7 Harnacks „Großbetrieb der Wissenschaft“ in der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft

Helmuth Trischler

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10.34663/9783945561010-08

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Trischler, Helmuth (2015). Harnacks „Großbetrieb der Wissenschaft“ in der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft. In: „Dem Anwenden muss das Erkennen vorausgehen“: Auf dem Weg zu einer Geschichte der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft (Second Extended Edition). Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

Was den Universitäten ihr Wilhelm von Humboldt ist, ist der Max-Planck-Gesellschaft ihr Adolf von Harnack. Beide Repräsentanten deutscher Geistesgröße stehen für die Erfindung einer Tradition (Eric Hobsbawm). Sie repräsentieren im Feld der Wissenschaft mythisch überhöhte Autoritäten, auf die sich nachgerade zeitlos argumentativ zurückgreifen lässt. Dass sich die dabei jeweils vorgebrachten Argumente häufig souverän von den historischen Kontexten lösten, liegt in der Natur des Mythos als polyvalentes Narrativ, das einen weiten Interpretations- und Anwendungsraum eröffnet. Mythen entspringen dem anthropologischen Bedürfnis nach Orientierung im Angesicht des „Absolutismus der Wirklichkeit“ (Hans Blumenberg), und sie lösen sich dabei von ihrem Entstehungszusammenhang.

So hat die Wissenschafts- und Universitätsgeschichte längst nachgewiesen, dass die durch eine integrale Einheit von Lehre und Forschung geprägte Universität, wie sie Wilhelm von Humboldt im Vorfeld der Berliner Universitätsgründung von 1810 in seinem Manuskript „Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten“ skizziert hatte, ein Mythos ist.1 Weder bestimmte die Einheit von Forschung und Lehre den Alltagsbetrieb deutscher Universitäten, noch orientierten sich die Debatten um deren Reform im frühen 19. Jahrhundert an Humboldt und Berlin, sondern nahmen sich meist Halle und Göttingen zum Vorbild. Humboldts Manuskript wurde bezeichnenderweise erst 1903 veröffentlicht und entfaltete seine bis heute anhaltende Wirkung als historisch entkontextualisierter Referenzrahmen erst im Zusammenhang mit der Universitätsreformdebatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Berliner Universitätsjubiläum von 1910 als Kulminationspunkt. Wie intensiv der Humboldt’sche Mythos von der Einheit von Forschung und Lehre als überzeitliches Konstituens der deutschen Universität in der Öffentlichkeit und insbesondere in der wissenschaftspolitischen Öffentlichkeit immer wieder argumentativ-legitimatorisch bemüht wird, zeigte sich dann nicht weniger imposant ein weiteres Jahrhundert später im Doppeljubiläumsjahr 2010/11, als die Berliner Universität ihr zweihundertjähriges Bestehen und die Max-Planck-Gesellschaft ihren hundertsten Geburtstag feierten. Hier erlebte die Debatte um die Reform- und Zukunftsfähigkeit der deutschen Universitäten einen neuerlichen Höhepunkt, und die Humboldt’sche Einheitsformel stand unbeschadet aller historischer Entmythisierungsarbeit im diskursiven Zentrum.

Es gehört zu den Ironien deutscher Wissenschaftsgeschichte, dass es gerade die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1910/11 war, die im Grunde das Humboldt’sche Einheitsprinzip aushebelte. Mit der Verlagerung von Forschung in den außeruniversitären Raum, die bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begonnen hatte und am Vorabend des Ersten Weltkriegs dann in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft kulminierte, zerbrach die viel beschworene Einheit von Forschung und Lehre vollends. Adolf von Harnack begründete die Wissenschaft als ein autonomes Sozialsystem, das getrennt von Politik oder gar Militär agiert. Die Transformation des deutschen Wissenschaftssystems zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollendete die Autonomie der Wissenschaft als gesellschaftliches Subsystem eigener Logik – eine deutliche Zäsur nach einem Jahrhundert der Entwicklung der Universität durch die Praxis ihrer Disziplinen.

Nicht weniger aktuell, lebendig, präsent und wirkungsmächtig als das Humboldt’sche Einheitsprinzip ist das Harnack-Prinzip der Max-Planck-Gesellschaft. Rudolf Vierhaus, der langjährige Direktor des Max-Planck-Instituts für Geschichte, hat in kritischen Blicken auf den „Mythos“ Harnack-Prinzip mehrfach darauf verwiesen, dass dieses Prinzip nicht allein auf die zentrale Stellung des Institutsdirektors reduziert werden dürfe.2 In der Tat ging es dem stets um Elastizität und Anpassungsfähigkeit an sich verändernde politisch-gesellschaftliche Kontexte bemühten Harnack um ein ganzes Set von Bedingungen für die Forschung, die er durch die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft realisieren wollte: um Freiräume für die Grundlagenforschung, um den Schutz der Forschung vor „Clique und Kapital“, wie er die Gefahr einer Einflussnahme durch Politik, Bürokratie, Industrie und Hochfinanz in drastischen Worten formulierte, um die Institutionalisierung von Forschung an den Grenzgebieten der Wissenschaft, um die Mobilisierung mäzenatischer Mittel als Gegenpol zu staatlicher Alimentierung, und zuvorderst auch darum, eine Balance zwischen Leitung und Mitarbeit in der modernen, arbeitsteilig organisierten Wissenschaft zu finden.3

Der berühmte Althistoriker Theodor Mommsen begründete die Wahl Harnacks in die Preußische Akademie der Wissenschaft im Jahr 1890 damit, dass der dynamische Berliner Theologe dazu berufen sei, Großprojekte moderner Wissenschaft zum Erfolg zu führen und damit das soziale Problem der „Grosswissenschaft“ zu lösen – eine Wissenschaft, „die nicht von Einem geleistet, aber von Einem geleitet wird“.4 Harnack sollte Mommsen nicht enttäuschen. In seinem aufsehenerregenden und schlagwortprägenden Artikel in den Preußischen Jahrbüchern von 1905 „Vom Großbetrieb der Wissenschaft“, die als Gründungsschrift der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gelesen werden kann, entwarf Harnack das Bild eines arbeitsteilig organisierten Forschungsunternehmens. Wissenschaft sei zwar im Grunde und letztlich immer die Sache des Einzelnen, aber „es gibt Aufgaben, deren Bewältigung ein Menschenleben weit übersteigt, es gibt ferner Aufgaben, die so viel Vorbereitungen verlangen, dass der Einzelne bis zur Aufgabe selbst gar nicht vorzudringen vermag; [und] es gibt endlich solche, die durch ihre Kompliziertheit eine Arbeitsteilung erfordern.“5

Hier findet sich bereits das später als Harnack-Prinzip kanonisierte Konzept formuliert, arbeitsteilige Wissenschaft um eine herausragende Forscherpersönlichkeit herum zu organisieren, das die Max-Planck-Gesellschaft bis heute als ihr ureigenes Organisationsprinzip ansieht – allerdings in einer Formulierung, die das Aufeinanderbezogensein von Leitung und Mitarbeiterschaft betont. Wie groß ein Großbetrieb der Wissenschaft sein solle und dürfe, um sich noch sinnvoll in den korporativen Rahmen der KWG und Max-Planck-Gesellschaft eingliedern zu können – diese Frage wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts dann immer wieder neu und durchaus kontrovers diskutiert, in und außerhalb der in Berlin – und heute in München – ansässigen Forschungsgesellschaft.

In der Debatte um die Großforschung, unter der zu unterschiedlichen Zeiten ganz Unterschiedliches verstanden wurde, spiegeln sich das Selbstverständnis und die sich verändernde Rolle und Position der KWG/MPG im deutschen Wissenschaftssystem. Es ist bemerkenswert und signifikant zugleich, wie häufig man dieser Debatte in der hundertjährigen Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft begegnet, und dies nicht erst seit den 1960er Jahren, als der Begriff der „Großforschung“ in Deutschland in einem Prozess diskursiver Transformation des angloamerikanischen Referenzbegriffs Big Science „erfunden“ wurde.6 Schon Mommsens Rede von der „Grosswissenschaft“ und Harnacks Auslassungen zum „Großbetrieb der Wissenschaft“ verweisen darauf, dass ein das gesamte 20. Jahrhundert überspannender Diskurs über Größendimensionen in der arbeitsteilig organisierte Forschung existierte, in deren Zentrum auch und gerade die KWG/MPG mit ihren Instituten stand.

Umso mehr lohnt es sich, dieser säkularen Debatte im Folgenden nachzugehen. Anhand von drei ausgewählten Fallbeispielen, die unterschiedliche Forschungsfelder und unterschiedliche Zeitperioden abbilden, wird untersucht, wie erstens Akteure aus Wissenschaft und Politik der KWG/MPG auf die inhärente Wachstumsdynamik moderner Wissensgesellschaften reagierten, und zweitens in kontroversen Aushandlungsprozessen stets von Neuem den institutionellen Ort der KWG/MPG im deutschen Wissenschaftsgefüge zu bestimmen versuchten. Die drei diachron angelegten Fallgeschichten manifestieren diskursive Brennpunkte in der KWG/MPG-Geschichte: das Wachstum der Aerodynamischen Versuchsanstalt in Göttingen im Kontext der nationalsozialistischen Rüstungspolitik und die Debatte um ihre Trennung vom KWI für Strömungsforschung in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre (1), die Strukturreform der MPG Ende der 50er und die Institutionalisierung der Hochenergiephysik in der Bundesrepublik in den 1960er Jahren (2) und die Gründung des MPI für Biochemie in Martinsried an der Wende zu den 1970er Jahren (3).7

In all diesen Fällen drehten sich die kontrovers geführten Debatten um die Leitfrage der Vereinbarkeit des ehernen Harnack-Prinzips mit den Strukturen und Erfordernissen der sich entwickelnden Großforschung. Mit anderen Worten: Für die MPG waren die Herausforderungen, mit denen sie sich durch die Großforschung konfrontiert sah, der ultimative Härtetest für das Harnack-Prinzip, das in diesen Debatten nicht zuletzt in kreativer Weise semantisch umgedeutet wurde. Das Harnack-Prinzip, dies sei als Fazit vorweggenommen, erwies sich dabei als flexibel genug, um sich jeweils an die sich verändernden wissenschaftspolitischen und gesellschaftlichen Kontexte anzupassen.

7.1 Großforschung im Kontext der Rüstungsdynamik:
Die Aerodynamische Versuchsanstalt Göttingen

Die erste Fallgeschichte erzählt die beispiellos dynamische Expansion eines Instituts, das gleichsam aus dem Institutsverbund der KWG/MPG herauswuchs und die sorgsam austarierte Balance der Gesellschaft ebenso zu sprengen drohte wie ihre Autonomie gegenüber staatlicher Einflussnahme, und damit eines der höchsten Güter im historisch gewachsenen Selbstverständnis der Gesellschaft: das „Kaiser-Wilhelm-Institut für Strömungsforschung, verbunden mit der Aerodynamischen Versuchsanstalt in Göttingen“, wie der offizielle Institutsname seit 1923 lautete. Dieser lange Name des Göttinger Instituts verweist bereits auf dessen komplexe Struktur und die nicht weniger komplexe Gemengelage der beteiligten Akteure und Institutionen.

Abb. 7.1: Transsonischer Windkanal in der AVA, 1963.

Abb. 7.1: Transsonischer Windkanal in der AVA, 1963.

Die Göttinger Einrichtung geht auf die von Ludwig Prandtl aufgebaute Modellversuchsanstalt der 1906 gegründeten Motorluftschiff-Studiengesellschaft zurück.8 Prandtl legte mit der Entdeckung der Grenzschichttheorie und der Tragflügeltheorie die Grundlagen der Aerodynamik als neue Forschungsdisziplin und damit die wissenschaftliche Basis für die sich rasch entwickelnde Luftfahrttechnik. Die Modellversuchsanstalt sollte bereits 1910/11 mit Gründung der KWG auf Betreiben von Prandtl und seinem Mentor, dem berühmten Göttinger Mathematiker und Wissenschaftsorganisator Felix Klein, als Institut für Aerodynamik und Hydrodynamik in die Trägerschaft der KWG übernommen werden. Präsident Harnack sah die Luftfahrt durchaus „im Zentrum des allgemeinen Interesses“, prophezeite ihr eine „unermeßliche Zukunft“ und signalisierte daher großes Interesse, das Prandtl’sche Institut als Forschung im nationalen Interesse, die er in seiner Gründungsdenkschrift aus dem Jahr 1909 als eines der Hauptziele der KWG formuliert hatte, in ihren Verbund aufzunehmen.9 Prandtls Hoffnungen, bereits im Sommer 1914 mit dem Bau des neuen Instituts zu beginnen, scheiterten jedoch einstweilen am Veto des Preußischen Finanzministers.

Unter dem Druck des Ersten Weltkrieges begann sich diese Blockade aufzulösen. Staat und Militärs erkannten nun deutlicher als zuvor die Bedeutung aerodynamischer Forschung für die sich rasant entwickelnde Luftfahrttechnik. Prandtl gelang es, 1917 die „Modellversuchsanstalt für Aerodynamik“ aufzubauen, die bezeichnenderweise aber – sehr zu seinem Leidwesen – auf den Luftfahrtsektor reduziert war. Mitten in den Bestrebungen, die Modellversuchsanstalt zu einem das gesamte Gebiet der Strömungsforschung umfassenden Zentrum auszubauen und innerhalb der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft institutionell stabil zu verankern, erreichte ihn 1920 der Ruf auf den Lehrstuhl für Mechanik der Technischen Hochschule München, die bedeutendste Professur dieser Fachrichtung im gesamten Reich. Das Angebot aus seiner bayerischen Heimat war eine hohe Ehre und Verpflichtung, zumal es maßgeblich von Prandtls Schwiegervater, dem renommierten Statiker und Technischen Mechaniker August O. Föppl (1854–1924), betrieben worden war. Als Prandtl Bereitschaft signalisierte, den Ruf anzunehmen, unternahm Felix Klein alles, um ihn in Göttingen zu halten. Klein gelang es, die KWG und das preußische Kultusministerium zu der Zusage zu bewegen, Prandtl mit den Direktoren der Kaiser-Wilhelm-Institute gleichzustellen. Doch Prandtl ging aufs Ganze: Nur wenn die KWG den Ausbau der AVA zu einem KWI für Hydrodynamik „mit allem Ernst“ betreiben würde, sei er bereit, den Ruf der TH München abzulehnen.10 Den Münchnern signalisierte er, nur unter der Voraussetzung zu kommen, dass die Professur zweigeteilt werde. Dazu aber war der bayerische Landtag einstweilen nicht bereit. Als das bayerische Kultusministerium im Sommer 1921 auf eine Entscheidung drängte, ohne die Genehmigung zur Teilung des Lehrstuhls erteilen zu können, sagte Prandtl ab. Seine Münchner Unterstützer gaben jedoch nicht auf, erwirkten im Jahr darauf die gewünschte Zweiteilung und erteilten einen erneuten Ruf. Nun war für die KWG vollends Eile geboten. Mitten in der Hyperinflation erwirkte Generalsekretär Friedrich Glum die Zusage des Reiches, das geplante KWI für Hydrodynamik mit 500 Millionen Mark im Gegenwert von 100.000 Goldmark zu unterstützen und den Berliner Industriellen Walter Hoene zu einer Stiftung in gleicher Höhe zu veranlassen. Prandtl sagte nun endgültig zu, in Göttingen zu bleiben. 1923 wurde das KWI für Strömungsforschung verbunden mit der AVA offiziell gegründet. Die komplizierte Struktur des Gesamtinstituts mit getrennter Geschäfts-, Haushalts- und Buchführung der beiden Teilinstitute verweist aber auf eine schwierige Gemengelage. Prandtl leitete das KWI, während sein Schüler Albert Betz (1885–1968) für die AVA verantwortlich zeichnete.

Im Zuge der nationalsozialistischen Rüstungspolitik erlebte das Göttinger Institut ein rasantes Wachstum. Prandtl und Betz konnten ihre Expansionspläne gar nicht groß genug dimensionieren. Das Reichsluftfahrtministerium regte ständig eine Korrektur nach oben an. Bereits 1934 hatte sich der Personalstand von 86 auf über 200 Mitarbeiter vergrößert. Zwei Jahre später hatte die AVA 450 Personen auf ihrer Gehaltsliste und 1938 nicht weniger als 700. Innerhalb weniger Jahre hatte sich die Struktur der AVA grundlegend geändert. Sie war ein wissenschaftlicher Großbetrieb geworden mit hochmodernen Forschungs- und Versuchsanlagen, die im Dreischichtenbetrieb rund um die Uhr gefahren wurden, um die Aufträge der Industrie zu bewältigen. Die Grundlagenforschung kam „auf die Dauer dabei etwas zu kurz“, wie man in der Generalverwaltung der KWG kritisch beobachtete.11

Die Generalverwaltung war daher nicht völlig abgeneigt, als das Reichsluftfahrtministerium recht unmissverständlich zu erklären gab, dass die AVA aus dem Verbund der KWG herausgelöst werden sollte, um direkt dem Zugriff der Luftrüstungsadministration unterstellt werden zu können. Nach einer intensiven und durchaus kontrovers geführten Debatte einigte man sich schließlich 1937 darauf, AVA und Kaiser-Wilhelm-Institut zu separieren. Der Kompromisscharakter dieser Entscheidung drückte sich auch in der neuen Namensgebung aus: Aerodynamische Versuchsanstalt in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, was de facto jedoch ein Euphemismus war, denn die KWG hatte im Grunde keinen Einfluss mehr auf ihr ehemaliges Institut, das nun ausschließlich für die Luftrüstung arbeitete. Albert Betz als Wissenschaftlichem Leiter wurde ein Kaufmännischer Leiter, Walter Engelbrecht, an die Seite gestellt, der die Verwaltung übernahm und eine Organisationsstruktur einführte. Die AVA entwickelte sich nun vollends zu einem diversifizierten Forschungsunternehmen, das nachgerade idealtypisch allen Kriterien moderner Großforschung entsprach. Es nimmt daher nicht wunder, dass Albert Betz nach Kriegsende recht kritisch auf diese Entwicklung zurückblickte. Die fremdgesteuerte Großforschung habe autonome Grundlagenforschung verdrängt, und Routinearbeiten in Versuchsanlagen „untragbarer Größenordnung“ hätten die geistig schöpferische Tätigkeit der Wissenschaft unterbunden.12

Das Göttinger Doppelinstitut hielt die als MPG wiedergegründete Gesellschaft auch nach 1945 in Atem. Die AVA wuchs ab Mitte der 1950er Jahre wiederum rasch, als es darum ging, sowohl die luftfahrtwissenschaftliche Basis für den Wiederaufbau einer bundesdeutschen Luftfahrtindustrie zu legen, als auch sich an den gemeinsamen Forschungsaktivitäten des Westens im Kontext des Kalten Kriegs zu beteiligen. Dieses Wachstum wurde bezeichnenderweise, obwohl die wissenschaftspolitische Kompetenz bis zur Grundgesetzänderung von 1969 formal bei den Ländern lag, fast ausschließlich durch den Bund finanziert. Die Frage der Autonomie des Göttinger Instituts blieb auf der Tagesordnung und dies umso mehr als im Verlauf der 1960er Jahre die Forderung nach einer wissenschaftlichen Einheitsgesellschaft für die bundesdeutsche Luftfahrtforschung auf die politische Tagesordnung gesetzt wurde. Diese sollte die in über ein halbes Dutzend Institute zersplitterte Landschaft außeruniversitärer Flugwissenschaften bereinigen. Damit wuchs der Druck auf die Max-Planck-Gesellschaft, die AVA erneut aus ihrem Institutsverbund herauszulösen. Als 1968 nach Jahren der hinhaltenden Opposition der Göttinger Wissenschaftler vor Ort die luftfahrtwissenschaftliche Einheitsgesellschaft „Deutsche Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt“ (DFVLR) gegründet wurde, war die Münchner Generalverwaltung durchaus nicht unglücklich darüber, die AVA als Großforschungseinrichtung los zu werden und ihr Engagement auf das MPI für Strömungsforschung und damit auf die Grundlagenforschung als neue identitätsstiftende Mission der Gesellschaft reduzieren zu können.

7.2 Plasmaphysik und Hochenergieforschung

Die Herauslösung der AVA aus ihrem Institutsverbund enthob die Max-Planck-Gesellschaft nicht der Notwendigkeit, die Debatte um die Rolle der Großforschung zu führen. Das Gegenteil war der Fall, wie die miteinander verknüpften Entwicklungen in der Plasmaphysik bzw. Fusionsforschung und der Hochenergiephysik zeigen.

Der Lübecker Wissenschaftshistoriker Burghard Weiss hat die These aufgestellt, die Restauration ihrer tradierten Strukturen und vor allem des Harnack-Prinzips hätten zur Folge gehabt, dass die Max-Planck-Gesellschaft und die Großforschung in der Bundesrepublik einander fremd geblieben seien. Otto Hahn habe als Präsident seinen Einfluss geltend gemacht, den Einbau von Großforschungseinrichtungen in den Institutsverbund der Max-Planck-Gesellschaft – abgesehen vom Münchner MPI für Plasmaphysik – zu verhindern, wobei Hahn und andere Entscheidungsträgern sich von ihrer Scheu vor unübersichtlichen Großtechnologien hätten leiten lassen. Die Großforschung in der Bundesrepublik sei folgerichtig ab 1955 als neuer Forschungstypus außerhalb der Max-Planck-Gesellschaft entstanden.13

Allerdings verlief auch in der Plasmaphysik die Geschichte weit komplexer, und die Fokussierung auf die institutionalisierte Großforschung verstellt den Blick auf die Differenziertheit der Debatten innerhalb und außerhalb der Max-Planck-Gesellschaft. Die Schlüsselfigur in den Debatten um das Verhältnis von Großforschung und Max-Planck-Gesellschaft war Werner Heisenberg. Der renommierte Physiker und Nobelpreisträger wuchs rasch in die Position des Doyens der Physik in der Bundesrepublik und in die Rolle des obersten Wissenschaftsberaters von Bundeskanzler Konrad Adenauer hinein.14 Gespeist aus dem Interesse, den Aufbau der kostenintensiven Kernphysik und Atomforschung in der Bundesrepublik zügig voranzutreiben, setzte er sich für ein kraftvolles Engagement des Bundes in der Forschungsförderung und für eine konzise Wissenschaftsplanung ein. Auch seine Initiative, den Deutschen Forschungsrat als Gegenmodell zur Wiedergründung der autonomieorientierten Notgemeinschaft für die Deutsche Wissenschaft aufzubauen, entsprang dem Bemühen um eine ebenso straffe wie langfristige und verbindliche Forschungsplanung. Hier konnte sich Heisenberg letztlich nicht durchsetzen; die Deutsche Forschungsgemeinschaft nahm zwar Elemente des Heisenberg’schen Konzepts der Forschungsplanung auf, orientierte sich aber weit stärker noch am tradierten Autonomiemodell der Notgemeinschaft.15

Auch in der Kontroverse um den Standort der ersten bundesdeutschen Reaktorstation erlitt Heisenberg eine empfindliche Niederlage.16 Als Physiker sah er in der Kernenergie den Schlüssel zum industriellen Wiederaufstieg Westdeutschlands und drängte auf einen kraftvollen Einstieg in die Forschung. Im November 1952 stellte er Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard das Projekt eines Forschungsreaktors vor, der auf der Basis von Natururan betrieben werden sollte, um unabhängig von amerikanischen Urananreichungsanlagen zu sein. Als Standort kam für Heisenberg nur seine Heimatstadt München in Frage. Parallel dazu betrieb Bayern den Aufbau der Kernphysik an der TH München und verbesserte damit seine Chancen für die von Heisenberg geplante Reaktorstation. Treibende Kraft war hier der Physiker Heinz Maier-Leibnitz (1911–2000). Nach seiner Berufung 1952 entwickelte sich die TH München binnen kurzem zu einem Zentrum der kernphysikalischen Lehre und mit dem durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Aufbau eines Beschleunigerlabors auch der Forschung.

Abb. 7.2: (v. li.) Wolfgang Gentner, Otto Hahn, Siegfried Balke, Adolf Butenandt und Werner Heisenberg.

Abb. 7.2: (v. li.) Wolfgang Gentner, Otto Hahn, Siegfried Balke, Adolf Butenandt und Werner Heisenberg.

Was nun folgte, war eine mit höchstem politischem Einsatz geführte Auseinandersetzung zwischen Baden-Württemberg mit Karlsruhe und Bayern mit München als Kandidaten für den Standort der Reaktorstation. Der Freistaat erwartete sich davon „nicht nur einen Aufschwung Münchens als wissenschaftliches Zentrum, sondern auch große Möglichkeiten einer weiteren industriellen Entwicklung mit modernsten Methoden“.17 Im Wettbewerb um die Reaktorstation unterlag München schließlich Karlsruhe. Die Max-Planck-Gesellschaft erarbeitete daraufhin eine Kompensationslösung, die es Heisenberg ermöglichte, sein Gesicht zu wahren und das bayerische Angebot der Verlegung des MPI für Physik von Göttingen nach München anzunehmen.

Zum annus crucis in der Frage der Position der Max-Planck-Gesellschaft in der Großforschung wurde dann das Jahr 1959/60, als Werner Heisenberg Druck machte, um das geplante Institut für Plasmaphysik aus seinem Münchner MPI für Physik und Astrophysik heraus gründen zu können. Druck machte aber auch der Bund, allen voran Bundesforschungsminister Siegfried Balke, der wiederholt forderte, die Max-Planck-Gesellschaft müsse ihre Strukturen dringend dahingehend überprüfen, ob sie noch den Erfordernissen moderner naturwissenschaftlicher Forschung gerecht würden.

Das war der Hintergrund für die vom Senat der Max-Planck-Gesellschaft eingesetzte Senatskommission „Strukturwandel“, die im November 1959 zusammentrat. Auf der Agenda der Kommission, deren Vorsitz selbstverständlich Heisenberg führte, stand die Frage einer möglichen Aufnahme von Großprojekten wie das zu gründende Münchner Institut für Plasmaphysik, das in Hamburg geplante DESY und die Reaktorstation Karlsruhe.18

Heisenberg trieb die Männer seiner Kommission – und es waren nur Männer – zu hoher Eile an. Noch im selben Monat, in dem sie erstmals zusammentrat, legte die Kommission ihre Empfehlungen vor, die vom Senat unverändert übernommen wurden und die Max-Planck-Gesellschaft auf eine neue Basis stellten. Die Kommission stellte fest, „dass die moderne Forschungsentwicklung und die in ihr begründeten strukturellen Veränderungen es unter Umständen erforderlich machen, dass die Max-Planck-Gesellschaft künftig auch solche Forschungseinrichtungen und Forschungsvorhaben in ihren Betreuerkreis aufnimmt, die ihrem Volumen nach über dem der herkömmlichen Institute der Gesellschaft liegen“.19

Nun war der Weg frei für das Münchner IPP, das im Juni 1960 offiziell als GmbH mit der Max-Planck-Gesellschaft und Heisenberg als Gesellschafter gegründet wurde. In der Praxis hatte das IPP als Großforschungseinrichtung im Verbund der Max-Planck-Gesellschaft aber nur einen eingeschränkten Präzedenzcharakter. 1962 monierte der Haushaltsausschuss des Bundestages, dass die Bundeszuschüsse an das IPP als eine privatrechtliche Gesellschaft in Form der GmbH überwiesen wurden, ohne dass der Bund über dessen Gremien formellen Einfluss ausüben konnte. Im Jahr darauf startete Wolfgang Cartellieri als Staatssekretär im Bundesforschungsministerium seine weichenstellende Initiative, die Großforschung als eigenständige institutionelle Säule im bundesdeutschen Innovationssystem zu verankern. Nun war die Führung der Max-Planck-Gesellschaft alarmiert und betrieb im Gegenzug die formelle Aufnahme des Deutschen Elektronen-Synchrotrons, DESY, ging es doch nun darum zu verhindern, dass die kernphysikalische Grundlagenforschung außerhalb der Max-Planck-Gesellschaft aufgebaut würde. Im Abwehrkampf gegen die drohende Einflussnahme des Bundes auf die kernphysikalische Grundlagenforschung verkehrten sich die Fronten.

Es fällt auf, dass einer der jungen Wilden in der Max-Planck-Gesellschaft, die sich für eine innere Reform der Gesellschaft stark machten, nicht in der Strukturkommission des Jahres 1959 vertreten war, nämlich Wolfgang Gentner.20 Der international renommierte Kernphysiker Gentner hatte Seite an Seite mit Heisenberg am Aufbau der Europäischen Organisation für Kernforschung, CERN, in Meyrin bei Genf mitgewirkt. Er war als Leiter der Proton-Synchrotron-Abteilung nicht nur für den Bau des 600 MeV Synchrozyklotrons zuständig gewesen, sondern hatte bis 1960 auch als Wissenschaftlicher Direktor des CERN fungiert.

Die Max-Planck-Gesellschaft hatte Gentner 1958 nach Heidelberg berufen, um den Umbau des MPI für medizinische Forschung zu einem kernphysikalischen Institut zu betreiben. Das nun als MPI für Kernphysik firmierende Heidelberger Institut entwickelte sich unter Gentners Leitung zu einem Zentrum der Konzeption von Beschleunigern für nieder- und hochenergetische Physik. Als sein Institut von Jahr zu Jahr wuchs und dieses außerordentlich dynamische Wachstum rasch den Rahmen des Harnack-Prinzips sprengte, entwarf Gentner das Konzept einer kollegialen Leitung durch ein mehrköpfiges Direktorium gleichberechtigter Wissenschaftlicher Mitglieder der Max-Planck-Gesellschaft, dem er einstweilen noch als geschäftsführender Direktor vorstehen sollte. Ursprünglich aus der Not heraus geboren, die Wegberufung für ihn unverzichtbarer Führungskräfte wie Anselm Citron abzuwenden, half Gentner mit diesem innovativen Umbau seines Instituts den Weg für die Modernisierung der Max-Planck-Gesellschaft in Abkehr vom Harnack-Prinzip zu bereiten. Nachdem Präsident Adolf Butenandt und die Generalverwaltung zunächst skeptisch bis ablehnend reagiert hatten, waren sie schließlich doch bereit, Gentners Initiative aufzunehmen, „neue Wege zu beschreiten“.

Die offiziell 1964 beschlossene Einführung des Prinzips der kollegialen Leitung schnitt tief in das Gefüge der Max-Planck-Gesellschaft ein. Bis dato waren sämtliche Institute nach der reinen Lehre des Harnack-Prinzips von einem Direktor geleitet worden. Reimar Lüst hat diese Reform – vielleicht etwas hochgegriffen – als die wichtigste Strukturreform der gesamten KWG/MPG-Geschichte bezeichnet.21

Gentner jedenfalls sah sich in seiner Einschätzung der Max-Planck-Gesellschaft als geschmeidige Organisation bestätigt, die auch große Forschungszentren der Hochenergiephysik flexibel integrieren konnte. Zudem wusste er sich mit Heisenberg darin einig, das DESY und weitere, noch zu gründende Großinstitute der Grundlagenforschung in die Max-Planck-Gesellschaft aufzunehmen. Hier aber endeten die Gemeinsamkeiten der beiden alten Weggefährten, die ab 1963 in einen Konflikt gerieten, in dem es sowohl um die Zukunft der Hochenergiephysik in der bundesdeutschen Forschungslandschaft als auch um die Rolle der Max-Planck-Gesellschaft in der Großforschung ging.

Gentner eröffnete die Debatte, als er im Wissenschaftlichen Rat der Max-Planck-Gesellschaft gravierende Bedenken gegenüber der Politik der Gesellschaft in der Kernphysik und Hochenergiephysik äußerte. Vor dem Zweiten Weltkrieg sei die kernphysikalische Forschung weitgehend in den Händen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gewesen. In der Wiederaufbauphase habe es die Max-Planck-Gesellschaft versäumt, ihre Führungsposition zu konsolidieren, und mittlerweile sei die Kernphysik fast völlig außerhalb der Max-Planck-Gesellschaft angesiedelt. Gentner plädiert vehement dafür, das DESY in die Max-Planck-Gesellschaft zu übernehmen und darüber hinaus ein zweites bundesdeutsches Beschleunigerzentrum für Schwerionenforschung aufbauen.

Heisenberg lehnte Gentners Vorstoß ab. Die Heidelberger Planungen würden die vorhandenen Kräfte zersplittern und eine effiziente Ausnutzung des DESY gefährden. Er fixierte seine Position in einem Memorandum „Zum Stand der experimentellen Kernphysik in der Bundesrepublik 1963“, in dem er die strikte Priorität für das IPP und DESY bekräftigte. Allerdings sprach er sich dafür aus, den Bau eines Schwerionenbeschleunigers von einer Studiengruppe untersuchen zu lassen, und unterstrich dabei zur Überraschung Gentners, dass ein solcher zweiter nationaler Beschleuniger in den Rahmen der Max-Planck-Gesellschaft gehöre. In einem, nicht abgesandten, Briefentwurf an Gentner erläuterte Heisenberg die tieferen Gründe, die ihn dazu bewogen, dessen Pläne für eine Hochenergieabteilung am MPI für Kernphysik zu torpedieren. Er machte vor allem die durch die starke Expansion der Raumfahrt- und Weltraumforschung angespannte Lage des Bundesforschungshaushalts geltend, die die Wissenschaft zwinge, „eine scharfe Modernisierung ‚unter Selektionsdruck‘“ vorzunehmen. Nur unter der Voraussetzung einer solchen „Modernisierung unter Selektionsdruck“ war er bereit, Gentners Pläne zu unterstützen.22

Auch in den folgenden Jahren erwiesen sich Heisenbergs und Gentners Vorstellungen in Fragen kernphysikalischer Großforschung mehrfach als inkongruent. So konfligierten ihre Auffassungen in der Frage, ob der geplante 300 GeV-Beschleuniger des CERN an einem bundesdeutschen Standort gebaut werden sollte. Gentner setzte sich mit aller Macht dafür ein, Heisenberg stellte eine bundesdeutsche Beteiligung an diesem Großprojekt grundsätzlich in Frage. Ebenso weit auseinander lagen die beiden Granden der bundesdeutschen Physik, als es um die Errichtung eines Instituts für Schwerionenforschung ging, der späteren Gesellschaft für Schwerionenforschung (GSI) in Darmstadt. Gentner hatte ursprünglich für eine Anbindung an die Max-Planck-Gesellschaft plädiert, setzte sich dann aber gemeinsam mit Präsident Butenandt für eine eigenständige Großforschungseinrichtung nach dem Vorbild des DESY ein. Heisenberg leistete hinhaltende Opposition gegen das Vorhaben und erklärte darüber seinen Rücktritt als Vorsitzender des Arbeitskreises Kernphysik der Deutschen Atomkommission.

In den unterschiedlichen Vorstellungen Heisenbergs und Gentners zur Zukunft der Großforschung in der Hochenergiephysik in Deutschland verschmolzen mehrere Divergenzen zu einem Grundsatzkonflikt, der zeitgenössisch als personalisierte Konfrontation zwischen den beiden Großfürsten bundesdeutscher Physik wahrgenommen wurde. Die erste Konfliktlinie ist die zwischen dem Experimentalphysiker und dem Theoretiker, die zweite der räumliche Disput zwischen Heidelberg und München als zwei konkurrierende Subzentren physikalischer Forschung, die dritte der Prioritätenstreit zwischen Hochenergiephysik und Plasmaphysik und die vierte die oben diskutierte Debatte um die Rolle der Max-Planck-Gesellschaft in der Großforschung. In diesem Bündel von Divergenzen offenbart sich ein tiefgehender Konflikt um die Notwendigkeit wissenschaftlicher Schwerpunktbildung. Gentner steht dabei für das forschungspolitische Regime permanenter Expansion und Heisenberg für das Regime der Konzentration und Priorisierung.23 Im Mikrokosmos der Debatten um die Großforschung in der Max-Planck-Gesellschaft spiegelt sich stets auch der Makrokosmos grundlegender Prozesse nationaler und transnationaler Wissenschaftsentwicklung.

7.3 Lebenswissenschaften: Das MPI für Biochemie

Um die räumliche Konzentration wissenschaftlicher Ressourcen geht es auch im dritten Fallbeispiel: der Gründung des MPI für Biochemie in Martinsried bei München.24 In einem finanziellen Kraftakt hatte Bayern Adolf Butenandt Anfang der 1950er Jahre von Tübingen nach München geholt. Die Magnetfunktion, die sich Bayern von Butenandt erhoffte, trat tatsächlich ein. Der Nobelpreisträger polierte den Ruf der Medizinischen und der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität auf, und während seiner Präsidentschaft (1960–1972) verlagerte sich das Schwergewicht der Max-Planck-Gesellschaft mehr und mehr in seine neue Wahlheimat München. Parallel dazu betrieb Butenandt eine Strukturreform der Max-Planck-Gesellschaft. Auf der Hauptversammlung 1964 ließ er sich eine neue Satzung genehmigen. Sie führte nicht nur das Kollegialprinzip in der Leitung der Institute ein, sondern stärkte auch die Rolle des Präsidenten, der in Anlehnung an die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers künftig die Verantwortung für die Wissenschaftspolitik der Max-Planck-Gesellschaft übernahm.

Unschwer sind hier die Einflüsse der US-amerikanischen Diskussion um Departmentstrukturen in der Forschung zu erkennen, die auch als Begründung herangezogen wurden, als Butenandt dem Senat der Max-Planck-Gesellschaft im März 1965 das Konzept einer lokalen Konzentration von Ressourcen präsentierte. In Göttingen sollten die Institute der biophysikalischen Chemie und in München die Biochemie zusammengeführt werden. In Vorgesprächen hatte sich die Generalverwaltung bereits mit der Universität München darauf verständigt, ihre in der Universität untergebrachten Institute auszulagern und in einem Neubau in Martinsried in der Nähe des Großklinikums der Universität zu zentralisieren. Mit diesem biochemischen Zentrum hofften Butenandt und seine Münchner Mitstreiter vor allem auch das Problem der Anpassung der Max-Planck-Gesellschaft an die besonders dynamische Entwicklung der Wissenschaft an der Schnittstelle zwischen Biologie und Chemie zu bewältigen. Auf die sich beschleunigende Dynamik der Forschung jeweils nur alle 20 Jahre beim Wechsel eines Institutsleiters reagieren zu können, war ein Strukturfehler der Max-Planck-Gesellschaft, der für Butenandts ureigenen Kompetenzbereich dadurch behoben werden sollte, dass der neue biochemische Forschungskomplex in etwa ein Dutzend selbstständige Abteilungen aufgegliedert werden sollte. Der Senat stimmte zu und bereitete damit den Boden für das Martinsrieder Projekt.

Abb. 7.3: Modell Martinsried, 1969.

Abb. 7.3: Modell Martinsried, 1969.

Das 1972 gegründete Max-Planck-Institut für Biochemie kann als Antwort der Wissenschaftler auf die Strukturprobleme multidisziplinärer Großforschung gesehen werden. Einer der maßgeblichen Initiatoren des Martinsrieder Zentrums, der Zellchemiker Gerhard Ruhenstroth-Bauer (1913–2004), brachte diese Probleme auf den Punkt und versah dabei die kontingente Herausbildung der drei Max-Planck-Institute für Biochemie, Eiweiß- und Lederforschung sowie für Zellchemie am Standort München mit einer teleologischen Interpretation. Das neue biochemische Zentrum war demnach die historisch konsequente Antwort auf „die Entwicklung der Wissenschaftsstrukturen und des Arbeitsstils“ der Forschung der letzten beiden Jahrzehnte. Die Spezialisierung der Forschung zwänge zu einer Neuinterpretation des Harnack-Prinzips. Vor allem Forschungsfragen, die „inhaltlich oder methodisch in Zwischenbereichen eines größeren Gebiets“ lägen, erforderten eine thematische und letztlich auch räumliche Konzentration.25 Die drei biochemischen Max-Planck-Institute sollten in dem neuen Komplex aufgehen, der im Endausbau nicht weniger als 16 wissenschaftlich selbstständige Einheiten vorsah. Dass man diese Einheiten wechselnd „Institut“, „Teilinstitut“, „Abteilung“ und „Arbeitsgruppe“ nannte, zeigt, wie schwierig es war, das eherne Harnack-Prinzip mit der modernen departmentähnlichen Organisations- und Raumstruktur von Martinsried zu verbinden. Nobelpreisträger Feodor Lynen bewältigte in seiner Doppelfunktion als Vertreter von Präsident Butenandt und designierter geschäftsführender Direktor von Martinsried diesen sprachartistischen Drahtseilakt bei seiner Richtfestrede im November 1970, indem er die sternförmige Architektur des Zentrums als raumstrukturelle Auflösung des Dualismus zwischen den erforderlichen engen räumlichen Beziehungen und der wissenschaftlichen Selbstständigkeit der einzelnen Abteilungen interpretierte. Manche umliegenden Gemeinden wie auch der Bund Naturschutz in Bayern sahen dies übrigens anders. Sie protestierten heftig gegen eine Zerstörung der Landschaft durch „die utopische Mondarchitektur“ des Instituts.26

Die biochemische Großforschung nach Martinsrieder Muster strukturierte nicht nur den lokalen Raum. Zu Beginn der 1980er Jahre verdichtete sich in Deutschland die Wahrnehmung eines Rückstands der biotechnologischen Forschung gegenüber den USA.27 Die staatlichen Fördermittel für die Biotechnologie stiegen rasch an, und sie flossen vor allem in die vorhandenen Forschungszentren, von denen man sich nun ähnliche wirtschaftliche Effekte erhoffte, wie sie mittlerweile in den USA aufgetreten waren. In dieser Phase mutierte Martinsried in der forschungspolitischen Rationalität zu einem Kraftzentrum für die Herausbildung einer neuen, wissenschaftsbasierten Wachstums-, Schlüssel- und Zukunftsindustrie. Nun erst entwickelte sich der Ortsteil von Planegg zu einem weltweit bekannten Synonym für Bio- und Gentechnologie, für die Verknüpfung von wissenschaftlicher Exzellenz und wirtschaftlichem Wachstum und die Max-Planck-Gesellschaft zu einem wichtigen Akteur nicht nur der bundesdeutschen Forschungslandschaft, sondern auch des nationalen Innovationssystems.

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Fußnoten

Vgl. Ash (1999) und Paletschek (2007, 11–15).

Zum Harnack-Prinzip als institutionelles Markenzeichen der MPG und zum Spannungsfeld zwischen Harnack-Prinzip und Kollegialverfassung siehe auch die Beiträge von Laitko und Lüst in diesem Band.

Theodor Mommsen in seiner Antwort an Harnack in der öffentlichen Sitzung der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin vom 3. Juli 1890, zitiert nach Ritter (1992, 13).

Harnack (1905, 193–201).

Siehe dazu Szöllösi-Janze und Trischler (1990).

Dass die ausgewählten Fallstudien nicht die gesamte Tiefe des diskursiven Feldes ausloten können, versteht sich von selbst. Beispielsweise hätte auch Fritz Haber und sein Institut für Gaskampfforschung einbezogen werden können, als mitten im Ersten Weltkrieg das Haber’sche KWI für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem unter militärischen Vorzeichen in einen wissenschaftlicher Großkomplex zur Erforschung von Giftgasen mit zeitweise über 1.500 Mitarbeitern und 11 Abteilungen transformiert wurde; s. dazu L. F. Haber (1986), Szöllösi-Janze (1998) und Steinhauser et al. (2011).

Hierzu und zum Folgenden Rotta (1990); Trischler (1992; 2001, 79–110); Epple (2002, 305–356); Eckert (2006); Schmaltz (2010, 67–113).

Protokoll der Hauptversammlung der KWG vom 23. Oktober 1911, zitiert nach Rotta (1990, 104).

Ludwig Prandtl an Friedrich Schmidt-Ott, 1. September 1920. Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, I. Abt. Rep. 1 A/1469, Bl. 150–152.

Aktenvermerk von Ernst Telschow, 24. November 1936. Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, I. Abt. Rep. 1 A/1479, Bl. 87.

Betz (1949, 253–258); noch deutlicher die Kritik in Betz (1963).

Weiss (1996, 541–560).

Siehe insbes. Carson (2010b).

Vgl. Orth (2010) sowie Carson und Gubser (2002, 147–179).

Vgl. dazu bes. Deutinger (2001, 128–148), sowie Gleitsmann (1986); Eckert (1989, 74–95); Müller (1990, 112–135); Wengenroth (1993, 261–298).

Pressemitteilung des bayerischen Wirtschaftsministeriums vom 18. Dezember 1953, zitiert nach Deutinger (2001, 7).

Zum Folgenden Boenke (1991, 127–135).

Zit. nach Boenke (1991, 126).

Hierzu und zum Folgenden Carson (2010a, 107–130) und Trischler (2006, 95–120).

Siehe dazu den Beitrag von Reimar Lüst in diesem Band.

Heisenberg an Genter, o.D. (Okt. 1963), zitiert nach Trischler (2006, 110).

Vgl. dazu die überzeugende Interpretation von Carson (2010a, 113–128).

Zum Folgenden Deutinger (2001, 112–127); Trischler (2004, 117–194); Heßler (2007).

Ruhenstroth-Bauer „Das Martinsrieder Projekt“, undatiertes Exposé (1969), MPG-Archiv, II. Abt., Rep. 1A, IB-Akten, Biochemie.

Helmut Schröcke (LMU München) an MPG-Präsident Lüst, 2. Juni 1972, MPG-Archiv, II. Abt., Rep. 1A, IB-Akten, Biochemie.

Vgl. dazu Giesecke (2001 und Wieland (2010, 235–253).