9.1 Einleitung – Theoretische Bruchstücke
Dass die Geschichte des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik eine Beziehungsgeschichte ist – das scheint inzwischen eine Selbstverständlichkeit zu sein; doch es besteht keineswegs Konsens darüber, was für eine Beziehung gemeint ist oder wie ihre Geschichte erzählt werden soll.1 Deshalb beginne ich mit einigen grundsätzlichen theoretischen Bemerkungen, ohne den Anspruch zu erheben, hier ein vollständig ausgearbeitetes Modell anbieten zu können.
Erstens: „Die“ Politik an sich gibt es ebenso wenig wie „die“ Wissenschaft als solche. Beide sind im Jargon der Sozialwissenschaften moving targets, das heißt, dass es sich keinesfalls um fixe, klar definierte und unveränderliche Größen, sondern um Kollektivsingulare handelt, deren jeweilige Definitionen, Inhalten, Strukturen und Zielrichtungen im Verlauf der Zeit einer fortwährenden Änderung unterzogen werden. Gerade deshalb kann eine Beziehungsgeschichte dieser beiden Handlungsfelder derart spannungsreich sein.
Zweitens: Dass Politik und Wissenschaft sich „im Wesenskern einander fremd“2 seien, wie Max
Drittens: Wissenschaft ist seit dem späten 19. Jahrhundert ohne institutionalisierten Forschungsbetrieb schlechterdings unmöglich, wenn nicht gar undenkbar. Die lang tradierte und in der öffentlichen Diskussion noch immer gängige Denkweise, die jeweiligen institutionellen Verfasstheiten wissenschaftlicher Forschung als bloße „Randbedingungen“ abzuhandeln, lehne ich im Folgenden radikal ab: denn es gibt kein Bild ohne Rand. Von den hochgradig kontingenten Wandlungen der institutionellen Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens, wie diese in politischen Umbruchzeiten sichtbar sind, wird sehr wohl die Rede sein, diese werden hier aber nicht bloß als „Randbedingungen“ behandelt. Vielmehr wird hier von durch eben solchen politischen Umbrüchen verursachten, zum Teil grundlegenden Wandlungen, von bereits bestehenden Verflechtungen von Wissenschaft und Politik auf mehreren Ebenen die Rede sein – also von Entflechtungen und Neuverflechtungen, welche die Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Forschung unter zum Teil radikal veränderter Bedingungen darstellen.
Nun, wie sollen derartige Entflechtungen und Neuverflechtungen historisch zu denken sein? Als Arbeitshypothese betrachte ich zunächst einmal die Situation zu Beginn eines radikalen Regimewechsels, wie sich dieser in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts viermal ereignet hat, als grundsätzlich offen. Demzufolge gehe ich davon aus, dass neu verhandelt werden muss, was jeweils als Wissenschaft beziehungsweise als Politik gelten und in ihrem Namen geschehen soll. Beide Größen, so meine These, stehen zunächst einmal zur Disposition und werden zum Teil unter Bezugnahme aufeinander neu bestimmt. Dass große Teile dessen, was in politischen Umbruchzeiten Politik werden kann oder soll, ohne direkten Bezug auf Wissenschaft verhandelt werden, ist allen historisch Kundigen klar.
Daraus ergibt sich die Frage danach, wo die Verhandlungsbeteiligten, wo „Wissenschaft“ und wo „Politik“ jeweils zu suchen sind. Vorrangig dabei sind im Hinblick auf die hier im Mittelpunkt stehenden Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und Max-Planck-Gesellschaft (im Folgenden: KWG und MPG) und ihre Institute wohl Allianzen auf der Ebene der Zentrale beziehungsweise der Institutsdirektoren oder Abteilungsleitern einerseits und der Industrieelite, der Ministerialbürokratie oder anderen maßgeblichen Instanzen andererseits. Inzwischen wissen wir nicht zuletzt dank der Arbeit der von damaligen Präsidenten der MPG Hubert
Der Ansatz zur Analyse solcher hochkomplexen Wandlungsvorgänge – Neuverhandlungen der Beziehungen beziehungsweise zur Herstellung neuer Verflechtungen von Wissenschaft und Politik, der in diesem Beitrag noch einmal Anwendung finden wird, dürfte bereits weithin bekannt geworden se in. Trotzdem umreiße ich ihn hier noch einmal in wenigen Worten. Die Rede ist von Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander.6 Dem zugrunde liegt eine Erweiterung des Ressourcenbegriffes über seine gewöhnliche, auf das Ökonomische begrenzte Ebene hinaus. Konkret in Bezug auf das Verhältnis von Wissenschaftswandlungen und politischen Umbrüchen soll von einer Umgestaltung von Ressourcenkonstellationen die Rede sein.7 Darunter sind Finanzmittel, aber ebenso Beziehungen und Allianzen (heute, frei nach Niklas
Wichtig ist sich darüber Gedanken zu machen, wie wir uns diese Umgestaltung von Ressourcenkonstellationen vorzustellen haben: Bei Bruno
Damit komme ich endlich zu zwei weiteren Grundannahmen, die den folgenden Ausführungen zugrunde liegen sollen. Die erste dieser Grundannahmen stellt so etwas wie eine glatte Umkehrung eines unter Historikern gängigen Denkmusters dar: Kontinuität ist demnach in Zeiten politischer Umbrüche keine Selbstverständlichkeit, in solchen Zeiten ist doch eher Wandel die Norm! Damit wird deutlich, dass Kontinuität – genauer: die (Wieder)Herstellung derselben – Arbeit kostet, welche Arbeit von wem unter welchen Umständen dazu erforderlich war, ist hier gerade das Thema. Zweitens: während aller vier der hier zu besprechenden Regimewechsel fanden fundamentale Verhandlungen zur Neuverflechtung von Wissenschaft und Politik bei laufendem Betrieb statt. Der Agrarwissenschaftler Günther
Last not least sei mir noch ein Wort in Bezug auf das gestattet, was hier besprochen werden soll – und was nicht. Im Einklang mit der Themenstellung des dieser Publikation zugrunde liegenden Kolloquiums ist die Rede von der KWG beziehungsweise der MPG und nicht von den Hochschulen, wenngleich Beziehungen zwischen diesen und jenen eine nachweisliche Rolle gespielt haben mögen. Im Wesentlichen – und auch im Hinblick auf den Textumfang – wird mehr von der Generalverwaltung der KWG/MPG als von den einzelnen Instituten die Rede sein. Um der klaren Darstellung willen gehe ich recht schematisch vor: Für jeden Regimewechsel wird der politische beziehungsweise wissenschaftspolitische Wandlungskontext sehr kurz vorangestellt, dann werden die drei oder vier bereits genannten Ressourcentypen mit Bezug auf die KWG/MPG durchgegangen. Eine gewisse Schieflage der Darstellung ergibt sich dabei aus dem gegenwärtigen Stand der Forschung: Zur Besprechung der ersten drei Regimewechsel kann und werde ich aus einer Fülle an Forschungsliteratur schöpfen (auch wenn ich die Vorgänge und Ergebnisse gelegentlich anders interpretiere), während die Rolle der MPG im wissenschaftspolitischen Geschehen um die deutsche Wiedervereinigung bislang noch nicht ins Visier der Historiker genommen wurde. Das liegt unter vielem anderen wohl auch am Aktenzugang, der auch mir noch nicht möglich gewesen ist. In dieser und auch in anderer Hinsicht handelt es sich um work in progress – noch offene Fragen werden daher explizit benannt.
Abb. 9.1: Wilhelm II. auf dem Weg zur Einweihung des KWI für Chemie am 23.Oktober 1912, dahinter Adolf Harnack, Emil Fischer und Fritz Haber.
9.2 1918
Was genau wandelt sich im Verhältnis der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und der Politik in Deutschland nach dem Ende des Kaiserreiches? Die damit einhergehenden Wandlungen lassen sich auf drei Ebenen zu konstatieren, wobei es sich bei alledem um Transformationen handelt, die bereits im Ersten Weltkrieg begonnen hatten und keinesfalls auf Deutschland begrenzt waren. Zunächst geht es um die Wandlungen im Verhältnis von Wissenschaft und Militär im Ersten Weltkrieg – und zwar weltweit. Die Mobilisierung und Selbstmobilisierung von Wissenschaftlern und ihren Arbeitstechniken für Kriegaufgaben und waffentechnische Projekte nahm nicht allein im Deutschen Reich, aber dort sicherlich, enorme Ausmaße an; immerhin wurden sechs Kaiser-Wilhelm-Institute (KWI) im Ersten Weltkrieg gegründet. Zweitens fand dabei in mehreren Fällen eine qualitative Änderung statt: mehr noch als eine bloße Anwendung der Wissenschaft hat in solchen Fällen eine Technisierung der Grundlagenforschung stattgefunden. Und drittens führten in ganz Europa die gestürzten Monarchien zu politischen Wandlungen, die vor allem, wenn auch nicht allein von den führenden Männern der KWG mit Bestürzung registriert wurden. Infolgedessen wurde in Deutschland die Republik eingeführt, eine dort bis dahin noch unbekannte Staatsform. Gerade die chaotischen ersten Jahre der Weimarer Republik sind ein exzellenter Beleg für die zuvor formulierte These, dass auch Politik am Beginn des Geschehens eine noch unbestimmte, geradezu unbestimmbare Größe darstellt.
Wie von mehreren Historikern bereits ausführlich dargelegt worden ist, konnte an den wissenschaftlichen Forschungsinstituten auf personeller Ebene Kontinuität verhältnismäßig rasch hergestellt werden. „Politische“ Entlassungen im engeren Sinne kamen in der KWG kaum vor. Der Präsident wie auch der Name der KWG blieben der alte – die Ansprechpartner des Präsidenten in den Ministerien überraschenderweise häufig auch.
Den größten Verlust für die Forschung stellten natürlich die gefallenen Wissenschaftler dar. Ihrer wurde sowohl an den KWI als auch an den Hochschulen namentlich gedacht; die Bedeutung dieser personellen Verluste für die Forschung dort ist meines Wissens allerdings bislang noch nicht direkt thematisiert worden. Ob es eine Gesamtliste aller im Krieg gefallenen Wissenschaftler der KWG gegeben hat, ließ sich nicht ermitteln. Und vielleicht war es auch gerade den Kriegsverlusten geschuldet, dass Deutschland in diesen Jahren im Rahmen der inter- und transnationalen Migrations- und Zirkulationsbewegungen eher ein Aufnahmeland war: Unter den Flüchtlingen der politischen Umwälzungen in den anderen Ländern, etwa der Revolution der Bolschewiki und dem darauf folgenden Bürgerkrieg sowie der massiven Vertreibung der „kritischen Intelligentzija“ 1923 in Russland, oder der gescheiterten Revolution 1919 in Ungarn und den danach erfolgten politischen Repressalien, sowie der Einführung eines numerus clausus für jüdische Studierende durch das Nachfolgeregime des Großadmirals
Auf institutioneller Ebene wurde die neue politische Situation erst mit Verzögerung anerkannt. Bereits 1918 und erneut 1919 votierten Senat und Verwaltungsausschuss der KWG für die Beibehaltung des Gründungsnamens. Erst 1920 wurde der neuen Preußischen und der Reichsregierung erstmals das ehemals kaiserliche Hoheitsrecht eingeräumt, die Hälfte der Senatsmitglieder zu ernennen.11 Und offenbar wurde erst danach der grundlegende Wandel der KWG-Finanzierungsquellen in Zuge der allgemeinen Geldentwertung denkbar. Während in den Gründungsjahren das Modell einer Mischfinanzierung zwischen Staat und Industrie vorherrschte, sprang ab 1921 der Staat für die ausgefallene Industrie und Mäzene ein.12 Zwar wurde dies in den folgenden Jahren etwas korrigiert, doch der Richtungswandel blieb bestehen. Dies ging einher mit einer Umwandlung der Generalverwaltung der KWG. Kam der Gründungspräsident Adolf von
Trotz dieser restaurativen Tendenzen fand auf Institutsebene ein starker Wandel statt. Sechs neue Institute wurden allein in den frühen Jahren der Republik gegründet, und zwar mit einer sichtbaren Dominanz der wirtschafts- und staatsnahen Institute. Oder wie Peter Christian
Auf der Ebene ideologischer Zuschreibungen bestand – zumindest in den halbwegs modern gesinnten Teilen der Führungselite – Konsens darüber, dass Wissenschaft und Kultur die einzigen Gebiete seien, in denen Deutschland noch Weltrang besaß. Bereits fünf Tage nach der Novemberrevolution, die er als „Tage des nationalen Unglücks“ wertete, sagte Max
Vorrangig war hier allerdings eine bestimmte symbolische Ressource, nämlich der imperiale Name der Gesellschaft, deren Beibehaltung nach kontroverser Diskussion, wie bereits zuvor erwähnt, beschlossen wurde. Räumlich gesehen ist ebenfalls ein damit zusammenhängender, nicht minder symbolträchtiger Wandel zu vermerken: die Generalverwaltung der KWG bezog 1922 neue, repräsentative Räume ausgerechnet im Hause ihres ehemaligen Patrons – im Berliner Stadtschloss. Die Nachbarschaft zur Zentrale der 1920 gegründeten Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft sowie auch zu den zuständigen Preußischen Ministerien war dabei keineswegs nur von symbolischer Bedeutung.
Alles das verband man aber mit einer zunehmend technokratischen Rhetorik. Die Gründung der staatsnahen Institute – beispielsweise des KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927 – rechtfertigte man mit dringenden gesellschaftlichen Problemen, die durch Wissenschaft gelöst werden sollten.20 Das war ein Einfallstor für den Typus des Experten, der dann aber vielleicht doch nicht so ganz abgesondert vom Generalisten-Geheimratstypus blieb, wie es in der neueren Literatur oft suggeriert wird.21
Abb. 9.2: Fritz
An dieser Stelle ein kurzer Exkurs zum Thema Reflexivität. In dieser Umbruchszeit reagierten die KWI-Direktoren hinsichtlich einer Reflexion ihrer Tätigkeiten vor 1918 eher mit einer Vorwärtsverteidigung. Ihr zeitweiliger Ausschluss aus internationalen Wissenschaftskooperationen führte zu keinem objektiven Überdenken des Geschehens, geschweige denn zu einer moralischen Reflexion ihrer wissenschaftlichen Beteiligung am Krieg. Vielmehr erinnerten sie eindringlich an eben diese Verdienste, beispielsweise in der Rüstungsforschung oder der Wirtschaftsplanung, als es Anfang der 1920er Jahre um die Wiederherstellung und den Ausbau ihrer Einflusssphäre ging. Somit bot die Fortsetzung kriegsbedingter Denkstile weniger Anlass zu einer Reflexion, aus der neue Forschungsthemen entwickelt wurden, denn zur Fortsetzung eines bereits im Krieg, wenn nicht schon vorher eingeführten wirtschaftsnahen beziehungsweise technokratischen Denkens. Als Beispiel solcher Zusammenhänge nenne ich hier lediglich Fritz
9.3 1933
In den 1920er Jahren kam es zu grundlegenden Veränderungen in der internationalen Forschungsförderungslandschaft: Mit den großen Stiftungen in den USA und dem Sowjetsystem betraten zwei neue Akteure die wissenschaftspolitische Bühne und auch Japan begann, als Wissenschaftsnation in Erscheinung zu treten. Die Konkurrenz von Wissenschaft in Diktaturen und in der Demokratie hatte zwar noch nicht die ideologisch stereotype Form wie später im Kalten Krieg angenommen, doch in den Köpfen existierte sie bereits. In Deutschland reagierten KWI-Direktoren in Einzelfällen mit dem Eingehen neuer Allianzen, wie beispielsweise im Fall von Oskar
Anders als beim Regimewechsel 1918 scheint der KWG-Leitungsebene im Jahre 1933 – und beileibe nicht nur ihr – zunächst trotz aller Reden von einer „nationalen Revolution“ nicht ganz klar gewesen zu sein, wie grundlegend dieser Regimewechsel werden sollte. Dies zeigte sich gleich zu Beginn auf personeller Ebene in der unsicheren Anwendung des so genannten NS-Berufsbeamtengesetzes, dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ (BBG) vom 7. April 1933, auf die einzelnen Kaiser-Wilhelm-Institute.23 Interessant zu beobachten ist, dass das Gesetz hauptsächlich an den vom Staat finanzierten Instituten zum Einsatz kam, jedoch an den von der Industrie oder aus anderen privaten Mitteln finanzierten KWI nicht in derselben Konsequenz angewendet wurde. Was jedoch nicht im Umkehrschluss bedeutet, dass dort die als „Nichtarier“ kategorisierten Wissenschaftler gänzlich unbehelligt blieben. Neuere Forschungen von Reinhard
Wichtig ist dabei die Umkehrung der Perspektive, wenn danach gefragt wird, welcher und wessen Verlust hier gemeint ist. Am 16. Mai 1933 schrieb Curt
Was die weiteren Lebenswege der Entlassenen betrifft, so emigrierten etwa 60 von ihnen in die USA oder nach Großbritannien beziehungsweise sieben nach Palästina.27 Das heißt, die vertriebenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der KWG verteilten sich auf ihre jeweiligen Einwanderungsländer in etwa gleich wie ihre aus den Universitäten vertriebenen Kolleginnen und Kollegen. Trotz der vielfachen Mobilisierung zahlreicher internationaler Verbindungen und der Hilfeleistungen unterschiedlicher Hilfskomitees, konnte über ein Viertel der vertriebenen Forscherinnen und Forscher ihre wissenschaftliche Arbeit laut Reinhard
Kehren wir nun noch einmal zu den verschiedenen Ressourcentypen zurück: Was die institutionelle Seite betrifft, ist Max
Abb. 9.3: Max
Ein klassisches, inzwischen sehr gut aufgearbeitetes Beispiel der Neuverflechtung wissenschaftlicher und politischer Ressourcen nach 1933 stellt die Neupositionierung der beiden eugenisch orientierten Kaiser-Wilhelm-Institute dar. Die Zusammenarbeit von Arthur
Eine Zusammenarbeit mit Prof.Fischer erscheint gleichwohl unumgänglich, da seinem Institut zur Zeit keine andere Anstalt als gleichwertig an die Seite gestellt werden kann; auch werden dessen Einrichtungen und Lehrkräfte für die einschlägige Ausbildung von Amtsärzten und Ärzten, insonderheit zur Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses usw., dringend benötigt. Überdies ist Professor Fischer eine im In- und Ausland anerkannte Größe auf dem Gebiete der Erblehre und Rassenforschung. Er ist daher auch ohne mein Wissen seinerzeit zum ersten „gleichgeschalteten“ Rektor der Berliner Universität berufen worden.35
In Anbetracht von
Zu einer Stabilisierung dieses neuen, von Sheila
Die daraus resultierenden finanziellen Auswirkungen wurden allerdings erst allmählich sichtbar. Nach den von Rüdiger
Wenden wir uns nun ganz kurz den ideologischen Zuschreibungen zu. „Deutsche Metalle“ gab es wohl, wie Helmut
Das Thema Reflexivität war offenbar den Emigranten vorbehalten, doch davon wird im Folgenden die Rede sein.
9.4 1945
1945 fand ein tiefgreifender Wandel statt, der sich bereits schon während der Kriegsjahre abgezeichnet hatte. Hintergrund dafür waren die institutionellen Neuerungen und vor allem die außerordentlich verstärkte Wissenschaftsförderung im Krieg. Diese wiederum ging zurück auf eine Wandlung der Wissenschaftspolitik, nachdem man die Fehler der frühen Regimejahre erst zu spät erkannt hatte. Parallel dazu begingen die Nationalsozialisten ihre kriminellen Taten, die nichts anderes waren als die gewaltsame Realisierung ihrer wahnhaften Utopie einer „Reinigung des deutschen Volkskörpers“. Gemeinsam mit dem Kriegsgeschehen lösten diese Untaten eine bis dahin beispielslose Gier deutscher Forscher – darunter Angehörige mehrerer Kaiser-Wilhelm-Institute – nach pflanzlichem, tierischem oder gar menschlichem „Forschungsmaterial“ aus, das vor allem in den besetzten Gebieten leicht zu erbeuten war.44 Damit war der Weg geebnet für die moralisch enthemmten Experimente an Menschen in Dachau, Auschwitz und an anderen Orten des Grauens – mit anderen Worten: für Menschrechtsverbrechen im Namen der Wissenschaft.45 Dass es dazu kommen würde, war 1933 schwer vorstellbar. 1945 versiegten dann die Geldströme und die damit verbundene Anerkennung schwand dahin – genauso urplötzlich wie auch die Untaten.
Auf internationaler Ebene fand von Almogordo bis Wladiwostok eine Neuverteilung wissenschaftlicher Ressourcen statt. Das massive Entnahmegeschehen in den vier Besatzungszonen ist in diesem Kontext zu sehen. In der KWG und ihren Institute herrschte nun Verunsicherung. Berlin stand nicht mehr im Mittelpunkt des Geschehens, die Generalverwaltung war nach Göttingen ausgelagert und abgesehen von den wenigen in Berlin verbliebenen Instituten war die Mehrzahl der Kaiser-Wilhelm-Institute bereits mit Beginn der Luftangriffe nach Süd- und Westdeutschland evakuiert worden. Die Ausgangssituation der Institute nach Kriegsende war sehr unterschiedlich, was sowohl vom Grad ihrer Zerstörung als aber auch davon abhing, in welcher Besatzungszone sie sich befanden. Die Institute in Dahlem und Buch standen offenkundig zur Disposition und dies galt anfänglich auch für die Gesellschaft selbst.
Im Hinblick auf die personellen Ressourcen stellte zunächst die Entnazifizierung den größten Unsicherheitsfaktor dar. In seiner Untersuchung von insgesamt 87 Fällen (ein Gesamtüberblick in Zahlen fehlt bislang noch) kommt Richard
Insofern stellt sich vielleicht weniger die Frage, warum so viele der Entlassungen nicht dauerhaft waren, sondern vielmehr in welchen Fällen diese denn überhaupt von Dauer waren – und warum. In Einzelfällen wissen wir über das „wie“ der Entlassungen und Widereinsetzungen Genaueres. Im Falle Otmar von
Vor die Wahl gestellt zwischen einer selektiven, auf althergebrachten Beziehungen basierenden Kollegialität und einer Rückholung der Vertriebenen, die moralisch indiziert gewesen wäre und womöglich auch Innovationen mit sich gebracht hätte, entschied man sich – wie an den Universitäten auch – für das Erstere. Gerade solche Entscheidungen nach 1945, und nicht allein die Vertreibungen nach 1933, sind entscheidend für das Abgleiten der (bundes)deutschen Wissenschaft auf internationaler Ebene ins zweite Glied.
Kommen wir nun zur institutionellen Ebene: Wie bereits erwähnt, stand nach 1945 erstmals das Bestehen der Gesellschaft per se auf dem Spiel, und zwar aufgrund des seit der Weimarer Zeit beibehaltenen imperialen Namens. Hier galt umso mehr die eingangs formulierte Grundannahme: Kontinuität kostet Arbeit. Die Verhandlungen mit den Alliierten, die schließlich zur Neugründung der Gesellschaft unter einem neuen Namen führten, sind in jüngerer Zeit Gegenstand mehrerer Arbeiten gewesen.51 Carola
Die Sondersituation Berlins verdient hier noch eine besondere Erwähnung, um die Komplexität der Ereignisse noch stärker zu verdeutlichen. So erschien der vom Berliner Magistrat als Leiter der Berliner Institute eingesetzte Chemiker Robert
Insbesondere hinsichtlich der Forschungspraktiken kann in vielen Fällen nicht nur von einer Wiedereinstellung des Forschungspersonals, sondern auch und vor allem von einer Weiterführung alter Forschungsprogramme gesprochen werden. Das ist durch viele bekannte Beispiele belegt; offen bleibt noch, inwiefern dies für welche Institute in welchen Zonen galt.
Von der Ebene der ideologischen Zuschreibungen war bereits die Rede, als es um die Verhandlungen zum Fortbestand der KWG ging. Die Verwobenheit der Ressourcentypen gilt auch für Personal. Richard
Somit stellt sich wieder einmal die Frage nach der Reflexivität beziehungsweise dem Fehlen derselben. Carola
Zwei verlorene Weltkriege sind eine schwere Hypothek. Wir sollten daraus lernen, dass auch die größten technischen Leistungen, die größte souveräne „Tüchtigkeit“, der Glaube, dass man alles tun kann, wenn es nur Erfolg verspricht, dass dies nicht die richtige Weltanschauung sein kann.60
Abb. 9.4: Lise
Auf diese Erkenntnis folgte dann aber unmittelbar darauf im selben Text die sarkastische Ablehnung des Vorwurfs, „dass der Wissenschaftler für alle Schrecken der Kriege und Zerstörungen verantwortlich sei“.61 Konsequenterweise sei dann Albert
Das alles steht bekanntlich im starken Kontrast zur oben bereits umrissenen Haltung gegenüber den Vertriebenen. Bezeichnend ist hier nicht nur der Inhalt, sondern auch der Ton des vielfach zitierten Briefes von Lise
Ihr habt auch alle für Nazi-Deutschland gearbeitet und habt auch nie nur einen passiven Widerstand zu machen versucht. Gewiß, um Euer Gewissen los zu kaufen, habt Ihr hier und da einem bedrängten Menschen geholfen, aber Millionen unschuldiger Menschen hinmorden lassen, und keinerlei Protest wurde laut.
Ich muß Dir das schreiben, denn es hängt so viel für Euch und Deutschland davon ab, daß Ihr einseht, was Ihr habt geschehen lassen. [...] Ich und viele andere mit mir meinen, ein Weg für Euch wäre, eine offene Erklärung abzugeben, daß Ihr Euch bewußt seid, durch Euere Passivität eine Mitverantwortung für das Geschehene auf Euch genommen zu haben, und daß Ihr das Bedürfnis habt, soweit das Geschehen überhaupt gut gemacht werden kann, dabei mitzuwirken.62
Wie bereits vielfach geschehen, ist auch an dieser Stelle ironisch festzustellen, dass dieser flammende Appell seinen Adressaten auf keiner Ebene erreicht hat.63 Oben habe ich die offene Frage formuliert, ob das von mir vor Jahren geprägte Stichwort „konstruierte Kontinuitäten“ nicht nur für Karrieren, sondern auch für Forschungsprogramme gelten sollte. Stimmt das, dann mag von einer Wissenschaftsnichtwandlung mitbedingt durch fehlende Reflexivität die Rede sein.
9.5 1989 (beziehungsweise 1990)
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte von einem deutschen Wissenschaftssystem mit einer erkennbaren Struktur die Rede sein; nach 1945 wollte man jedenfalls an den Hochschulen die NS-Zeit gerne als unglückliche Zwischenzeit der Bevormundung wahrhaben und setzte die Strukturen aus der Zeit vor 1933 wieder ein. Nach 1960 begannen grundlegende Strukturwandlungen nicht zuletzt infolge internationaler Trends. 1989 stehen wir vor einem ganz anderen Hochschul- und Wissenschaftssystem als vor 1960. Derek de Solla
Ende der 1980er Jahre bestanden in den beiden deutschen Staaten getrennte Hochschul- und Forschungslandschaften, mit vereinzelten vorsichtigen Verbindungen. Das System der außeruniversitären Forschung der alten Bundesrepublik hatte sich ebenfalls stark gewandelt: die MPG war nun ein Akteur unter einer Vielzahl anderer geworden; neben der DFG und der Fraunhofer- und
Schon 1992 schrieb Renate
Der institutionelle Preis dafür ist allgemein bekannt: die Aufgabe des Störfaktors Akademie der Wissenschaften der DDR. Artikel 38 des Einigungsvertrags verfügte die die Trennung der Akademie als „Gelehrtengesellschaft“ vom Verband der Forschungsinstitute, die Auflösung des Letzteren und die „Einpassung“ dieser Forschungseinrichtungen in die bestehende Forschungslandschaft der Bundesrepublik.69 Das ist die einzige explizit wissenschaftspolitische Festlegung in diesem Dokument. Was genau „Einpassung“ sein sollte oder durfte, legte dieser Artikel jedoch nicht fest.
Um die vier Umbruchszeiten einigermaßen gleichmäßig darzustellen, muss ich an dieser Stelle darauf verzichten, auf die verschlungenen juristischen und anderen Wege des personellen und institutionellen Umbaus einzugehen, der dann folgte. Ich möchte an dieser Stelle lediglich daran erinnern, dass der strukturelle Umbau der ostdeutschen Hochschulen nach bundesrepublikanischem Muster, die Evaluierung des Personals und die Ausschreibungen neuer Professuren und Neuberufungen gleichzeitig, bei laufendem Betrieb und unter zunehmenden Finanzdruck stattgefunden haben. Auf diese Gemengelage reagierte man mit Dauerimprovisation. Zahlreiche Angehörige vor allem des Mittelbaus wurden trotz positiver Evaluierung entlassen, angeblich weil für sie keine Stelle mehr da war. 1997 verblieben an der Humboldt-Universität zu Berlin nur noch 452 von 2755, das sind 16,4 Prozent der Wissenschaftler, die dort noch 1989 fest angestellt waren.70
Parallel dazu verlief die bereits vor Oktober 1990 begonnene, vom Wissenschaftsrat organisierte Evaluierung der Institute und Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften. Mehrere natur- und medizinwissenschaftliche Institute wurden positiv evaluiert und ihr Personal wenigstens zum Teil übernommen – allerdings unter neuem Namen und neuer Leitung. Aus anderen bildete man Schwerpunkte, die in neue beziehungsweise bestehende Einrichtungen beispielsweise der MPG oder Fraunhofer-Gesellschaft integriert wurden. Im Fall der positiv evaluierten Forscher, die in diesem Rahmen nicht untergebracht werden konnten – und das waren immerhin mehrere tausend –, ging man von der Annahme aus, diese würden zur Stärkung der universitären Forschung benötigt und auch dort unterzubringen sein. Diese Annahme erwies sich jedoch als falsch, die Unterbringung fand im Allgemeinen nicht statt.
Wenn wir uns nun schließlich der Rolle der MPG hierbei zuwenden, so führen zwei methodologische Probleme dazu, dass die Analyse hier anders formuliert werden muss, als im Fall der drei vorausgegangenen Umbrüche. Das erste Problem ist der bereits zuvor erwähnte fehlende Aktenzugang; das zweite besteht in der Anwesenheit und Zeitzeugenschaft der Betroffenen. In gewisser Hinsicht zählt auch der Autor dieser Zeilen indirekt dazu, denn ich war in den 1990er Jahren zu längeren Forschungsaufenthalten in Berlin – darunter als Gastforscher an zwei Einrichtungen der „Gesellschaft zur Förderung wissenschaftlicher Neuvorhaben“ – und wurde dadurch ebenfalls Zeuge des Geschehens.
Beginnen wir mit dem Personal. Die Auflösung und „Einpassung“ der Institute der DDR-Akademie und die „Abwicklungen“ an den Universitäten – dort vor allem die Übernahme westdeutscher Personalstrukturen – führten nach Stand der bisherigen Forschung insgesamt zu einem kaum vorstellbaren Verlust an Arbeitsplätzen in den Neuen Bundesländern. Allein an den Hochschulen ging der Stellenbestand des wissenschaftlichen Personals von 1989 bis 1994 um 13.300 auf 24.500 Stellen zurück – ein Abbau von 35 Prozent; an den Universitäten betrug der Verlust – ohne Berücksichtigung der medizinischen Fakultäten – sogar 52 Prozent.71 Auch wenn die genannte Zahl abgebauter Stellen nicht ohne weiteres mit einer Zahl entlassener Personen gleichgesetzt werden darf, stellt diese eine einmalige Größenordnung im Vergleich zu den früheren Wissenschaftswandlungen dar. Hinsichtlich der inter- oder transnationalen Auswirkungen all dessen ist eine glatte Umkehrung der Verhältnisse nach 1933 zu konstatieren: Während die überwiegende Mehrheit der ab 1933 vertriebenen Wissenschaftler emigrierten, verblieb die große Mehrheit der ostdeutschen Wissenschaftler im Lande, ob mit oder ohne Stelle. Die vielfach betonte „sozial verträgliche“ Gestaltung des Vereinigungsprozesses wirkte hier also mobilitätshemmend.72
Im Hinblick auf das jetzige Thema ist aber nur ein Punkt wichtig: Die Übernahme von ostdeutschem Personal in den Einrichtungen, die unter der Obhut der MPG in den neuen Ländern entstanden sind, blieb sehr gering. Leider ist es mir auf der Grundlage der Angaben in den Jahresberichten der MPG aus dieser Zeit nicht möglich, genauer zu bestimmen, wie viele dieser Forscher aus der DDR kamen. Plausibel ist wohl die Annahme, dass dies im Fall der Arbeitsgruppen und geisteswissenschaftlichen Forschungszentren in großem Maße, an den neuen Max-Planck-Instituten hingegen weniger der Fall gewesen ist. Das heißt, dass für die Arbeitsgruppen und Institute der MPG in den neuen Bundesländern im Wesentlichen das gleiche Fazit wie schon oben für die Universitäten gezogen werden kann: positiv evaluierte DDR-Wissenschaftler konnten an den Universitäten im Großen und Ganzen nicht untergebracht werden. Dennoch sind immerhin mehrere Arbeitsgruppenleiter Professoren geworden; doch darüber, wie viele ihrer AG-Mitarbeiter mitkommen durften, schweigen sich die Jahresberichte aus.
Auf institutioneller Ebene steht die bereits angedeutete Positionierung der MPG als zentraler Akteur bei der Neugestaltung der ostdeutschen Forschungslandschaft im Mittelpunkt, und zwar im Rahmen des bereits beschriebenen Verhandlungsergebnisses. Nehmen wir die eben genannten Jahresberichte der MPG zur Hand, so ist ein Förderungskonzept für die Neuen Bundesländern im Bericht für das Jahr 1991 zu finden, eine klare Darstellung des Ablaufs insgesamt ist aber erst im Bericht für das Jahr 1993 zu lesen.73 Demnach sei bereits im Juli 1990 von einem Sofortprogramm sowie einem mittel- und längerfristigem Programm die Rede gewesen. In nuce bestand das Sofortprogramm aus den bereits genannten 28 befristeten Arbeitsgruppen. Hinzu kamen geisteswissenschaftlichen Forschungsschwerpunkte, die mit einer eigenen Trägerschaft mit eigener Rechtsform – der „Förderungsgesellschaft Wissenschaftliche Neuvorhaben mbH – versehen werden sollten. Der leitende Gedanke dabei sollte die „Stärkung“ der Forschung an den Universitäten der Neuen Bundesländer gewesen sein.74 Dass diese „Stärkung“ auf einer falschen Annahme beruhte, habe ich oben bereits dargelegt. Parallel dazu sollte im Rahmen des Langzeitprogramms die Gründung weiterer MPIs in den Neuen Bundesländern beginnen, was gemäß dem normalen Verfahren vor sich gehen sollte. Hierbei sind drei Grundsätze erkennbar: eine Etablierung der MPG in den neuen Ländern analog zur Gesellschaftsform in der alten Bundesrepublik, was auch bedeutete, eine möglichst gleichmäßige regionale Verteilung, mit mindestens einem MPI in jedem Bundesland; die Eigenständigkeit der MPG bei der Gestaltung der Institutsgründungen unter Beibehaltung des bisherigen Verfahrens; und schließlich die Finanzierung all dessen durch zusätzliche Mittel des Bundes, der Länder oder aus anderen Quellen, soll heißen – möglichst ohne Mittelkürzungen im Westen.75
Bis auf den letzten Punkt, der sich wie ein Grundton durch alle diesbezüglichen Texte jener Zeit zieht, ist vom Aufbau in den neuen Bundesländern in den Jahresberichten für 1990 und 1991 nur partiell und keinesfalls in dieser Klarheit die Rede. Das legt die Vermutung nahe, dass diese programmatische Klarheit anfangs noch gar vorhanden war, sondern erst im Lauf des Geschehens entstanden ist.
Abb. 9.5: Der 1997 eingeweihte Neubau des MPI für Mikrostrukturphysik in Halle a.d. Saale, das aus dem Institut für Festkörperphysik und Elektronenmikroskopie der Akademie der Wissenschaft der DDR hervorgegangen ist und am 1. Januar 1992 als erstes Institut der MPG in den neuen Bundesländern seine Arbeit aufgenommen hatte.
Abb. 9.6: Präsident
Diese glatte Post-hoc-Darstellung76 verbirgt – um nicht zu sagen: verschleiert – ein überaus komplexes Geschehen vor Ort, geprägt von immer neuen Wandlungen der politischen, finanziellen und strukturellen Bedingungen; immer wieder musste mit den Ländern und der Bundesregierung neu verhandelt werden. Gelegentlich scheint etwas davon in den Jahresberichten durch; so steht beispielsweise im Bericht für das Jahr 1992, mehrere bereits beschlossene Institutsgründungen können nicht so schnell wie geplant verwirklicht werden – mangels geeigneter Grundstücke. Noch wichtiger ist wohl die Feststellung, dass sich der eben genannte Grundsatz – die MPG macht mit, aber nur wenn es im Westen nichts kostet – als ebenfalls nicht haltbar erwies. Die in dieser Hinsicht flammende Rede des damaligen Präsidenten Hans F.
Das dadurch – oder trotz alledem – bedeutende Neugründungen möglich waren, ist aber keinesfalls zu leugnen. Dazu gehört bekanntlich auch das MPI für Wissenschaftsgeschichte, über das bislang noch keine ausführliche eigene Darstellung vorliegt. In der Gründungszeit war ich selbst, wie bereits erwähnt, in Berlin als Gastforscher einer der oben genannten Einrichtungen der „Gesellschaft wissenschaftlicher Neuvorhaben“ tätig. Von den damaligen ostdeutschen Kollegen sind einige noch heute dort tätig. Und mein damaliger Eindruck hat sich in den Gesprächen, die ich mit verschiedenen Beteiligten in der letzten Zeit geführt habe, bestätigt. In vielen dieser damaligen Fälle ging es um die Verwirklichung lang gehegter Träume und Projekte westdeutscher Forscher unter Einbeziehung personeller Ressourcen aus dem Osten.
Nun kommen wir wieder zur Ebene der ideologischen Zuschreibungen: Zum Begleitdiskurs dieser Macht- und Verteilungskämpfe gehörten schon sehr früh Schlagworte, die Politik und Wahrnehmung der nächsten Phasen mitstrukturieren sollten. Zum vielfältigen Bedeutungswandel der Schlagworte „Demokratie“ und „Erneuerung“ in diesem Bereich habe ich an anderer Stelle berichtet.78 Relevant für das Thema hier ist wohl eines der am häufigsten kolportierten Schlagworte, nämlich die Aussage des damals gerade neu gewählten MPG-Präsidenten Hans F.
Wie schon in der Zeit nach 1945, scheint Reflexivität im wilden Verteilungskampf eher von Nachteil gewesen zu sein. Bis heute ist eine solche bei ostdeutschen Wissenschaftlern nur in einzelnen Fällen vorhanden; gilt dies auch für die MPG? Als Beispiel unter vielen mag der Fall der damaligen MPI-Direktorin Renate
9.6 Schluss
Gibt es hier überhaupt einen großen Bogen? Muss es einen geben? Um Missverständnissen vorzubeugen: Es war und ist nicht meine Absicht, die Existenz eines Kausalzusammenhangs zwischen politischen Regimewechseln und grundlegendem Wissenschaftswandel zu postulieren. Die großen Umbrüche der Wissenschaft, wie etwa die Relativitätstheorie, die Quantenmechanik, die Nuklearphysik, die Molekularbiologie oder die Theorie chemischer Verbindungen, können sehr wohl mit der politischen Ereignisgeschichte des 20. Jahrhunderts in Verbindung gebracht werden, aber nicht so, dass sich behaupten ließe, der eine hätte jeweils den anderen verursacht. Was meiner Meinung nach aber schon erklärt werden kann, ist das Timing und die Beschaffenheit von Wissenschaftswandlungen in politischen Umbruchzeiten. Ziel dieser Überlegungen war und bleibt die Auslotung sowie die mögliche, mittels Analyse zu erzielende Ordnung von Kontingenzen. Früher hieß das in der Sozial- und der Geschichtswissenschaft: Erklärungen auf der mittleren Ebene.
Wenn sich ein großer Bogen mithilfe dieser Analysen ziehen lässt, dann im Hinblick auf eine Historisierung des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik. Andere haben diese Entwicklung bereits mehrfach als zunehmende Verzahnung oder gegenseitige Abhängigkeit der beiden voneinander bezeichnet. Und sie haben auch gezeigt, wie diese verstärkte Wechselwirkung konkret mitbedingt und diskursiv vermittelt wird durch eine zunehmende Formulierung von Politik selbst als problemlösende und nicht mehr nur identitätsstiftende oder Gesinnungsinstanz sowie durch eine zunehmende Formulierung moderner Wissenschaft ebenfalls im Diskurs einer (durchaus technokratisch gedachten) Beherrschung der Natur wie auch der sozialen Welt.84 Auch hier soll nicht behauptet werden, dass die hier besprochenen Regimewechsel solche langandauernden, grundlegenden Wandlungen der institutionellen Strukturen oder der gedanklichen Ausrichtung wissenschaftlicher Forschung allein verursacht hätten. Dass sie in diesem Geschehen eine wichtige, zuweilen gar beschleunigende Rolle in diesem Geschehen spielten, scheint aber anhand der hier vorgetragenen Beispiele klar zu sein.
Wie eingangs angekündigt, habe ich nun einen Zwitter, eine Mischung aus einer eigenwilligen Ernte geleisteter Forschung und den ersten Bruchstücken einer neuen Interpretation dieser und älterer Forschungsergebnisse, vorgelegt. Was wird gewonnen, wenn man so vorgeht? Wie ich meine, wird auf diese Weise ein Blick für das dynamische Geschehen auf der Mikroebene ermöglicht, und ebenso dafür, dass und wie Verhältnisse von Wissenschaft und Politik (also auch was jeweils Politik und was Wissenschaft sein sollen beziehungsweise sein dürfen) während der jeweiligen Umbrüche neu verhandelt werden, Alle relevanten Einzelheiten im Detail darzustellen und für die Zeit nach 1990 neu zu erforschen wäre ein noch viel größeres Projekt, als das Forschungsprogramm „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus“, das immerhin 17 Bände und zahlreiche weitere Publikationen produziert hat. Ich rufe wohlweißlich nicht zu solch einem neuen Projekt auf!
Stimmen nun die eingangs gemachten Grundannahmen? Die erste war, dass Kontinuität in Zeiten politischer Umbrüche keine Selbstverständlichkeit, sondern eher Wandlung der Norm sei. Das stimmt, aber noch weitaus zutreffender ist, dass Kontinuität – sei es in personeller oder in institutioneller Hinsicht oder im Hinblick auf wissenschaftliche Forschungsprogramme – Arbeit kostet, auch wenn diese Arbeit in den verschiedenen Umbruchzeiten aufgrund der unterschiedlichen gesamtpolitischen Situation anders organisiert werden musste. Vor zwanzig Jahren hat Niklas
Die zweite Annahme bestand darin, dass bei jedem der vier hier behandelten Regimewechsel anfangs Unklarheit darüber bestanden habe, was als Politik, aber auch darüber hinaus, was als Wissenschaft gelten soll oder wird. Somit mag sogar denkbar sein, diese Betrachtungen im Rahmen einer historischen Epistemologie weiterzuführen – vorausgesetzt, man weicht die Politikferne etwas auf, die dieser Richtung bislang, aber wie ich meine, nicht notwendigerweise inhärent zu sein scheint.
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Fußnoten
Vgl. hierzu u.a. Ash (2010e, 11–46).
Weber (1968, 490f.).
Raphael (1996, 165–193).
Ash (2002, 32–51; 2006, 19–37).
Latour (1987). Bemerkenswerterweise ist dieses Werk im Gegensatz zu vielen anderen Büchern des Autors bis heute noch nicht ins Deutsche übersetzt worden.
Schirrmacher, 19. November 2002, http://www.hsozkult.de/hfn/publicationreview/id/rezbuecher-1860.
Vgl. hierzu Witt (1990, 579–656).
Hachtmann (2007b, 101).
Ebd., 140.
Maier (2007, Bd. 1,138–152).
Planck auf der Sitzung der Preußischen Akademie der Wissenschaften vom 14. November 1918, zitiert nach Hachtmann (2007b, 102).
Carl Duisberg, Rede vor der Hauptversammlung des „Vereins zur Wahrung der Interessen der Chemischen Industrie Deutschlands“ 1921, abgedruckt in Duisberg (1923, 604).
Harwood (1993, 183–212).
Haber (1924), vgl. hierzu ausführlicher Ash (2008, 318–320) sowie die dort zitierte Literatur.
Vgl. dazu ausführlich Hachtmann (2007b, 372–393).
Zusammengezählt aus: Rürup (2008, 92–134); vgl. die nur leicht abweichenden Zahlen in Schüring (2006).
Eigene Zählung des Autors auf der Grundlage der Angaben in Schüring (2006, 88–103), abzüglich der nichtwissenschaftlichen Kräfte sowie des Direktors Fritz Haber, der als aktiver Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg von der Entlassung formal ausgenommen war, aber selbst zurücktrat.
Ebd., 121.
Vgl. Hachtmann (2007b, 372–393). Zur parallelen Tätigkeit und Haltung Plancks als Sekretar der Naturwissenschaftlichen Klasse der Berliner Akademie der Wissenschaften, vgl. Hoffmann (2000, 53–86).
Für eine quellen- und auch sonst kritische Betrachtung dieser Episode vgl. Albrecht (1993, 41–63).
Für Beispiele siehe u.v.a. Hachtmann (2007b, 353–360).
Beyler (2004, hier: S, 10f.).
Weiss (2010, Kap. 2).
Eugen Fischer, Tätigkeitsbericht des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, 15. Juni 1933. Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin, KWI-Anthropologie, Band 2399.
Arthur Gütt an Richard Walther Darré, 23. Mai 1934, BAB, R 1501 126245/218.
Ebd.
Zur Ernennung Butenandts und seines Eintritts in die NSDAP vgl. Schieder (2004, 37–40) sowie Gausemeier (2003, 91f.). Zu Thiessen vgl. Schmaltz (2005, 96–123 sowie 2007, 312).
Trischler (1999, 328–362).
Hachtmann (2007a, 561–598).
Gausemeier (2003, 101). Die Unterstützung der Rockefeller-Stiftung wurde Kühn allerdings während seiner Zeit als Professor in Göttingen gewährt und lief bereits vor der Ernennung Kühns zum Mit-Direktor am KWI für Biologie im Jahr 1937 aus.
Maier (2002, 357–388).
Stubbe (1935, 65–71); vgl. Deichmann (1992, 169).
Für eindrucksvolle Beispiele vgl. Deichmann (2001, Kap. 8)
Sachse (2002, 217–246).
Für Einzelheiten zum Vorgang siehe erstmals Adam und Lingelbach (2013, 915–918); vgl. ausführlicher Kroner (1997) und Sachse (2002).
Rürup (2008, 132); vgl. die detaillierten Schilderungen und Analysen in Schüring (2006, 137–361).
Vgl. Oexle (1994, 43–60), und insbes. Hachtmann (2007b, 1089–1095). Zum Kontext vgl. Sachse (2010).
Sachse (2009, 97–141).
Hachtmann (2007b, 1080).
Lewis (2004, 403–443).
Vgl. Schüring (2006, 268–291) und Hachtmann (2007b, 1156–1205).
Ash (2010b, 215–246).
Hahn (1975, 194). Zum Kontext vgl. Ash (2008, 325f.).
Zitiert nach Sime (2001, 397f.). Auch in: Deichmann (1995, 371–373).
Über die Hintergründe dafür: Sime (2001, 399f.); Walker (2003).
Solla Price 1974. Erstmals erschienen in New York 1963.
Vgl. hierzu ausführlicher Ash (2010d, 45–55; 2010c, 200–204).
Mayntz (1992, 64–82).
Ebd. 66.
Der Einigungsvertrag. Der vollständige Text mit allen Ausführungsbestimmungen und Erläuterungen, 2. Aufl. Bonn 1990. Art. 38.
Burkhardt (1997, 323f., Tabelle 10).
Für diesen Vergleich siehe bereits Ash (1999a, 336 sowie 2004, 81). Ausnahmen wie der Mathematikhistoriker Reinhard Siegmund-Schulze, der eine Professur in Norwegen erhielt, sind in Fachkreisen bekannt.
Zum Förderungskonzept siehe MPG (1991, 93f.). Ansätze zu einer Gesamtdarstellung stehen unter dem Titel „Aufbau in den Neuen Bundesländern“ in: MPG (1992, 99–106).
Diese Formulierung mag noch verstärkt gelten für die spätere Broschüre, Gelungener Aufbau. Max-Planck-Institute in den Neuen Bundesländern 2003.
MPG (1992, 21–30), insbesondere „Schwerpunkte des Jahres – Strukturelle und quantitative Haushaltsprobleme“.
Ash (1999b, 105–135; 2010d, 45–55).
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Juni 1990.
Zapf (1990, 23–39).
Mayntz (1992, 64–82).
Vgl. bereits Weingart (1983, 225–241).
Luhmann (1992, 335f., 348, 623).