„Unmöglich ist es, zum 40. Jubiläum der Gesellschaft eine umfassende Wissenschaftsgeschichte auch nur in großen Zügen darzustellen.“ Dies stellte Otto Hahn, letzter Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und erster Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, im Jahre 1951 fest. 1990 schloss sich Rudolf Vierhaus in der Einführung zum Sammelband „Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft“ dieser Feststellung an. Der Sammelband dokumentiert eine wichtige Forschungsleistung und gilt bis heute als das Standardwerk zur Geschichte von Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft. Dennoch hat die Einschätzung, dass eine umfassende Wissenschaftsgeschichte der Max-Planck-Gesellschaft ein Forschungsdesiderat ist, auch ein weiteres Vierteljahrhundert später immer noch Bestand.
Das zwischen 1999 und 2005 betriebene und groß angelegte Forschungsprogramm zur „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus“ hat zahlreiche neue Erkenntnisse gebracht, die nicht nur die Geschichte der Gesellschaft während des „Dritten Reichs“ erhellen, sondern auch zum genaueren Verständnis der Dynamik von Wissenschaftsentwicklung in gesellschaftlichen Kontexten beigetragen haben. Darüber hinaus wurden gerade in jüngster Zeit einige historische Darstellungen von Institutsgeschichten vorgelegt. Doch gibt es nach wie vor keine gültigen und historischen Standards genügende Gesamtdarstellung der nunmehr über hundertjährigen Geschichte von Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und Max-Planck-Gesellschaft. Insbesondere gilt dies für die Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, die 1946 bzw. 1948 aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft hervorgegangen ist – ihre inzwischen fast 70 Jahre umfassende Geschichte kann in mancher Hinsicht als wissenschaftshistorische terra incognita charakterisiert werden.
Vor diesem Hintergrund war es keineswegs zufällig, dass das Max-PIanck-Institut für Wissenschaftsgeschichte das hundertjährige Gründungsjubiläum der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zum Anlass nahm, sein Institutskolloquium 2010/2011 der Geschichte dieser traditionsreichen außeruniversitären Forschungsinstitution zu widmen und dabei einen Schwerpunkt auf die eigentliche Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft zu legen. Angesichts des Forschungsstandes konnte es jedoch nicht Ziel sein, eine systematische oder gar umfassende Institutionengeschichte zu vermitteln und damit nachzuholen, was die bisherige Forschung versäumt hat. Vielmehr sollten exemplarisch charakteristische Entwicklungen, Grundprobleme und Umbrüche einer hundertjährigen Geschichte beleuchtet und in einem breiteren wissenschafts- und institutionshistorischem Kontext diskutiert werden. Damit wurde nicht nur dem Kolloquiumscharakter Rechnung getragen, sondern es konnte auch eine vorläufige Forschungsbilanz gezogen und, so jedenfalls hoffen wir, Anregungen für künftige Forschungen gegeben werden. Dass wir binnen Jahresfrist eine zweite, erweiterte Auflage vorlegen ist dem Wunsch geschuldet, einen weiteren Beitrag sowie auch relevantes Bildmaterial zugänglich zu machen, das uns bei Redaktionsschluss der ersten Auflage noch nicht vorlag.
Das Spektrum der neun Kolloquiumsvorträge war äußerst weit gefächert. Das Gleiche gilt für die hier versammelten Beiträge, die aus der Vortragsserie hervorgegangen sind. Den Anfang machen die reflektierenden Erinnerungen von Altpräsident Reimar Lüst (Hamburg), der nicht nur sein jahrzehntelanges Wirken in der Max-Planck-Gesellschaft Revue passieren lässt, sondern insbesondere auch die zentrale Rolle des Harnack-Prinzips für die Erfolgsgeschichte der Gesellschaft herausstellt.
Hieran anknüpfend, beschäftigt sich Hubert Laitko (Berlin) aus einer wissenschaftshistorischen und forschungspolitischen Perspektive mit diesem institutionellen Markenzeichen der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft, das er um zwei weitere Grundprinzipien, die er als Strategie- und Ganzheitsprinzip bezeichnet, ergänzt hat. Nach seiner Auffassung konnte sich erst in deren wechselseitiger Spannung die bis heute anhaltende Produktivität des Harnack-Prinzips entfalten.
Der Vortrag von Thomas Adam (University of Texas at Arlington) ordnet die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft mittels privater Stiftungsmittel in den Kontext der neueren Forschungen zum Stiften und Spenden im Wilhelminischen Deutschland ein. Dabei bezieht er in seine Perspektive auch die Finanzierung von privaten und staatlichen Forschungs- und Bildungseinrichtungen in den USA ein, dem klassischen Land der Stifter und des Mäzenatentums.
Bemerkenswert und heute fast vergessen ist die Tatsache, dass die Mehrzahl der frühen Kaiser-Wilhelm-Institute – von den Dahlemer KWIs für Chemie und Physikalische Chemie über das Düsseldorfer KWI für Eisenforschung bis hin zu den Instituten für Kohlenforschung in Mülheim und Breslau – der Industrie sehr nahe standen und von dieser großzügig mitfinanziert wurden. Aufgrund dieser Tatsache unterlagen die Institutsmitarbeiter und nicht zuletzt die Direktoren unterschiedlichsten, arbeitsvertraglich geregelten Festlegungen hinsichtlich der Verwertung ihrer Erfindungen, die sie mit Mitteln ihrer Institute erzielten. Der Vortrag von Manfred Rasch (ThyssenKrupp Konzernarchiv Duisburg) hat diese Profilierung von Wissenschaftlern zu angestellten „Diensterfindern“ im Rahmen der politischen und wirtschaftlichen Veränderungen zwischen Wilhelminischer Epoche und „Drittem Reich“ analysiert.
Der Beitrag von Carola Sachse (Universität Wien) setzt sich kritisch mit dem Begriff der Grundlagenforschung auseinander, den die Max-Planck-Gesellschaft insbesondere seit ihrer Umgründung nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu als Mythos gepflegt hat. Sie zeigt, dass dieser programmatische Anspruch auch dazu genutzt wurde, vergangenheitspolitisch den Charakter jener hybriden Forschungen zu verwischen, mit denen sich die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft als Teil des NS-Regimes besonders in der Rüstungsforschung engagiert hatte. Andererseits trug die Fokussierung auf Grundlagenforschung in der unmittelbaren Nachkriegszeit gegenwartspolitisch dazu bei, die organisatorische Integrität der Max-Planck-Gesellschaft, ihre institutionelle Unabhängigkeit und die wissenschaftliche Autonomie ihrer Mitglieder zu behaupten.
Helmuth Trischler (Forschungsinstitut des Deutschen Museums München) untersucht am Beispiel der Göttinger Aerodynamischen Versuchsanstalt, der Institutionalisierung der Hochenergiephysik und der Gründung des MPI für Biochemie in München-Martinsried, wie die Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft auf die inhärente Wachstumsdynamik der modernen Wissensgesellschaft reagiert hat und in kontroversen Aushandlungsprozessen den institutionellen Ort der Gesellschaft im deutschen Wissenschaftsgefüge – nicht zuletzt im Hinblick auf die Etablierung der modernen Großforschung – stets von Neuem zu bestimmen versuchte.
Zu den gesellschaftlichen Herausforderungen, die die Max-Planck-Gesellschaft aufgriff, gehörten auch Diskussionen über die Rolle von Bildung und über die Bedeutung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts für die moderne Gesellschaft. In diesem Kontext zeichnet der Beitrag von Ariane Leendertz (MPI für Gesellschaftsforschung Köln) die Gründungsgeschichte und die Schließung des Starnberger Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt nach und zeigt, wie es vor diesem Hintergrund in den achtziger Jahren zur Gründung des Kölner Instituts für Gesellschaftsforschung kam.
Eine Tour d’Horizon unternimmt Mitchell Ash (Universität Wien), der die Reaktion von Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und Max-Planck-Gesellschaft auf die gravierenden politischen Umbruchzeiten von 1918, 1933, 1945 und 1990 im Lichte des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik untersucht.
Gerhard Wolf (Kunsthistorisches Institut Florenz – MPI) reflektiert in seinem Essay „Ever the Best“ über die Dynamiken, Rhetoriken und Perspektiven der Geisteswissenschaften in der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft. Darin werden die langen Traditionslinien nachgezeichnet, in der diese Forschungen stehen, gehörten doch zu den frühen Gründungen auf diesem Gebiet die Bibliotheca Hertziana in Rom (1913) und das KWI für Deutsche Geschichte (1917). Darüber hinaus zeigt der Essay, welche zentrale Rolle die Geisteswissenschaften in der offiziellen Selbstdarstellung der Gesellschaft spielen.
Diesen Kolloquiumsvorträgen ist im vorliegenden Sammelband eine erste Übersicht über die Entwicklung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und Max-Planck-Gesellschaft von ihrer Gründung bis zum Amtsantritt von Reimar Lüst vorangestellt. Diese umfangreiche und programmatische Studie von Jürgen Renn, Horst Kant und Birgit Kolboske (MPI für Wissenschaftsgeschichte Berlin) erhebt nicht den Anspruch einer abschließenden Bewertung. Sie fügt insbesondere Ergebnisse des bereits genannten Projekts zur Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus in eine umfassende, aber noch in vieler Hinsicht lückenhafte Chronik der Gesellschaft ein und benennt Desiderata und Forschungsfelder, die für eine zukünftige Erforschung der Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft von Bedeutung sind.
Abschließend sei all jenen gedankt, die zum Zustandekommen des vorliegenden Sammelbandes beigetragen haben – neben den Autorinnen und Autoren sind dies insbesondere die Kolleginnen und Kollegen des Archivs der Max-Planck-Gesellschaft, von deren qualifiziertem Service alle Beiträge in hohem Maße profitiert haben und das uns auch die Bilder für diesen Band zur Verfügung stellte; Susanne Uebele leistete dafür freundliche und sachkundige Hilfe. Großer Dank gilt nicht zuletzt Lindy Divarci und dem Team von Edition Open Access für ihr unermüdliches Engagement bei der Drucklegung der Manuskripte.