen Bildes (cassecta delle elemosine dell’altare);

2den Messopfergaben (cassecta delle elymosine delle messe);

3den Einnahmen aus dem Kerzenverkauf (cassecta di chi vende le candele e lo sportello de’ mocholi);

4dem gebrauchten Wachs (cassone della cera vechia), das zur Wiederverwendung zurückgegeben wurde.91

U. U. konnte eine Auftrag gebende Kommune auch Sondersteuern oder -abgaben einführen, um den Bau der Kirche langfristig abzusichern, wie etwa beim Bau der Madonna dell’Umiltà in Pistoia.92

Bei der Verwaltung von Kult und Baustelle griff die Kommune bisweilen auf bewährte eigene Strukturen zurück. So spielten in Prato die Rektoren (spedalinghi) der beiden kommunalen Spitäler der Misericordia und des Dolce eine nicht unerhebliche Rolle. Sie gehörten gemeinsam mit den vier Operai seit dem 13. Mai 1485 zur Auswahlkommission, die den Entwurf für den Bau der Kirche bestimmte; im ersten giornale vom Oktober 1485 werden sie gar als Teil der Opera selbst aufgeführt.93 In der Misericordia befand sich überdies der cassettone, die Hauptkasse der Opera, in der die Einnahmen aus den verschiedenen Opferstöcken und aus dem Wachsverkauf gesammelt wurden; der Spedalingo der Misericordia fungierte also als Depositar der Opera.94 Sein Kollege vom Dolce hingegen, das in unmittelbarer Nähe der Carceri lag, amtierte als erster camerlengo della muraglia.95 Auch diese enge personelle Verflechtung bürgerlicher Institutionen ist kein Einzelfall, wie der erwähnte Fall in Crema mit der Madonna della Croce und dem Ospedale Maggiore zeigen kann.

Das Prozedere der Zahlungen ging in Prato so vor sich, dass der Kämmerer sich von den Operai ein stanziamento, eine geschriebene Zahlungsanweisung, beschaffen musste, dessen Nennbetrag ihm der Spedalingo ohne weitere Prüfung aushändigte, damit er die anfallenden Zahlungen an die Arbeiter ausführen konnte.96 Umgekehrt war das Verfahren an der Madonna del Massaccio in Spoleto: Hier erhielten die Bauleute vom Prior der Abtei S. Pietro, dem die Opera unterstellt war, ein bigliettino, das den Namen des Zahlungsempfängers, die Summe und den Zweck vermerkte, und wurden vom Kämmerer ausbezahlt.97

Der Camerlengo hatte in Prato drei Bücher zu führen: ein Giornale, in dem Tag für Tag alle Ausgaben in chronologisch fortlaufender Weise einzutragen waren; ein Buch Debitori e creditori, in dem Arbeitsleistung und gezahlte Summen für jeden einzelnen Auftragnehmer vermerkt wurden; schließlich ein Buch Entrata e uscita, das, thematisch gruppiert, die Ein- und Ausgänge auflistete.98 Zwischen den beiden letzteren und dem Journal wurde jeweils hin und her verwiesen, so dass jeder Eintrag schnell aufzufinden und nachzuweisen war. Jene sind nach dem Prinzip der doppelten Buchführung angelegt, das im Geschäfts- und Baurechnungswesen der Zeit bereits fest etabliert war.99

Als Architekt der Madonna delle Carceri wurde, offenbar auf Wunsch Lorenzo il Magnificos, Giuliano da Sangallo verpflichtet. Der Vertrag sah vor, dass Giuliano operas et industriam suam ut architectus et capomagister (seine Arbeit und seinen Fleiß als Architekt und Maurermeister) für den Bau der Kirche gemäß dem von ihm vorgelegten Modell zur Verfügung stellt; dieses Modell wurde in der Opera verwahrt.100 Sangallo war vertraglich gebunden, auf Wunsch der Operai nach Prato zu reisen; für jeden Tag, den er hier arbeitete, standen ihm 30 Soldi, ein Pferd sowie Spesen zu. Offenbar wollte man Verzögerungen durch Unklarheiten vermeiden, die bei Abwesenheit des Architekten nur allzu leicht auftreten konnten. In diesem Sinne ist auch zu verstehen, dass es Sangallo gestattet wurde, jeweils einen Maurer- und einen Steinmetzmeister seines Vertrauens auf der Baustelle zu installieren.101 Übrigens bezog sich der Vertrag ausschließlich auf den Bau der Kirche selbst, nicht auf den Entwurf, der tatsächlich erst nach Abschluss der Bauarbeiten abgegolten wurde, indem die Opera das Modell förmlich erwarb.102

Die Steinmetzarbeiten wurden im wesentlichen von Lorenzo di Salvadore und Giovanni di Betto, beide aus Settignano, durchgeführt, mit denen jeweils Werkverträge abgeschlossen wurden.103 Alle Holzarbeiten mussten hingegen gemäß dem Vertrag mit Sangallo bei diesem in Auftrag gegeben werden; Giuliano war ja seiner ursprünglichen Ausbildung nach eigentlich Schreiner. Die Lieferung der Hausteine für die architektonischen Ornamente sollte auf Wunsch des Magnifico aus den Steinbrüchen erfolgen, die seinem Verbündeten Benedetto degli Alessandri gehörten.104

2.2.4 Städtische Statuten und Bauvorschriften

Die Entstehung unabhängiger Stadtstaaten in Ober- und Mittelitalien im 11. und 12. Jahrhundert manifestierte sich auch in der Formulierung entsprechender städtischer Statuten. Dazu wurden vorhandene Gesetze, Gebote städtischer Organe oder Schwüre öffentlicher Würdenträger zusammengetragen und bestehende Rechte schriftlich festgehalten. Anfänglich waren die Statuten meist chronologisch nach dem Moment der Aufzeichnung geordnet. Doch der Aufschwung der Selbstverwaltung in den Städten führte bereits im 13. Jahrhundert dazu, die Statuten thematisch in einzelne Bücher zu gliedern.105 Die Statuten behandelten auch Fragen des Bauwesens. Dabei wird u. a. das damalige Erfahrungswissen um die Verhinderung von Feuern sichtbar. So gab es Verpflichtungen, hölzerne Vorbauten abzureißen und feuerfeste Baumaterialien zu verwenden. Über das Verbot von Strohdächern hinaus war es generell untersagt, in den Städten Heu zu lagern. Schornsteine mussten 1,20 m, bei Holzhäusern 3,60 m über das Dach hinausgeführt werden (Bestimmung aus Lucca aus dem Jahre 1342). Bemerkenswert ist die ebenfalls in Lucca geltende Regelung, die Zimmerleute, Steinmetze und Maurer verpflichtete, brennende Häuser noch im brennenden Zustand abzubrechen, um Nachbargebäude zu schützen. Andere baurelevante Themen in den Statuten waren die Höhe von Gebäuden, Abrissgebote für Portiken und Veranden, aber auch Abrissverbote. Ein für die Wissensgeschichte der Architektur besonders interessanter Bereich der Bauvorschriften betraf Standardisierung und Qualitätssicherung. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts wurden in Pisa und Siena die Ziegelformate genormt. Ziegel mussten nach einem im Rathaus aufbewahrten Modell hergestellt werden, das in Siena aus Gründen der Maßhaltigkeit aus Marmor gefertigt war. In manchen Orten waren die Modelle an der Fassade des Rathauses angebracht (Abb. 2.12.2). In Lucca waren darüber hinaus Qualität und Gehalt an Tonerde festgelegt (Bestimmung aus dem Jahre 1308). Zwei Aufseher überwachten diese Vorschrift.

Abb. 2.1: Ziegel- und Dachziegelmodelle am Rathaus von Assisi (Foto: M. Quast).

Abb. 2.1: Ziegel- und Dachziegelmodelle am Rathaus von Assisi (Foto: M. Quast).

Die Stadtstatuten sind ein das Mittelalter und die Neuzeit übergreifendes Phänomen. In Riva del Garda etwa wurden die 1451 aufgestellten Statuten bis 1637 ergänzend fortgeführt, in Rovereto wurden die Statuten von 1425 im Zeitraum von 1434 bis 1538 immer wieder ergänzt, die 1300 bzw. 1434 datierten Statuten von Portogruaro (Veneto) bis 1642.106 In der Toskana behielten die Gemeinden ihre Statuten auch unter der immer stärker werdenden Repubblica Fiorentina und unter den Medici bei. Um ihr ständig wachsendes Territorium zu kontrollieren, versuchten die Florentiner mit dem Statut von 1415 eine Modellgesetzgebung für das gesamte Territorium aufzustellen. Gleichzeitig wurden die Gemeinden angehalten, ihre Gesetzessammlungen auszubauen bzw. seit langem gültige lokale Regelungen zu verschriftlichen. Hier liegt die Vorstellung zugrunde, die Gemeinden könnten sich leichter von ihren alten Hauptstädten lösen, indem sie eigene Statuten aufstellten. Auch wenn Florenz dabei eigene Rechtsprinzipien nahelegte und Schlüsselpositionen in der Verwaltung mit Florentinern besetzte, so hatte es doch nicht die sovranità legislativa. Offenbar war es ein Prinzip, den Gemeinden Freiheit in administrativen Dingen zu gewähren, um im Gegenzug das uneingeschränkte politische Sagen im Territorium zu haben. Dieser Ansatz wurde spätestens in der Mitte des 18. Jahrhunderts obsolet. Pompeo Neri beschrieb in seinem discorso aus dem Jahre 1747 die unübersichtliche Rechtssituation im Granducato. Allein im territorio Fiorentino gab es über 500 verschiedene libri di statuti locali mit den jeweils über Jahrhunderte gemachten Ergänzungen.107 Was die kommunale Zersplitterung der Verwaltung für die Instandhaltung der Straßen bedeutete, wird auch am Beispiel der Maestri delle Strade in Rom deutlich (siehe unten Abschnitt 2.2.7), deren Zuständigkeit zehn Meilen vor den Stadtmauern endete. Einer Organisation, die hingegen die Überlandstraßen instand halten sollte und also per Definition einen territorialen Anspruch vertrat, mussten die lokalen Statuten natürlich hinderlich sein. Das ist der Fall für die Ufficiali di Torre bzw. die Parte Guelfa in der Repubblica Fiorentina bzw. dem Großherzogtum Toskana (siehe unten).

Abb. 2.2: Ziegel- und Dachziegelmodelle am Rathaus von Gubbio (Foto: M. Quast).

Abb. 2.2: Ziegel- und Dachziegelmodelle am Rathaus von Gubbio (Foto: M. Quast).

2.2.5 Capitolati, cottimo und andere bauspezifische Organisationsformen

Die gute Baukonjunktur in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die v. a. den Kirchenbau betraf, hatte – so berichtet Conforti – einen großen Einfluss auf die allgemeine Organisation des Bauwesens. Es kam jetzt mehr auf das realisierte Bauvolumen und die rasche Ausführung der Bauten an. Diese Tendenz ist in ganz Italien zu beobachten und wird exemplarisch deutlich an der Baupolitik Gregors XIII. (1572–85) und Sixtus’ V. (1585–90). Das führte zunächst zu einer weiteren Vertiefung der Arbeitsteilung am Bau. Gerade bei den langfristig angelegten Projekten, wie St. Peter (mit Einschränkungen, s. o.), der Munizione ducale in Ferrara, des Scrittorio delle fabbriche in Florenz oder der Mensa arcivescovile in Mailand differenzierten sich die Führungsstrukturen immer weiter aus. Wenn es um die Produktion von Masse geht, stehen v. a. ökonomische Aspekte im Vordergrund. So setzte sich auf den Baustellen die Bezahlung nach Akkord (cottimo) durch. Baumaßnahmen wurden in viele kleine Aufträge zersplittert, die dann versteigert bzw. an den günstigsten Bieter vergeben wurden (assegnazione all’incanto). Dass Qualität und Gleichmäßigkeit der Ausführung darunter litten, wurde billigend in Kauf genommen. Damit Aufträge all’incanto vergeben werden konnten, mussten die Arbeiten genau definiert werden: capitolati, d. h. Ausschreibungs- bzw. Vertragsunterlagen, bei denen die Bieter Preise pro Flächen- bzw. Volumeneinheit einzutragen hatten, wurden das Standardverfahren, das in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts voll entwickelt war und sich im 17. Jahrhundert flächendeckend verbreitete108 (zur Wirkung dieser Verfahren der Bauorganisation auf die Baustellen-Organisation und zu den sich gründenden Baufirmen [compagnie] vgl. Abschnitt 2.7.3).

In einer vergleichenden Untersuchung von römischen conti, capitolati und misure e stime bemerkt Cirielli, dass diese Dokumente jeweils gleichartig aufgebaut sind und vermutet, dass es im 17. Jahrhundert eine Art Referenztext gegeben hat. Aus wissenhistorischer Sicht kann dies bedeuten, dass ein capitolato vom anderen abgeschrieben und lediglich projektspezifisch angepasst wurde und sich auf diese Weise ein Standard herausbildete. Cirielli berichtet, dass die capitolati im konkreten Fall nicht allzu rigide eingesetzt wurden. Das vor Baubeginn erstellte capitolato hinderte die Bauleute im konkreten Fall keineswegs daran, darüber hinaus gehende Arbeiten während des Bauprozesses zu vereinbaren und preislich festzulegen. Beim Bau von Sant’Ivo in Rom verlangten die Auftragnehmer, die komplexen Gewölbe als muri di fattura straordinaria (Mauerwerk besonderer Machart) aus dem capitolato herauszulösen und nach stima dei periti abzurechnen.109 Der Architekt von Sant’Ivo, Francesco Borromini, war für seine Fertigkeiten in der Baurechnungsführung bereits zu Lebzeiten bekannt und gab sein Wissen an seinen Assistenten Francesco Righi weiter.110 Offenbar wurde Borrominis System vorbildlich. Anderenfalls wären nicht 100 Jahre später im Rahmen der Vorbereitungen für ein Traktat ganze Seiten aus Borrominis capitolato für das Collegio di Propaganda Fide wortwörtlich zitiert sowie Regesten der capitolati für das Oratorium der Filippiner und den Palazzo Falconieri erstellt worden. Das wahrscheinlich Salvatore Casali zuzuschreibende und ca. 1762 datierte Traktatmanuskript war Vorstufe für ein praktisches Handbuch für Bauleute und Architekten und umfasste u. a. auch eine Sammlung aller in Rom gültigen Baugesetze und Einheitspreise für Tischlerarbeiten, Dekorationselemente und andere Bauteile.111

2.2.6 Die Capitani di Parte Guelfa und die Ufficiali di Torre

Ein im vorliegenden Text bislang noch nicht behandelter Bereich des Bauwesens sind die Infrastrukturen, also Straßen, Wasserversorgung, Kanalisation, Festungsbau und Wasserwege. Die Instandhaltung der Straßen im Stato Fiorentino war bereits im 14. Jahrhundert institutionell organisiert. Aus dem Jahre 1318 datiert eine Aufteilung der Zuständigkeiten für die Instandhaltung der Straßen auf die Kirchengemeinden. Hinzu kam für Florenz und Umland das Statuto del Capitano del Popolo aus dem Jahre 1322. Die Zuständigkeit des Capitano erstreckte sich auf die Straßen, Brücken und Stadtmauern. Zehn der Straßen in der contrada di Firenze wurden vom Capitano als Hauptstraßen (strade maestre) klassifiziert und mit entsprechenden Wegsteinen als solche markiert. Sie mussten von der Bevölkerung der contrada instandgehalten werden. Bei Schäden an den strade maestre oblag es dem Capitano del Popolo, in Absprache mit dem Gonfaloniere und den Prioren eine Kommission zusammenzustellen, die auf Kosten der Gemeinde Florenz bei einem Ortstermin im Beisein des lokalen Bürgermeisters (rettore del popolo) die Schäden aufzunehmen sowie die erforderlichen Arbeiten festzulegen hatte, die von der betroffenen Gemeinde bei Geldstrafe innerhalb von zwei Monaten auszuführen waren. Die einfachen Straßen wurden vom Capitano direkt auf Kosten der Schadensverursacher frei- und instandgehalten. Das Statut des Capitano von 1322 wurde mit geringfügigen Veränderungen bis 1415 immer wieder neu aufgelegt.112 Auf Ebene der Repubblica Fiorentina wurden die Aufgaben ebenfalls professionalisiert. Die in den Jahren 1361/1364 neu gegründete Behörde der Ufficiali di Torre bzw. die ihnen unterstellten Straßeninspektoren (viai) übernahmen die Kontrolle und Verwaltung der Instandhaltung der Straßen, Brücken, Stadtmauern etc., aber auch die Verwaltung der von den Ghibellinen konfiszierten Bauten.113

Die Capitani di Parte Guelfa waren bereits ca. 1250 ins Leben gerufen worden und hatten zunächst die Aufgabe, die Ghibellinen sowie die Feinde der Repubblica Fiorentina zu verfolgen sowie die Festungsanlagen des Staates zu bauen und instandzuhalten. Ihre Kompetenzen überschnitten sich mit denen der Ufficiali di Torre hinsichtlich der Verwaltung des beschlagnahmten Ghibellinenbesitzes. Seit dem 15. Jahrhundert wurden der Parte mehr und mehr technikorientierte Institutionen einverleibt: Im Jahre 1419 die Ufficiali delle Castella di Firenze; 1459 die Sei di Arezzo; 1481 die Consoli del Mare und schließlich 1533 die Massai di Camera. Dadurch entstand eine bis auf Pisa und Siena den gesamten Stato Fiorentino umfassende Baubehörde. Per Gesetz vom 18. September 1549 wurden Parte und Ufficiali di Torre unter dem Namen Capitani di Parte Guelfa zusammengelegt. Von den zehn capitani, die den höchsten sozialen Schichten entstammten, wurden sieben vom Großherzog bestimmt, drei kamen aus dem Umfeld der ehemaligen Ufficiali di Torre.114 Die den Capitani di Parte Guelfa unterstellten capomaestri,115 Ingenieure und Architekten bildeten mit ihrem Fachwissen den Kern der Behörde. Sie erstellten Gutachten, nahmen Ortstermine wahr und schlichteten Streitigkeiten zwischen Privatpersonen. Wichtigste Aufgabe war aber, Arbeiten an Wasserwegen, Stadtmauern, Straßen und Brücken oder die Trockenlegung von Sümpfen und die Beseitigung von Hochwasserschäden zu planen und ihre Ausführung zu überwachen. Im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts ging es zum Beispiel oft darum, die Straßen und Brücken an den aufkommenden Kutschen- und Wagenverkehr anzupassen. Gleichzeitig erforderte ein wachsendes Hygienebewusstsein viele Arbeiten an den Abwassersystemen.116 Für die Parte arbeiteten zahlreiche bekannte Architekten und Ingenieure. Fest inkorporiert als Oberaufseher aller zivilen und militärischen Bauten des Großherzogtums war Bernardo Buontalenti (1523–1608). Er errichtete die Villa in Pratolino, realisierte Flussbegradigungen und baute den Ponte alle Mosse über den Arno. Bartolomeo Ammannati (1511–1592) hingegen bekam Einzelaufträge, u. a. Gutachten zum Abwassersystem des Palazzo Pitti und zu Schäden am Ponte della Trìnita. Giovanni Caccini war ebenfalls in die Behörde inkorporiert und machte vor allem Gutachten zu Wasserbaufragen. In einem Fall ging es um den Bau eines schiffbaren Kanals in Santuccio, in einem anderen um ephemere Bauten für den Besuch von Johanna von Österreich.

Grundlage der administrativen Tätigkeit war die Dokumentation der Straßen. Während sich die Ufficiali di Torre im 14. Jahrhundert geschriebener Verzeichnisse bedienten, in denen die Straßenabschnitte, für die die einzelnen Kirchengemeinden zuständig waren, genau vermessen und beschrieben waren, wurden diese beschreibenden Informationen ab 1461 durch ein Kartenwerk ergänzt. Der Kartensatz wurde bis 1576 laufend annotiert und aktualisiert und blieb offenbar auch nach dem neuen censimento aus den Jahren 1580–95 (Abb. 2.3) weiter gültig, zumal 1664 eine Kopie des älteren Kartensatzes angefertigt wurde.117 In den schematischen, also nicht topographisch genauen Karten wurden alle Straßen dargestellt. Ausgehend von den Kreuzungen wurden die genauen Längen derjenigen Straßenabschnitte in braccia eingetragen, die von der jeweiligen Gemeinde instandzuhalten waren. Hinzu kamen die Beschreibungen der Straßen.

Ein Dauerproblem der Parte und ihrer Vorgängerinstitutionen seit dem 14. Jahrhundert bis zur Auflösung der Parte im 18. Jahrhundert war es, die Gemeinden dazu zu zwingen, ihren Instandhaltungspflichten nachzukommen. So wurden die Straßeninspektoren im 14. und 15. Jahrhundert regelmäßig bestochen, bis die Ufficiali di Torre sich schließlich gezwungen sahen, in den Jahren 1459–61 in einem Kraftakt die erforderlichen Straßenbauarbeiten direkt auszuführen und den jeweiligen Gemeinden in Rechnung zu stellen. Aber auch in den Jahrzehnten danach und im 16. Jahrhundert kamen die Gemeinden ihren Instandhaltungspflichten nicht nach. Daraufhin wurden die Zuständigkeiten ab 1574 umgeschichtet. Zwei der capomaestri der Parte wurden zu Ufficiali dei fiumi ernannt. Sie hatten auch die Zuständigkeit für die Straßen, wurden besser bezahlt und bekamen Tagegeld auf Inspektionsreisen. 1578 wurde für den Stato Fiorentino (ohne Pisa, Siena und Pistoia) zudem eine neue Regelung für die Straßeninstandhaltung erlassen. Entscheidendes neues Prinzip war es, dass die Podestà, also die Bürgermeister der Städte und ihres Umlandes, als Zwischenebene zwischen Ufficiali dei fiumi einerseits und den Gemeinden/Kirchengemeinden andererseits eingeschaltet wurden. Die Podestà bekamen in diesem Zusammenhang eine rein administrative Aufgabe, leiteten Informationen, Anordnungen, Sanktionen bzw. Listen der bei der Ausführung von Instandhaltungsarbeiten abwesenden Gemeindemitglieder von der einen zur anderen Seite weiter und trugen alle Transaktionen in das öffentlich einsehbare libro delle strade e ponti ein. Auf diese Weise sorgten die Podestà dafür, dass sich Ufficiali dei fiumi und Gemeindevertreter nicht direkt begegneten und Bestechung schwierig war.118 Das Prinzip, die Bevölkerung vor Ort zu verpflichten, die Straßenarbeiten zum Teil selbst auszuführen, erwies sich aus zweierlei Gründen als sinnvoll: Zum einen war der größte Teil der Arbeiten die Bewegung von Erdreich, wofür keine speziellen Kenntnisse erforderlich waren; zum anderen wäre das Entsenden von entsprechend vielen Handwerkern, Fuhrwerken etc. in oft entlegene Gebiete nicht finanzierbar gewesen.

Der Bau von Erdfestungen mit gemauerten Kurtinen war ganz ähnlich organisiert. Diese Bauweise hatte ihren Höhepunkt unter Cosimo I (1537–1574), der die Fortifikation des Großherzogtums stark vorantrieb. In diesem Jahren wurde auch das Wissen um den Bau von Erdfestungen – von den technischen Angaben bis hin zur Organisation des Personals – in einem Traktat festgehalten, das (wohl aus strategischen Gründen) nicht veröffentlicht wurde, aber den Ingenieuren der Parte freilich sehr wohl bekannt war. Nicht weniger als 200 bis 250 Erdarbeiter (marraioli), die aus der lokalen Bevölkerung arbeitsverpflichtet wurden, kamen dabei im Idealfall auf einen gelernten Maurer119. Dennoch unterscheidet sich die Organisation des Straßenbaus von der des Festungsbaus insofern, als nur im ersteren Fall auch die Kosten für erforderliche Handwerker auf die Gemeinde umgelegt werden konnten, etwa indem auf den 1539 von Cosimo I eingeführten Zoll auf Arbeitstiere zurückgegriffen wurde. Zudem hatte Cosimo I im Jahre 1545 Steuerzuschläge auf die massa delle spese universali und auf den Zehnten eingeführt, um die Finanzierung der Arbeiten sicherzustellen.120

Bolognese 11.568
Firenze – Faenza 2.478
Firenze – Terra del Sole 7.168
Maestra del Mugello 4.623
Valtiberina 1.761
Maestra del Casentino 4.442
Maestra del Valdarno sup. 8.295
Volterrane 7.542
Pisana 6.659
Empolese 925
Romana 4.685
Firenze – Pistoia 2.511
di Firenze 1.381

Tab. 2.1: Kosten für Straßenbau und -instandhaltung im Zeitraum 1587–1608, Angaben in Scudi. Quelle: Gallerani and Guidi 1976, 329.

Tab. 2.1: Kosten für Straßenbau und -instandhaltung im Zeitraum 1587–1608, Angaben in Scudi. Quelle: Gallerani and Guidi 1976, 329.

Abb. 2.3: Parte Guelfa, Karte der Straßen, für deren Instandhaltung die Gemeinde von ‚S. Iacopo a la Zambuca‘ (Sambuca) verpflichtet war und strada maestra (im Bild dunkelgrau), 1580–1595 (© Archivio di Stato di Firenze, Regalia del Principato, vol. 1, c.178, mit Erlaubnis des Ministero dei Beni e delle Attività culturali e del Turismo, Reproduktion nicht gestattet).

Abb. 2.3: Parte Guelfa, Karte der Straßen, für deren Instandhaltung die Gemeinde von ‚S. Iacopo a la Zambuca‘ (Sambuca) verpflichtet war und strada maestra (im Bild dunkelgrau), 1580–1595 (© Archivio di Stato di Firenze, Regalia del Principato, vol. 1, c.178, mit Erlaubnis des Ministero dei Beni e delle Attività culturali e del Turismo, Reproduktion nicht gestattet).

Zu den konkret ausgeführten Straßenbauarbeiten gibt es für das 13. und 14. Jahrhundert praktisch keine Quellen, da die Aufzeichnungen der Ufficiali di Torre und der Parte Guelfa (s. u.) durch einen Brand 1566 zum großen Teil verloren gegangen sind. Ab dem späteren 16. Jahrhundert und insbesondere für die Regierungszeiten von Francesco I (1574–87) und Ferdinando I (1587–1609) lässt sich hingegen nachvollziehen, wie die Bauarbeiten im Einzelnen durchgeführt wurden und welche Arbeitsteilung angestrebt wurde.121 Im Jahre 1582 wurden etwa Maurer und Handlanger für Arbeiten an der Straße zwischen Florenz und Siena bezahlt. Der capomastro Lorenzo Vestrucci schlug der Gemeinde Settignano in einem Gutachten vor, ein schadhaftes Straßenpflaster per mano di buono maestro reparieren zu lassen. Für Straßenpflasterungen, die auf Hauptstraßen die Regel waren, wurden in der Regel Handwerker bezahlt. Tabelle 2.1 zeigt – gegliedert nach Regionen – die Kosten für Straßenbau und -instandhaltung während der Regentschaft Ferdinands I (1587–1608). Es wird deutlich, welche Kosten die über Land führenden Hauptstraßen (z. B. ganz oben die Straße nach Bologna) im Vergleich zu innerstädtischen Straßen (ganz unten Florenz) verursachten.122 Die Straße bei Nipozzano wurde zu Zeiten Francescos I für 500 Scudi repariert. Sie musste aufgrund eines Erdrutsches neu trassiert werden. Über die Arbeit der Bauern hinaus (oltre all’opere de’ chontadini) war die Errichtung von Stützmauern und die Beseitigung von Unebenheiten erforderlich, für die ganz offenbar Fachleute bezahlt wurden.123 Im Jahre 1577 hatte ein Erdrutsch ein 230 m langes Stück der Hauptstraße Florenz – Bologna zwischen Raticosa und Filigare, d. h. an der Grenze zwischen beiden Territorien, zerstört. Die Straße war zunächst auf Kosten des Vicariato in Firenzuola notdürftig passierbar gemacht worden und sollte nach Vorstellungen des Großherzogs bzw. der Parte Guelfa auf einer Länge von 780 m neu trassiert werden (Abb. 2.4). Die Bologneser erzwangen jedoch die Reparatur der Straße an gleicher Stelle, um das Rasthaus in Scaricalasino zu erhalten.124 In der Romagna Fiorentina war die Situation der Straßen aufgrund der vielen Gebirgszüge besonders prekär. Hinzu kam, so wird der capomastro Vestrucci zitiert, dass den Bauern vor Ort sowohl der Willen wie auch die Fähigkeit fehle, Felsen abzuarbeiten und Stützmauern zu errichten. Hier wäre es erforderlich, so der capomaestro weiter, Fachleute zu bezahlen. Brückenreparaturen ließen sich hingegen ausschließlich mit Fachleuten machen. So kostete die Reparatur dreier Holzbrücken in der Romagna Fiorentina in den Jahren 1581–82 nicht weniger als 250 Scudi.125

Aus dem 17. Jahrhundert sind eine Reihe von Mitgliedern der Parte Guelfa bekannt, u. a. der Festungsbauingenieur Jacopo Ramponi und der Ingenieur Giuliano Ciaccheri (1644–1705). Ciaccheri betreute die Restaurierung des Palazzo di Fraternità in Arezzo und überwachte Bauarbeiten, Verträge und Bücher. Im Jahre 1685 entwarf er gemeinsam mit Francesco Coralli die Dekoration der Medici-Kapelle in Lappeggio und überwachte die Ausführung. Er plante den Palazzo Monte di Pietà in Arezzo (1701) und die Brücke am Romito (1703).126 Einer der bedeutendsten Ingenieure der Parte im 17. Jahrhundert war jedoch der Hofmathematiker Vincenzo Viviani (1622–1703). Sehr gut aufgearbeitet ist seine Rolle bei der Diskussion um die Reparatur der Florentiner Domkuppel in den Jahren 1694–97.127 Als Organisation überlebte sich die Parte Guelfa jedoch zunehmend und nachweislich ab dem 18. Jahrhundert kam es immer öfter vor – so klagte der Ingenieur Bartolomeo Vanni (1662–1732) – dass die Ingenieure korrupt waren und in die eigene Tasche wirtschafteten oder Aufträge nach Gutdünken verteilen. Baumaßnahmen überstiegen oftmals erheblich den Kostenrahmen oder wurden in Einzelfällen gar nicht ausgeführt. Im Jahre 1769 wurde die Parte Guelfa aufgehoben.128

Ein anderes Beispiel für eine Aufsicht führende Baubehörde sind die für die städtebauliche Entwicklung Roms zuständigen Maestri delle Strade. Diese waren nicht nur eine Verwaltungsbehörde, sondern dienten den Päpsten zur Durchsetzung ihrer jeweiligen Stadtentwicklungspolitik, die die Rolle der Stadt als Zentrum der katholischen Christenheit ästhetisch unterstreichen sollte.

Abb. 2.4: Darstellung des Erdrutsches zwischen Raticosa und Filigare auf der Straße Florenz-Bologna, 1577. (© Archivio di Stato di Firenze, Archivio dei Capitani di Parte Guelfa, Rapporti e Relazioni, mit Erlaubnis des Ministero dei Beni e delle Attività culturali e del Turismo, Reproduktion nicht gestattet).

Abb. 2.4: Darstellung des Erdrutsches zwischen Raticosa und Filigare auf der Straße Florenz-Bologna, 1577. (© Archivio di Stato di Firenze, Archivio dei Capitani di Parte Guelfa, Rapporti e Relazioni, mit Erlaubnis des Ministero dei Beni e delle Attività culturali e del Turismo, Reproduktion nicht gestattet).

2.2.7 Maestri delle Strade, Rom

Die römische Institution der Maestri delle Strade ist bereits im 13. und 14. Jahrhundert dokumentiert und hat ihre Wurzeln in der Stadtverwaltung des antiken Rom. Aufgabe der Maestri war es, Streitigkeiten in Bau-, Grundstücks- und Wegerechtsfragen zu schlichten. Die Maestri hatten Jurisdiktion und wurden aktiv, sobald eine Anzeige von Privatleuten vorlag. Mit dem Statuto cittadino von 1363 erhielten die Maestri auch die Aufgabe, die öffentlichen Bereiche der Stadt und die Infrastrukturen zu pflegen und zu beaufsichtigen. Aber erst im Laufe des 15. Jahrhunderts begannen die technischen und administrativen Aufgaben zu überwiegen:129 Das regellose Wachstum der Stadt sollte gesteuert und den öffentlichen Belangen das gebotene Gewicht verschafft werden. Im Jahre 1410 wurden die vermutlich schon zuvor praktizierten Regeln im Statut der Magistri aedificorum urbis schriftlich festgehalten.130 Die Maestri erteilten Baugenehmigungen (licenze) und behielten die Jurisdiktion in Bausachen sowie die Aufgabe, sich um die Instandhaltung der öffentlichen Infrastruktur zu kümmern. Dazu zählten die städtischen Straßen bis zehn Meilen vor der Stadtmauer, die Stadtmauer selbst, die Triumphbögen, die Brücken, die Brunnen, die Wasserleitungen und die Stadtreinigung. Darüber hinaus definierte das Statut die Ämter des Sottomaestro, des Assessors und des Notars, die den Maestri zugeordnet waren. Die Instandhaltungskosten für die Abwasserleitungen konnten auf die Anwohner umgelegt werden. Diese Regelung wurde in den folgenden Jahrzehnten auch für die Pflasterung der Straßen angewandt. Das Statut schloss eine Bezahlung der Maestri explizit aus, sprach ihnen aber gleichzeitig die Hälfte der von ihnen verhängten Strafen sowie einen Prozentsatz aus jedem verhandelten Prozess zu.131

Im Laufe des 15. Jahrhunderts gelangten die Maestri unter die Kontrolle des Papsttums, das sich seit Martin V. wieder in Rom etablierte. Mit einer Bulle aus dem Jahre 1425 änderte Martin V. zwar nichts Grundsätzliches am bestehenden Statut, behielt sich aber die Ernennung der beiden Maestri delle Strade vor.132 Im Jahre 1452 wurden unter Nikolaus V. die Statuten für die Maestri delle Strade überarbeitet. Die Dauer eines Mandats wurde auf ein Jahr festgelegt. Der Camera Apostolica stand jetzt die Hälfte und den Maestri sowie Anklägern jeweils ein Viertel der Strafzahlungen zu. Die Maestri mussten über ihre Amtshandlungen Buch führen. Ihr Zuständigkeitsbereich änderte sich nicht.133 Der Wunsch der Päpste, Rom zu einer Stadt umzuformen, die den universalen Anspruch des Christentums als Religion zum Ausdruck brächte, machte es erforderlich, die Maestri nicht nur wirkungsvoll zu kontrollieren, sondern sie als Hebel päpstlicher Stadtentwicklungspolitik zu verstehen. Solange die Maestri aber ihre finanzielle Unabhängigkeit bewahren konnten und weiterhin offiziell Teil der Kommunalverwaltung waren, gelang diese Kontrolle nicht in jedem Fall. Während Nikolaus V. sich im Jahre 1452 mit seiner Aufforderung an die Maestri, den Abriss aller Portiken und Vorbauten der Häuser durchzuführen und den Straßen ihren ursprünglichen Querschnitt wiederzugeben, durchsetzen konnte, sah sich Pius II. gezwungen, den Maestri noch einmal ausdrücklich zu verbieten, private Bauvorhaben auf öffentlichem Grund zu erlauben.134

Sixtus IV. gelang es dann, die Maestri zu kontrollieren, indem er ihnen jährlich 200 Fiorini d’Oro Gehalt zahlte und sie dem päpstlichen Camerlengo unterstellte. Um das Bauprogramm Sixtus’ umzusetzen, erhielten die Maestri im Jahre 1480 das Recht, Enteignungen und Abrisse vorzunehmen, wenn diese im öffentlichen Interesse lagen. Häuser, die für scomodi, also für unbequem erklärt wurden, konnten zu einem von den Maestri festgelegten „gerechten und angemessenen Preis“ (giusto e ragionevole) gekauft und abgerissen bzw. umgebaut werden. Aus der Gruppe möglicher Käufer wurde derjenige ausgewählt, dessen Bauvorhaben rasch umgesetzt werden und zum Dekor der Stadt am meisten beitragen konnte. Gleichzeitig wurden Strafen festgelegt, die bei Bauverzögerung fällig wurden. Bei den zahllosen Grundstücksgeschäften, die nach 1480 unter Vermittlung der Maestri zustande kamen, wurden diese ihrer Aufgabe entsprechend als commissarii specialiter deputati pro ornatu alme urbis (Sonderkommissare, die für das Dekor der ‚gütigen Stadt‘ [Rom] zuständig sind) bezeichnet.135 Unter Leo X. wurde die Magistratura delle Strade offiziell an die Gemeinde Rom zurückgegeben. Dies hatte aber keinerlei Auswirkungen auf die Entscheidungsgewalt des Papstes. Während dieser festlegte, in welche Richtung sich die Stadt entwickeln sollte, bildeten die Maestri delle Strade die Exekutive.136 Seit Pius V. wurden jeweils zwei römische Patrizier zur Kontrolle der Finanzen der Magistratura delle Strade eingesetzt (motu proprio 1559). Beschwerden über die Einführung illegitimer Extrasteuern durch die Maestri hatten diesen Schritt erforderlich gemacht.137

Ab dem Jahre 1425 sind die Namen der Maestri delle Strade beinahe lückenlos bekannt.138 Viele der Maestri waren für ein Jahr im Amt, mehrfach wurden dieselben Personen aber bis zu drei mal hintereinander wieder eingesetzt und kehrten bisweilen nach einigen Jahren Unterbrechung erneut in das Amt zurück. Während – zumindest im 17. und 18. Jahrhundert – die Maestri selbst den höchsten sozialen Schichten Roms entstammten, waren die Sottomaestri oft Baufachleute.139 Im Jahre 1646 bekleideten unter anderem Francesco Borromini, Girolamo Rainaldi, Giovanni Battista Soria, Giovanni Antonio de Rossi und Vincenzo della Greca, also teils bedeutende römische Architekten das Amt von Sottomaestri140. Auch Alessandro Specchi (1702–28), Domenico Gregorini (1713–14) und Ferdinando Fuga (ab 1740) waren als Sottomaestri delle Strade tätig.141

Aus dem 17. Jahrhundert haben sich zwei Libri litterarum patentium mit Aufzeichnungen der Maestri delle Strade im Archiv der Doria Pamphilj erhalten, die einen Einblick in die Arbeit der Institution in den Jahren 1641–1655 geben.142 Schon die Durchsicht dieser Quellen zeigt, dass jeder Umbau eines Gebäudes, der eine Veränderung des physischen Erscheinungsbildes der Stadt bedeutete, einer Genehmigung bedurfte. In den Büchern wurde für komplexe Fälle zudem skizzenhaft festgehalten, wofür eine Genehmigung beantragt bzw. erteilt wurde. Die Vorgänge reichen von der Errichtung von Strebepfeilern im Straßenraum, der Überbauung von Gassen oder der Errichtung von Zugangstreppen zu Kirchen im öffentlichen Straßenraum, bis zur Beseitigung von Rücksprüngen bzw. der Begradigung von Palastfassaden. Letztere Maßnahmen bedeuteten für den Bauherrn einen Raumgewinn im Palastinneren und bereicherten gleichzeitig den Stadtraum um eine weitere repräsentative Fassade.

2.3 Bauplanung und Entwurf: Grundsätzliches

Planung ist die gedankliche Vorwegnahme von Handlungsschritten, die zur Erreichung eines Zieles, in diesem Fall der Errichtung eines Bauwerks, notwendig scheinen. Dabei wird bedacht, mit welchen Mitteln das Ziel erreicht werden kann, wie diese Mittel verwendet werden können, und wie man das Erreichte nachprüfen kann. Der hier eingeführte Abschnitt ist „Bauplanung und Entwurf“ betitelt. Es gilt zunächst, zwischen beiden Begriffen zu unterscheiden. Unter „Entwurf“ versteht der vorliegende Text die Festlegung von Form, funktionaler bzw. räumlicher Aufteilung und die Benennung konstruktiver Grundprinzipien eines zu errichtenden Gebäudes. Wie es in der Frühen Neuzeit in der Regel der Fall ist, kann der Entwurf in maßstäblichen Zeichnungen oder Modellen festgehalten werden (siehe Abschnitt 2.7.1 und 2.7.2). In der Frühen Neuzeit überschneidet sich der hier verwendete Begriff „Entwurf“ weitgehend mit dem ab dem 16. Jahrhundert im damaligen Italien verwendeten Begriff des disegno. Disegno bezeichnet die Konzeption eines Kunstwerks (Gemälde, Skulptur, Architektur) mit dem Mittel der Zeichnung.143 Dabei geht es allein um die Konzeption des Bauwerks, nicht jedoch um die Vorbereitung seiner Realisierung. Der weiter gefasste Begriff „Bauplanung“ hingegen beschreibt neben dem Entwurf auch die Vorbereitung der Baustelle, die Beschaffung der notwendigen Baumaterialien bzw. die Organisation ihrer Herstellung und die Beauftragung von Bauleuten auf der Grundlage von konkreten Vorüberlegungen zu Konstruktion und Material des Gebäudes. Während diese Aspekte in den Abschnitten 2.2, 2.7, 2.8 und 2.9 des vorliegenden Kapitels Beachtung finden, geht es im hier eingeleiteten Abschnitt in erster Linie um den Entwurf. Die Unterscheidung von Entwurf und Bauplanung entspricht in dieser Klarheit zwar nicht immer der frühneuzeitlichen Baupraxis, ist für die Frühe Neuzeit in Italien aber dennoch sinnvoll, zumal es dort ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit der Accademia del Disegno in Florenz und der Accademia di San Luca in Rom Institutionen gab, die die Ausbildung von Künstlern und Architekten im Entwerfen übernahmen. Das Erlernen der übrigen Planungsaufgaben hingegen erfolgte nicht in den Akademien, sondern in der Künstlerwerkstatt bzw. (für Architekten) auf der Baustelle und im Büro (studio) eines erfahrenen Architekten.

Abb. 2.5: Straßengeviert an der Via Ripetta in Rom, ab 1513 bebaut (Archivio di Stato di Roma, Fondo Ospedale di San Giacomo, Bd. 1500, fol. 121v–122r; mit Erlaubnis des Ministero dei Beni e le Attività Culturali, ASR 39/2014; Reproduktion nicht gestattet).

Abb. 2.5: Straßengeviert an der Via Ripetta in Rom, ab 1513 bebaut (Archivio di Stato di Roma, Fondo Ospedale di San Giacomo, Bd. 1500, fol. 121v–122r; mit Erlaubnis des Ministero dei Beni e le Attività Culturali, ASR 39/2014; Reproduktion nicht gestattet).

Die Konzentration des Textes auf die Qualifikation und die Entwurfsausbildung der Architekten darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Praxis ein großer Teil der Bauten von Personen ohne Schulung in Entwurfsfragen entwickelt wurde. Diese Personen trafen nicht nur Entscheidungen hinsichtlich der Wahl der Bautechniken und der Vorbereitung der Baustelle (Planung im weiteren Sinne), sondern legten auch Form, Bautyp und die räumliche Konzeption der Bauten fest (Entwurf). Ein Beispiel dafür mag der Neubau einfacher Stadthäuser im Rom der Renaissance sein.144 Die Häuser im Umfeld der Via Ripetta wurden ab 1510 neu errichtet.145 Das Ospedale di San Giacomo vergab die Grundstücke in Erbpacht mit der Verpflichtung für die Pächter, ein Gebäude zu errichten (Abb. 2.5). Auch wenn die Bauten wenigen etablierten Typologien folgen,146 wird deutlich, dass jedem einzelnen Bau trotz Planung durch ungeschulte Personen ein Entwurfsprozess zugrunde liegt: Es wurde jeweils planvoll mit Grundstückstiefen umgegangen, die Belichtung der einzelnen Baukörper wurde wohl überlegt. Mauerstärken und Raumgrößen wiederholen sich. Ihre Wahl wurde offenbar von funktionalen und konstruktiven, d. h. am Ende ökonomischen Überlegungen geleitet.

Ein ganz anderes Feld der Planung ohne Architekten erschließt die Hausväterliteratur, zu der Torsten Meyer im vorliegenden Band ein Kapitel („Fokus: Bauherrenwissen in der Hausväterliteratur“) beigetragen hat. Dabei wird ebenfalls deutlich, dass Entwurf und Bauplanung nicht immer nur eine Sache von Fachleuten, sondern auch die von gebildeten Laien war. Ein Beispiel dafür sind die Angehörigen des niederen Adels, die ihre Güter zu verwalten hatten. Dazu gehörte auch das Errichten von entsprechenden Bauten.

2.4 Architekten: Vorbild, ‚Antike‘ und institutionelles Umfeld

2.4.1 Erforschung der Antike als Selbstausbildung der Architekten im 15. und frühen 16. Jahrhundert

Mit dem ausgehenden 14. Jahrhundert war ein qualitativ neues Interesse für die Architektur der Antike zu beobachten,147 verbunden mit dem Wunsch, die antiken Bautypologien, Proportionen und Gliederungssysteme, also den formensprachlichen Charakter der Architektur der Antike zum Vorbild für neue Bauten zu machen. Mit dem Paradigma ,Antike‘ wurde auch die Figur des Architekten wieder vorbildlich, dem theoretisch wie praktisch in zahlreichen Fächern ausgebildeten Kulturmenschen, wie Vitruv ihn beschreibt (Tabelle 2.2). Leon Battista Alberti (1404–1472) ist in diesem Punkt pragmatischer und sieht die Qualifikation des Architekten nicht in der perfekten Beherrschung vieler Disziplinen. Alberti hebt die Bedeutung des Zeichnens und des Modellbaus hervor, die unabdingbar sind, will man die Qualität einer geplanten Architektur bereits im Vorfeld der Realisierung bewerten können. Kenntnisse der Malerei und der Mathematik hält aber auch Alberti für entscheidend. Er forderte zudem, der Architekt solle Bauten studieren und eine Sammlung entsprechender Nachzeichnungen anlegen.148 Wer im 15. und 16. Jahrhundert Bauten konzipieren und errichten, also sich als Architekt betätigen wollte, war aufgefordert, sich theoretisch mit Architektur zu beschäftigen und Vitruv und die antiken Bauten und Ruinen zu studieren. Die humanistischen Fürsten und Päpste bedienten sich gern dieser an der Antike geschulten Architekten. Francesco di Giorgio wurde 1477 von Federico da Montefeltro nach Urbino gerufen – und sicher nicht zuletzt, weil er höchstwahrscheinlich im Zeitraum 1460–1470 in Rom die antike Architektur studiert hatte. Auch Giuliano da Sangallos Erfolg als Architekt von Lorenzo Il Magnifico in Florenz erklärt sich wesentlich aus seinem lebenslangen Interesse für antike Architektur.

Vitruv/Barbaro (1567) Ligorio (1553)
1. ‚Lettere‘ (Grammatica)
2. ‚Disegno‘ ‚Sculpire‘ ‚Dipingere‘ ‚Inventioni proportionabili‘
3. ‚Geometria‘ ‚Semetria‘ (Simmetria o Geometria?)
4. ‚Prospettiva‘ (Ottica) ‚Prospettrica‘
5. ‚Aritmetica‘ ‚Eremetrica‘ ‚Matematica‘
6. ‚Storia‘ ‚Historia‘
7. ‚Filosofia‘ ‚Philosophia‘ ‚Moralità‘
8. ‚Phisiologia‘
9. ‚Musica‘ ‚Hydraulica‘ ‚Musica‘
10. ‚Medicina‘ ‚Medicina‘
11. ‚Leggi‘ (Diritto)
12. ‚Ragioni del cielo e delle stelle‘ (Astronomia) ‚Astronomia‘ ‚Cosmographia‘
13. … ‚Geografia‘ ‚Topographia‘

Tab. 2.2: Disziplinen der Architekturausbildung. Quelle: Madonna 1980, 262.

Tab. 2.2: Disziplinen der Architekturausbildung. Quelle: Madonna 1980, 262.

Das Studium der antiken Kultur im weitesten Sinne und auch der antiken Architektur war ab dem späten 14. Jahrhundert von Florentiner Humanisten begonnen worden.149 Die ältesten erhaltenen Bauaufnahmen antiker Monumente in Griechenland, Kleinasien und Rom stammen von Ciriaco von Ancona und entstanden ab 1426.150Die am Studium der Antike Interessierten schlossen sich nach dem Vorbild der platonischen Akademie in Athen zu lockeren Gelehrten- und Künstlerzirkeln zusammen, die ab ca. 1450 den Namen Akademie annahmen.151 Im Zusammenhang mit dem Bauwesen besonders zu erwähnen sind der Zirkel, der sich im Hause des Kardinals Girolamo Riario in Rom traf und der 1486 die erste Neuauflage des antiken Vitruvtextes herausgab,152 sowie die römische Accademia Vitruviana, die in zwei Schaffensperioden (1534–1539 und 1541–1545) aktiv war. Entscheidende Persönlichkeit war Claudio Tolomei. Guillaume Philandriers Vitruvkommentar (1544) und seine neue lateinische Vitruvausgabe (1552) sowie Bartolomeo Marlianis Urbis Romae Topographia (1544) sind vermutlich als Ergebnisse der Arbeit der Akademie zu werten.153 Jacopo Barozzi da Vignola machte von 1537–1539 Bauaufnahmen für die Akademiker und bildete sich auf diese Weise zum Teil selbst zum Architekten aus. Philibert de l’Orme hatte bei seinem Studienaufenthalt in Rom 1533–1536 nachweislich Kontakt zur Akademie.154

Abb. 2.6: Sebastiano Serlio, Kolosseum in Rom, Fassadenaufriss und Details, aus dem 3. Buch des Architekturtraktats, Serlio 1540, LXIX, Bibliotheca Hertziana.

Abb. 2.6: Sebastiano Serlio, Kolosseum in Rom, Fassadenaufriss und Details, aus dem 3. Buch des Architekturtraktats, Serlio 1540, LXIX, Bibliotheca Hertziana.

Abb. 2.7: Sebastiano Serlio, Säulenordnungen, aus dem 4. Buch des Architekturtraktats (Serlio 1537, VI r, Bibliotheca Hertziana).

Abb. 2.7: Sebastiano Serlio, Säulenordnungen, aus dem 4. Buch des Architekturtraktats (Serlio 1537, VI r, Bibliotheca Hertziana).

Die Studien der antiken Architektur bauten aufeinander auf. Raffael nutzte für das Projekt, einen Plan des antiken Rom in seiner Gesamtheit zu erstellen, Bauaufnahmen, die Giuliano da Sangallo 1513/15 für Papst Leo X. gemacht hatte, und ließ von Baldassarre Peruzzi und Antonio da Sangallo dem Jüngeren 1518/20 weitere Aufnahmen machen. Raffaels Tod (1520) beendete das Projekt. Sebastiano Serlios drittes Buch (1540) ist dann die erste zusammenhängende systematische Veröffentlichung antiker Bauten. Sie vereinigt – wenn auch nicht vollständig, wie damals bereits bemängelt wurde – die soeben benannten Bauaufnahmen sowie Vermessungen, die Serlio selbst erstellt hatte (Abb. 2.6). Palladio griff für seine Beschreibung der antiken Bauten, d. h. für das vierte Buch seines Architekturtraktats aus dem Jahre 1570, wiederum auf die graphische Sammlung Serlios sowie auf Bauaufnahmen Labaccos zurück.155 Mit diesen Publikationen waren einerseits die Gestaltungsprinzipien für Bauwerke lehrbar geworden;156 andererseits hatten sich das Antikenstudium und im weiteren Sinne die aktive theoretische Auseinandersetzung mit der Architektur sichtbar etabliert. Ziel des Studiums der antiken Bauten und Ruinen und des Studiums des Vitruvtraktats war es, die Prinzipien der römisch-antiken Architektur (Morphologie und Proportionssysteme) herauszukristallisieren, zu systematisieren und damit für den Entwurf neuer Bauten all’antica zur Verfügung zu haben. Entscheidend wurden dabei die Säulenordnungen, in denen die Renaissance-Architekten die Essenz antiker Formensprache erkannten. Die Säulenordnungen sind in der Renaissance viel stärker systematisiert worden, als sie dies in der Antike je gewesen waren. Serlio stellte sie 1537 erstmals in einer Abbildung zusammen (Abb. 2.8). Vignolas Traktat von 1562 widmete sich dann den Säulenordnungen allein und wurde einer der erfolgreichsten Architektur-Texte der Frühen Neuzeit.

2.4.2 Entwurfsleitendes Motiv ‚Antike‘

Welche programmatische Wirkung das Erreichen und Übertreffen der Antike als entwurfsleitendes Motiv im 15. und frühen 16. Jahrhundert hatte, wird im Brief Raffaels an Papst Leo X. exemplarisch deutlich.157 Andere Aspekte des Briefes werden unten im Zusammenhang mit den Architekturzeichnungen erörtert. In seinem Brief beschrieb Raffael die Größe und Qualität der Architektur der Antike sowie die in jeder Hinsicht schlechte Qualität der Bauten aus der Zeit der Goten (also dem Mittelalter) in Rom. Bramante wird explizit als derjenige Architekt bezeichnet, der das Niveau der Architektur der Antike zurückgewonnen habe.158 Was in der Architektur in den etwa hundert Jahren vor Raffael Programm gewesen war, kommt im folgenden Satz deutlich zum Ausdruck: Ma più presto cerchi Vostra Santità, lasciando vivo il paragone degli antichi, agguagliarli, e superarli; come ben fa con grandi edificj, col nutrire, e favorire le virtuti, risvegliare gl’ingegni, dar premio alle virtuose fatiche, spargendo il santissimo seme della pace tra li Principi Cristiani: … (Eure Heiligkeit möge baldmöglichst versuchen, unter Beibehaltung des Vergleichs mit den Antiken, diesen gleichzukommen und sie zu übertreffen; wie Sie es richtig machen mit großen Gebäuden, mit dem Nähren und Befördern der Tugenden, dem Wiedererwecken der Begabungen, dem Prämieren tugendhafter Mühen und mit dem Verbreiten des heiligen Samens des Friedens unter den christlichen Fürsten).159 Auf der einen Seite soll also die Antike lebendig gehalten werden, auf der anderen Seite soll man darüber hinausgehen. Der Papst solle die Bauten und Ruinen der Antike erhalten, damit der Maßstab für die Bewertung der modernen Bauten erhalten bleibe. Dem Papst wird zudem die Leistung zuerkannt, die Antike übertroffen zu haben, da er große Bauten in Auftrag gebe.

Wie gingen die Architekten mit dem entwurfsleitenden Motiv ,Antike‘ um? Um diese Frage im Sinne einer Wissensgeschichte der Architektur anzugehen, sollen im Folgenden einige Aspekte angesprochen werden. Zudem sei verwiesen auf den Abschnitt 2.9, wo es unter anderem um die Realisierung einer Formensprache all’antica mit den im 15. Jahrhundert zur Verfügung stehenden Bautechniken sowie um die Verwendung antiker Spolien in der Architektur der Renaissance geht. Im Abschnitt 2.11 wird beleuchtet, in wie weit an dieser Schnittstelle baukonstruktive Innovation passiert.

Abb. 2.8: Raffael, Chigi-Kapelle in Santa Maria del Popolo, Rom, ab 1513. Einblick in die Kapelle aus dem Seitenschiff der Kirche. (Foto: H. Schlimme).

Abb. 2.8: Raffael, Chigi-Kapelle in Santa Maria del Popolo, Rom, ab 1513. Einblick in die Kapelle aus dem Seitenschiff der Kirche. (Foto: H. Schlimme).

Filippo Brunelleschi (1377–1446), der mehrmals zum Antikenstudium in Rom gewesen war, brachte die Nachahmung der Details antiker Architektur (wie etwa der Kapitelle) auf ein sehr hohes Niveau und vollzog die Logik der Sprache der antiken Architektur nach. Er wandte die antiken Gliederungssysteme, etwa die Säulenordnungen mit ihrer charakteristischen Morphologie (Säule und Architrav) auf seine Bauten an, wobei das Ziel, die Systematik der antiken Architektursprache durchzuhalten, bisweilen zu eigentümlichen Details führte. Wie wichtig Brunelleschi gerade die Logik der Säulenordnungen war, zeigte sich, als er die Erweiterung des von ihm ab 1419 errichteten Findelhauses durch Francesco della Luna kritisierte. Brunelleschis Biograph Manetti berichtet, dass Brunelleschi das senkrechte Herunterwinkeln des Hauptarchitravs der Fassade als „Fehler“ bezeichnete, da es der Logik der antiken Architektursprache widerspreche. Damit begründete Brunelleschi das erfolgreiche Konzept der korrekt ausgebildeten Säulenordnung, das aus der Architektur bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr wegzudenken sein sollte.160 Das Wechselspiel zwischen der korrekt ausgebildeten Säulenordnung und den Freiheiten, die sich die Architekten nahmen, diese zu verändern (licenze), waren eines der architekturtheoretischen Kernthemen der Frühen Neuzeit.161

Ein Beispiel für einen anders gearteten Umgang mit der Antike ist der Bau bzw. der grundlegende Umbau des Palazzo del Podestà in Bologna, der im Jahre 1438 begann und sich durch das ganze 15. Jahrhundert zog. Dabei wurde die Kombination aus Architekturelementen eines lokalen, mittelalterlich geprägten Repertoires mit der Architektursprache der römischen Antike, die in Bologna nicht baulich vor Augen stand, bewusst angestrebt.162 In der Auseinandersetzung mit Antike und lokaler Tradition entstand in vielen Städten Italiens im 15. Jahrhundert eine jeweils individuelle Baukultur. Zu den Einzelbauten des 15. Jahrhunderts, die eine solche Überlagerung antiker und lokaler Baukulturen zeigen, gehören nach Schofield auch Sant’Andrea in Mantua (Alberti) oder die Canonica di Sant’Ambrogio in Mailand (Bramante). Viele der Detaillösungen an diesen Bauten (auch Basen oder Kapitelle) lassen sich nicht mit dem Repertoire der Architekten in Einklang bringen. Neben der üblichen Erklärung, die Architekten hätten aufgrund der Arbeitsteilung die ausführenden Handwerker nicht kontrollieren können, benennt Schofield die Möglichkeit, dass die Architekten gestalterische Lösungen, die den lokalen Bautraditionen entstammten, möglicherweise programmatisch anwandten.163

Wie ging der bereits zitierte Raffael in seinen Entwürfen mit dem entwurfsleitenden Motiv ,Antike‘ um? Ray sieht bei Raffael sowohl den Einfluss Bramantes als auch den der Antike. Raffael gehe aber über beide deutlich hinaus. In der Cappella Chigi in Santa Maria del Popolo (ab 1513, Abb. 2.7) sei der Bezug zur Vierung von St. Peter evident, andererseits verwiesen der Eingangsbogen und zahlreiche Details auf das Pantheon. Dennoch sei der Kapellen-Raum von den Vorbildern gleichermaßen weit entfernt. Ray sieht im Kontrast der weißen Marmorordnung mit dem polychromen Hintergrund, im Mosaik und in den vergoldeten Rippen der Kuppel und der Dosierung des Lichts Elemente, die die Fähigkeit Raffaels zeigten, über seine Vorbilder hinauszugehen.164

Abb. 2.9: Sebastiano Serlio, schrittweiser Entwurf einer Kirchenfassade aus dem 4. Buch des Architekturtraktats, Serlio 1537. (Quelle: Schlimme 1999a, 190, mit freundlicher Genehmigung des Michael Imhof Verlags).

Abb. 2.9: Sebastiano Serlio, schrittweiser Entwurf einer Kirchenfassade aus dem 4. Buch des Architekturtraktats, Serlio 1537. (Quelle: Schlimme 1999a, 190, mit freundlicher Genehmigung des Michael Imhof Verlags).

Mit der Villa wurde ein Bautypus aus der Architektur der römischen Antike übernommen, der im traditionellen Bauwesen am Anfang der Frühen Neuzeit nicht vorhanden war. Ein Beispiel ist Raffaels Villa Madama (ab 1518). In Raffaels Entwurf interagieren die Kenntnis der antiken Villen, die Lektüre der Schriften Plinius‘ des Jüngeren und Columellas und die Auseinandersetzung sowohl mit den Palast- und Thermenbauten der römischen Antike, als auch mit Peruzzis Farnesina, Bramantes Belvederehof und dem Werk Giuliano da Sangallos und Francesco di Giorgios. Raffael fügte Räume, Höfe, Terrassen, Gärten und Grotten zu einem überzeugenden Ganzen. Ray sieht hier eine Analogie zum Konzept der Eloquenz und damit eine Spiegelung der Ciceronischen Kultur, die in den ersten 20 Jahren des 16. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielte. Als Ziel der Rhetorik beschreibe Eloquenz das Verschmelzen und Vermitteln von Elementen mit dem Ziel, ein Gesamtbild und ein kohärentes Programm zu generieren. Das zu einem überzeugenden Ganzen gefügte bauliche Repertoire der Villa Madama, die ein gleichermaßen antiker wie aktueller Bau sei, stehe so letztlich für das Programm, Rom und die Kirche als Einheit darzustellen.165

Serlio ist es schließlich, der in sein Buch über antike Architektur (3. Buch, 1540) auch ,moderne‘ Bauten von Bramante, Peruzzi und Raffael einfügte.166 Serlio sagt, er habe zwar am Anfang des Buches angekündigt, allein über antike Architektur zu sprechen, er wolle aber auch über einige moderne, zeitgenössische Bauten sprechen, zumal sein Jahrhundert zahlreiche bellissimi ingegni in architettura zu bieten habe. Damit enthält er sich zwar einer vergleichenden Wertung, aber die Tatsache allein darf so interpretiert werden, dass die Zeitgenossen damals den Eindruck gewonnen hatten, man habe seinen Anspruch, die Qualität der Architektur der Antike zu erreichen, eingelöst. Auch Vasari erklärt in der Widmung seiner Vite, die Künste seien in Rom und auch in Florenz zum höchsten Grad der Perfektion gelangt.167 Dabei war zum einen die Entwurfsqualität entscheidend, zumal Serlio ja teilweise lediglich Entwürfe abbildet. Zum anderen spielte die Dimension gerade der Entwürfe für St. Peter eine maßgebliche Rolle. Man war sich bewusst, gerade durch die Realisierung so großer Bauten die Antike zu erreichen. Entscheidend war dabei aber die Dimension der Bauten und ihre technische Bewältigung als solche, nicht jedoch das Übernehmen einer bestimmten Bautechnik aus der Antike.

Lassen sich aus den qualitätvollen Entwürfen eines Bramante, eines Peruzzi oder eines Raffael allgemein anwendbare Entwurfsmethodiken ableiten? Serlio zumindest beschreibt in seinem vierten Buch (1537) beispielhafte Entwurfsprozesse Schritt für Schritt. So erläutert er, wie man eine Kirchenfassade entwirft (Abb. 2.9).168 Der Leser mag den Eindruck gewinnen, durch die Lektüre des Buches das Entwerfen zu lernen. Das war Anlass für Kritik. Der lombardische Maler und Kunstschriftsteller Giovanni Paolo Lomazzo (1538–1600) beklagte sich, Serlio habe durch sein dilettantisches Werk mehr Pfuscherarbeiten verschuldet als er Haare im Bart gehabt habe. Er, Lomazzo, verachte

…certi architetti prattichi intorno alle fabbriche solamente per via di materia e discorso di fare, senza alcuna invenzion loro, di quali ne è piena tutta l’Italia, mercè [sic] di Sebastiano Serlio, che veramente ha fatto piú mazzacani architetti, che non aveva egli peli in barba.169

Man kann es auch positiv formulieren: Dank der Architekturtraktate war der Architektur-Entwurf lehrbar geworden. Entscheidend in diesem Zusammenhang sind die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gegründeten Akademien in Florenz und Rom, die eine mehr oder weniger formalisierte Ausbildung im Entwerfen anboten.

2.4.3 Die Accademia del Disegno

Die Accademia et Compagnia dell’Arte del Disegno170 (kurz: Accademia del Disegno) ist von der Forschung umfassend bearbeitet worden.171 Im folgenden Unterabschnitt geht es um das Selbstverständnis der Architekten und ihre Rolle in der Akademie. Zudem geht es um die Rolle der Theoretiker und der dilettanti. Diese trugen zur Schaffung einer Atmosphäre bei, die die etablierten und die jungen Architekten zum Selbststudium und zur Reflektion über das eigene Tun anregten.

Die Accademia del Disegno wurde im Jahre 1563 unter Federführung von Giorgio Vasari (1511–1574) und Vincenzo Borghini (1515–1580) gegründet.172 Ausgangspunkt der Akademiegründung war die im Laufe von zwei Jahrhunderten gereifte Überzeugung, dass die Konzeption eines Gemäldes, einer Skulptur oder einer Architektur einen intellektuellen Anspruch habe. Das daraus resultierende neue Selbstverständnis der Künstler und insbesondere das des Architekten als Künstler wurde mit der Akademie institutionalisiert. Entscheidend ist der Begriff disegno. Vasari verstand darunter sowohl die aus Einsicht in die Prinzipien der Natur gewonnene Konzeption eines Bau- oder Kunstwerks als auch seine zeichnerische Darstellung.173 Die Akademie sollte sowohl Vereinigung etablierter Künstler als auch Bildungsstätte für den Nachwuchs sein. Zwar sind bereits für das frühe 16. Jahrhundert Diskussions- und Zeichenrunden von Künstlern bezeugt, etwa die Florentiner Akademie des Baccio Bandinelli; mit der Accademia del Disegno wurde jedoch erstmals eine Akademie unter direkter Beteiligung des Staates gegründet. Sie bekam auf diese Weise eine offizielle Rolle. Herzog Cosimo I. de Medici (seit 1569 Großherzog) hatte die Statuten der Akademie im Jahre 1563 genehmigt und wurde Ehrenvorsitzender der Akademie – neben Michelangelo, der aus Unmut über die Alleinherrschaft der Medici Florenz für immer verlassen hatte, aber dennoch den Anspruch der neuen Florentiner Organisation verdeutlichen sollte. Einerseits waren die Künstler jetzt direkt von den Medici abhängig; andererseits stand man dadurch auf Augenhöhe mit anderen Institutionen des Großherzogtums. Vor allem die Inkorporation der Akademie als Gilde im Jahre 1571 bedeutete eine neue Unabhängigkeit der Künstler gegenüber den Handwerkergilden, in denen die Künstler bis dahin lediglich eine Nebenrolle gespielt hatten. Ab diesem Zeitpunkt war es für Maler nicht mehr erforderlich, Mitglied in der Arte dei Medici e Speziali zu sein, Bildhauer und Architekten mussten nicht mehr der Arte dei Fabbricanti angehören.174

Wer wurde Architekt in der Renaissance? Die Architekten der Renaissance verstanden sich als Künstler des disegno. Diese Betonung des künstlerischen Anteils an der Arbeit des Architekten kann als Tendenz lange zurückverfolgt werden. Im Jahre 1334 war mit Giotto ein Maler, also kein Baupraktiker, wohl aber ein Fachmann für Gestaltungsfragen, Dombaumeister in Florenz geworden. In der Renaissance stellten die Bildkünstler einen großen Anteil an der italienischen Architektenschaft. Es gab immer Architekten, die ein Bauhandwerk gelernt hatten, wie Antonio da Sangallo der Jüngere (Zimmermann) oder Andrea Palladio (Steinmetz). Zahlreiche Architekten kamen aus gebildeten Schichten, so z. B. Francesco del Borgo (Kleriker), Fra’ Giocondo (Dominikanerpriester) oder Leon Battista Alberti (Jurist). Eine große Zahl kam hingegen aus den Bildkünsten, so etwa Filippo Brunelleschi (Goldschmied), Lorenzo Ghiberti (Bronzebildhauer, Goldschmied, Maler), Filarete (Bildhauer), Giuliano da Sangallo (Bildschnitzer und Intarsiateur), Baldassarre Peruzzi (Maler), Raffael (Maler). Baukonstruktion und praktische Bauausführung mussten diese Architekten der Tendenz nach den Fachleuten überlassen. Wenn auch der Entwurf eines Bauwerks schon in den Jahrhunderten zuvor als Tätigkeit höchste Wertschätzung besaß,175 so ist im 15. und 16. Jahrhundert darüber hinaus eine zunehmende Trennung von Entwurf und Ausführung von Bauten zu beobachten. Die Konzeption eines Bauwerks wurde im Verlauf der Frühen Neuzeit zunehmend als eigenständige intellektuelle Leistung verstanden. Als Ergebnis der Arbeit des Architekten galt mehr und mehr der in Zeichnungen dargestellte Entwurf, der dann in einem zweiten Schritt realisiert wurde. Wenn die Architektur eine der drei Disziplinen in der Florentiner Akademie wurde, so ist das vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich – auch wenn dies damals keineswegs unumstritten war: Burioni analysiert, dass in der Diskussion um die Statuten der Accademia del Disegno die Wesensbestimmung der Architektur, die Teil von Kunst, Handwerk und Technik ist, ein großes Thema war – gerade für eine Institution, die auf dem Konzept des disegno gründete. Kunst, Handwerk und Technik waren bis ins 16. Jahrhundert Aspekte des übergreifenden Konzepts Ars/Arte und differenzierten sich erst langsam aus. Auf diesen Prozess dürften die Diskussionen in der Accademia del Disegno einen gewissen Einfluss gehabt haben.176 Die Architektur umfasst Tätigkeitsfelder, die klar den Künsten des disegno zuzuordnen waren, wie der Entwurf, und solche, von denen die Akademiker sich deutlich abgrenzen wollten, wie etwa Technik oder handwerkliche Bauausführung. Wer sollte also als Architekt in die Akademie aufgenommen werden? Die Unsicherheiten spiegeln sich in den Statuten der Akademie wider. Während die Statuten vom Januar 1563 Architekten gleichberechtigt neben Malern und Bildhauern sahen, wurde im Ergänzungsstatut vom Juli 1563 verfügt, dass nur Maler und Bildhauer in die Akademie aufgenommen werden sollten. Das interpretiert Burioni so, dass Maurer, Festungsingenieure etc., die durch ihre Rollen auf den Baustellen letztlich alle zu Architekten wurden, nicht aufgenommen werden sollten, sondern nur Architekten, die auch Maler oder Bildhauer waren.177 Auch Vincenzo Borghini kritisierte die Architektur, indem er schöne und nützliche Künste unterschied: Die nützlichen Anteile der Architektur, also ihre handwerklichen und technischen Aspekte, hätten keinen Platz in der Akademie.178 Das förderte eine ästhetische Architekturauffassung. Tatsächlich entstanden im Rahmen der Akademie Traktate, die allein der Formensprache gewidmet sind, wie etwa die Abhandlung von Gherardo Spini.179 Die vitruvianische Einheit aus Bauschmuck und Mechanik war getrennt. Architektur wurde als Kunst verstanden, der Architekt als Künstler. Die technischen Aspekte traten zurück.180 Das bedeutete jedoch keineswegs, dass die Bautechnik kein Problem mehr darstellte. Auf der Baustelle waren baukonstruktive Fragen immer wieder eine große Herausforderung (siehe Abschnitt 2.9).

Welches waren die Prinzipien der Ausbildung an der Florentiner Akademie? Quellen dafür sind zunächst die Statuten der Akademie vom Januar 1563,181 die aber nur die formalen Regeln der Ausbildung betreffen und kaum inhaltlich werden. Schon im ersten Kapitel der Statuten wird erklärt, man wolle eine Akademie und Studienmöglichkeit bzw. Universität schaffen, die den jungen Leuten (giovani) diene, die die Künste Architektur, Malerei und Skulptur lernen wollten.182 Die Kapitel XXXII bis XXXV der Statuten handeln von den Pflichten der Akademie gegenüber den giovani. Für jedes Fach wurde ein Meister bestimmt. Die Meister besuchten die giovani in ihren Werkstätten, signalisierten die begabten Schüler in der Akademie, wo sie in eine Liste eingetragen werden konnten und dann vier mal im Jahr Zeichnungen einreichen mussten. Wer mit seinen Zeichnungen wiederum hervorstach, bekam Aufträge für die Dekoration der Feste der Akademie. Die Ausbildung an der Akademie war nicht strikt geregelt. Das bestätigt der aus Genua stammende Akademiker Giovanni Battista Paggi (1554–1627), der in einem Brief an seinen Bruder schrieb, dass man an der Akademie eher die individuellen Leistungen als die Ausbildungsjahre in den Vordergrund stellte.183 Das neue Selbstverständnis ermöglichte es, individuelle Begabung zu fördern, Talent und Erfolg zu verkoppeln, die Fortentwicklung der Kunst durch Konkurrenz zu suchen. Ein Mindeststandard, den einzuhalten für den Eintritt in eine traditionelle Gilde ausreichte, wurde dagegen abgelehnt.

An der Akademie wurden regelmäßige Mathematik-Vorlesungen organisiert.184 Mathematik galt als der Schlüssel, um die sichtbare Welt zu verstehen. Wer die mathematischen Grundlagen der Natur, d. h. Geometrie, Perspektive, Arithmetik und damit auch die der Natur innewohnenden Proportionssysteme begriffen hatte, konnte die Natur in Kunstwerken darstellen bzw. neue Kunst- und Bauwerke im Sinne der Naturregeln konzipieren. Von diesen mathematischen Wissenschaften oder auch Künsten gewinne die Malerei Perspektive und Symmetrie. „Symmetrie“ meint in der Malerei-Theorie ebenso wie in Albertis Architekturtraktat das harmonische Verhältnis der Teile zum Ganzen, d. h. letztlich Proportionssysteme.185 Neben der Mathematik war die Anatomie Teil des Lehrprogramms der Akademie und Akademiker wie giovani hatten einmal im Jahr die Gelegenheit, an einer Leichensektion im Ospedale Santa Maria Nuova teilzunehmen. Auch für Architekten wurde das Studium der Anatomie und des menschlichen Körpers als essentiell angesehen.186

Eine architekturspezifische (Entwurfs-)Lehre an der Accademia del Disegno ist über mehrere Quellen nachweisbar. Dazu gehören neben den Statuten v. a. Aussagen Gherardo Spinis (1538–nach 1570), der am Anfang seines Traktatmanuskripts über die Diskussionen berichtet, die er in der Accademia del Disegno über sein Traktat gehabt hatte.187 Spinis Werk behandelte die Säulenordnungen und die Sprache der antiken Architektur. Auf diesem Thema lag ein Schwerpunkt der Diskussionen in der Akademie.188 In seinem Brief vom 22. August 1582 drängte Bartolomeo Ammannati (1511–1592) darauf, die regelmäßigen Treffen der Akademiker als Diskussionen über Themen der Malerei, Skulptur und Architektur zu gestalten.189 Wir dürfen also davon ausgehen, dass zumindest in den Zeiträumen von Oktober 1564 bis Mai 1565 sowie von Mai 1570 bis Oktober 1570,190 als Ammannati einer der drei Konsuln der Akademie war, zahlreiche Vorträge und Diskussionen insbesondere zur Architektur stattgefunden haben. Neben der Diskussion der Traktate von Vitruv, Alberti, Vignola, Serlio und Palladio, die zweifellos bekannt waren, ging es sicher auch um die Traktatprojekte der Accademici del Disegno, allen voran das Traktat von Ammannati selbst, das Zeit seines Lebens im Entstehen begriffen war. Es trug den Titel La città und beschrieb die Bauten einer idealen Stadt, die allesamt im Grundriss dargestellt sind.191 Giorgio Vasari der Jüngere (1562–1625) schrieb nach Ammannatis Vorbild das ganz ähnlich konzipierte Traktat La città ideale.192 Dass Ammannati sein Traktat auf die Bedürfnisse seines Arbeitgebers ausrichtete, erscheint plausibel. Vasari hatte ähnliche Ambitionen.193 Möglicherweise wollte die Akademie Architekten so ausbilden, dass sie Bauten in einem ,offiziellen Stil‘ des Medici-Staates entwerfen konnten. So wäre die Rolle der Akademie innerhalb der Maschinerie des neuen Staates gestärkt und dem Großherzog ihre Nützlichkeit bewiesen worden.

2.4.4 Die Querelle des Anciens et des Modernes

Für die ästhetischen Diskussionen der Aufklärung war die Frage des Geschmacks von besonderer Bedeutung, womit die Bedienung des Geschmacks (in Italien des buon gusto) in der Folge auch für die entwerfenden Architekten immer relevanter im Sinne einer den Entwurfsprozess motivierenden Zielsetzung wurde. In Frankreich hatte die Thematik bereits im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts in der Querelle des Anciens et des Modernes eine große Rolle gespielt: einer kulturellen, auch von der Architekturtheorie aufgegriffenen Debatte über das Verhältnis zwischen Moderne und Antike, die in Frankreich zur Zeit Ludwigs XIII. aufgekommen war und wichtige Impulse dafür geliefert hatte, Architektur auf der Basis eines vernunftgeleiteten ästhetischen Urteils hinsichtlich ihrer zeitgemäßen Einsetzbarkeit und unter Berücksichtigung des veränderten nationalen Selbstverständnisses zu definieren. Sie stand in direktem Bezug zur Infragestellung einer Absolutsetzung der Antike als alleingültigem Maßstab, wie sie von den ‚Modernen’ propagiert wurde.194 Zwei der Hauptvertreter einer derart subjektiven und relativierenden Architekturästhetik waren die Brüder Claude und Charles Perrault.195 An der 1671 auf königliche Verordnung begründeten Pariser Académie Royale d’Architecture sollte mit Hilfe von Resolutionen eine bindende Architekturlehre formuliert werden, in der man auch ein Mittel sah, den Ruhm der königlichen Baukunst und damit der den Staat verkörpernden Person Ludwigs XIV. zu vergrößern, und die zu diesem Zweck letztlich in eine normative Architektur-Ästhetik münden sollte. Zu den grundlegenden Anschauungen der Akademie zählten als Ausgangsbasis aller Betrachtungen vor allem die cartesianische raison und mit ihr die Geometrie als Grundlage aller Schönheit sowie ein fester Glaube an die Autorität der Antike. Erfahrung und Verstand wurden als Kontrollmechanismen angesehen, erstere zur Überprüfung der Vernunft und letzterer als Schutz vor Fehlern. Absicht war es, in Frankreich einen ordre général als Ausdruck einer beauté universelle zu etablieren. Man ging davon aus, nur die Imitation der Antike führe zu eigener Perfektion und Größe. Die mittelalterliche Architektur wurde negativ bewertet, und Michelangelo sah man für jene zunehmend freiere Handhabung der architektonischen Regeln verantwortlich, die schließlich in den individuellen Werken des italienischen Hochbarock mit ihren mathematisch anspruchsvollen Raumkompositionen, z. B. von Francesco Borromini und Guarino Guarini, kulminierte.196

Die Erörterung des bon goût im Jahre 1672 führte angesichts der Bewusstheit des subjektiven Charakters von Geschmack zu der vorläufigen Einigung, dass man als geschmackvoll bezeichne, was intelligenten Menschen gefalle.197 Die Bindung des Geschmacks an die Urteilsfähigkeit bestimmter Personenkreise sollte verhindern, dass die Bildung ästhetischer Kriterien, mit Hilfe derer man ja die angestrebte Normativität herzustellen gedachte, insgesamt in Frage gestellt würde.198 François Blondel (1617–86), ausgebildet in erster Linie als Ingenieur und Mathematiker, glaubte daran, dass die Formen der Antike noch vervollkommnet bzw. neue Formen hinzuerfunden werden könnten. Die von Blondel im fünften Buch seines Cours d’Architecture (1683) ausgetragene Polemik gegen Claude Perrault zeigt jedoch, dass das entwicklungsgeschichtliche Denken, welches er in Bezug auf die antiken Formen bezeigte, die er als nicht normativ akzeptierte, sich nicht ebenso auf den Proportionsbegriff übertrug. Unter Berufung auf Alberti legte er argumentativ dar, dass die Proportionen eines Gebäudes nicht veränderbar seien und verwahrte sich gegen Perraults Ansicht, in Kunstwerken nur den effet du genie & de l’experience (das Resultat des Genies und der Erfahrung) zu sehen. Für Blondel besaß die Proportionslehre eine feste natürliche Grundlage, war daher unveränderlich und blieb als cause de la beauté dans l’architecture (als Ursache der Schönheit in der Architektur) bindend, obwohl er eingestand, dass andere Bereiche von Architektur auf Gewöhnung beruhten.199 Claude Perrault (1613–88) hingegen bezweifelte eine Naturgegebenheit der architektonischen Proportion. Unabhängig von den Verhältnissen des menschlichen Körpers besitzt die Architektur nach Perrault ihre eigenen Proportionsregeln, die von der Art des Bauens abhängig sind. Für ihn waren Proportionen nicht mehr normativ beschreibbar, sondern établie par un consentement des architectes (durch eine Übereinkunft der Architekten festgelegt), welches auf Gewohnheit und Tradition beruht.200 Claude Perrault und sein Bruder Charles (1628–1703) formulierten zwei ästhetische Grundkategorien für Architektur – das positive und das arbiträre Prinzip –, wodurch sie Vitruvs Architekturästhetik auf empfindliche Weise modifizierten.201 Mit dem positiven Prinzip wurde erstmals die Funktion eines Gebäudes zur ästhetischen Prämisse erhoben; solidité, salubrité und commodité, jetzt als Grundlagen der Schönheit verstanden, gewannen fundamentale Bedeutung. Die beauté arbitraire bezeichnet den künstlerischen, aber durch Gewohnheit limitierten Freiraum; auch sie besitzt in gewisser Weise positive Grundlagen, die Perrault mit der convenance raisonnable und der aptitude que chaque partie a pour l’usage auquel elle [das Gebäude] est destinée (Eignung, die jeder Teil für die Nutzung im Rahmen der Funktion des Gebäudes hat) beschrieb,202 womit die arbiträre Schönheit als ein durch gesellschaftliche Konventionen bestimmtes Schönheitsempfinden charakterisiert werden kann.203 Ein entscheidendes Charakteristikum positiver Schönheit bestand nach Claude Perrault in der Symmetrie im modernen Sinne axialer Spiegelbildlichkeit. Die Dogmatisierung der Symmetrie im Klassizismus als nahezu zwingendes Kriterium für Schönheit war hier theoretisch verankert. Die Proportion als zweite Komponente des hergebrachten Symmetriebegriffs bildete für Perrault nur einen Bestandteil der beauté arbitraire, ist also veränderbar; damit wurde die Proportionslehre ihrer normativ-ästhetischen Grundlagen beraubt. Die Relativierung der Proportion als empirischer Begriff bedeutete eine einschneidende Veränderung gegenüber zentralen Aussagen der früheren Architekturtheorie. Perrault wollte aber die Proportion nicht aufheben, sondern sich von einem zu starren Verständnis lösen. Ihm war dabei an der Aufrechterhaltung der Grazie gelegen, die nur durch eine agreable modification der Proportion gewährleistet bleibt, wobei der bon goût die Spanne bestimmt, innerhalb derer Bauwerke unterschiedlicher Proportionen noch als gleich schön empfunden werden, d. h. was letztlich angenehm ist.204 Während der Bruder Charles den Kriterien der positiven Schönheit die überlegene Stellung zuerkannte, ist das Verhältnis, das positive und arbiträre Schönheit zueinander einnehmen, in den Schriften Claude Perraults umgekehrt, wo der arbiträren, subjektiven Schönheit der Vorrang gegeben ist. Letztere wird durch einen psychischen Prozess geregelt, bei dem der Wahrnehmungsakt einem auf Bildungs- und Erfahrungswissen beruhenden Urteil unterzogen wird.205 Als Kontrollinstanz beruft Perraults relativistische Architekturästhetik sich auf den bon goût, der nach ihm auf der Kenntnis von positiver und arbiträrer Schönheit beruht und die Voraussetzung für eine vernunftbasierte ästhetische Urteilsfähigkeit bildet.206 Die subjektbezogene Wahrnehmung als eine Bewertungsinstanz für architektonische Schönheit zu begreifen, ist eine Problemstellung der Querelle, die auch von Blondel geteilt wurde, für den nicht die objektive Erscheinung der Architekturen zählte, sondern für den die von diesen ausgelösten Sinneseindrücke maßgeblich waren. Entsprechend sollten die aus der Betrachtung resultierenden perspektivischen Verzerrungen beim Entwurfsvorgang Berücksichtigung finden.207

Das Verständnis von Proportion als arbiträrer Größe resultierte wesentlich aus der damals empirisch neu gewonnenen Einsicht, dass sich die Existenz einheitlicher und dadurch verbindlicher Säulenproportionen als Kriterium objektiver Schönheit bei dem Vergleich antiker Werke und dem Studium von Vitruvs Traktat nicht hatte verifizieren lassen.208 Auch die Angaben weiterer früherer Autoren vermittelten ein eher unstimmiges Bild. Die von Claude Perrault selbst und auch anderen entdeckte Widersprüchlichkeit, die sich aus der Gegenüberstellung der verfügbaren Aufmessungen antiker Architektur ergab, führte 1674 dazu, dass Colbert, Surintendant et Ordonnateur général des Bâtiments, Arts, Tapisseries et Manufactures de France, den jungen Architekten Antoine Desgodets (1653–1728) zur Neuvermessung der antiken Überreste nach Rom schickte.209 Während der sechzehn Monate, die dieser in Rom verbrachte, maß Desgodets diverse Bauten mit großer Genauigkeit auf. Nach Paris zurückgekehrt, erarbeitete er anhand seiner mitgebrachten Aufzeichnungen einen Kodex (ms. 2718 des Institut de France), der von Mitte Dezember 1677 bis Anfang März 1678 in der Architekturakademie diskutiert wurde.210 Daraufhin bereitete Desgodets die 325 Seiten umfassenden und reich bebilderten Édifices antiques de Rome vor, die die Ergebnisse der Diskussionen berücksichtigten, allerdings nur noch 25 Monumente vorstellten und 1682 mit königlichem Privileg und protegiert von Colbert im Druck erschienen. Exaktheit, Liebe zum Detail und wissenschaftliche Korrektheit, mit denen Desgodets die Bauten aufgemessen hatte, sollten ihm dazu verhelfen, auf empirische Weise und nicht auf dem Weg einer axiomatisch gesetzten, auf Regeln der Mathematik basierenden Proportionstheorie zu absolut verstandenen Proportionen zu gelangen.211 Seine Bauaufnahmen zeigten, dass die architektonische Praxis in der Antike komplizierter und schwerer zu durchschauen gewesen war, als die Lektüre Vitruvs dies vermuten lässt. Als wichtigste Referenzen dienten Desgodets neben Vitruv Serlios Antiquità di Roma (1540), Palladios viertes Buch der Quattro libri dell’architettura (1570) und die Angaben von Labacco und Fréart de Chambray. Der Vergleich der vorgefundenen Aufmaße sowohl untereinander als auch mit seinen eigenen führte ihn zu dem Nachweis von Ungenauigkeiten in den Bauaufnahmen seiner Vorgänger,212 so dass Desgodets’ Zeichnungen die in der Vergangenheit praktizierten Abweichungen durch eine wirklichkeitsnahe und nicht mehr am vitruvianischen Ideal orientierte Wiedergabe ersetzten. Aus den Ergebnissen ließ sich der Schluss ziehen, dass auch die ‚Modernen‘ das Recht haben, die Antike ‚wiederzuerfinden‘.213 Die Vorstellung von Desgodets und seinen Gönnern, die antiken Zeugnisse für die Etablierung einer spezifisch französischen Architektur im Zeichen einer ‚rinnovata classicità‘ zu nutzen, die in gewisser Weise an die von Philibert de l’Orme schon im 16. Jahrhundert unternommenen Versuche der Etablierung einer französischen Ordnung anknüpfte, wurde auf diese Weise bekräftigt.214 Die Édifices antiques, welche ab 1693 für einen Zeitraum von zwei Jahren Lektürethema an der Akademie wurden – bezeichnenderweise erst nach dem Tod des vormaligen Direktors Blondel – hatten nicht nur einen tiefgreifenden, verändernden Einfluss auf den Blick, mit dem man von da ab die antiken Monumente betrachtete, sondern auf die Konzeption von Architektur überhaupt, und sie sollten dank ihrer präzisen und wissenschaftlichen, bereits eine wissenschaftliche Archäologie ankündigenden Darstellungsmethode über einen langen Zeitraum hinweg die wichtigste Referenz für die antiken römischen Monumente bilden.215