9 Eine Moral

Download Chapter

DOI

10.34663/9783945561607-11

Citation

Høyrup, Jens (2021). Eine Moral. In: Algebra in Keilschrift: Einführung in eine altbabylonische geometrische Technik. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

Eine Moral? Was hat Moral mit Mathematik und ihrer Geschichte zu tun? Zum einen ist die Moral etwa einer Fabel nicht dasselbe wie die Moral in der Sittenlehre. Die Moral einer Fabel enthüllt sich beim Nachdenken nach dem Lesen: „Was können wir daraus lernen?“ In diesem Sinn haben nicht nur Fabeln, sondern auch Texte, die Geschichte erzählen, eine Moral – spätestens seit der Zeit von Herodot und den hebräischen Schreibern, welche von den Ereignissen der Zeiten von Saulus und David erzählten (oder die Fabeln um diese Ereignisse).

In diesem Sinn haben auch die Geschichte und die Geschichten der Mathematik eine Moral. Die erste Interpretation der altbabylonischen Algebra hatte die implizite Botschaft, dass sie dieselbe Art Mathematik betrieben wie wir. Ihnen fehlte lediglich der wundervolle algebraische symbolische Kalkül, der uns erlaubt hat, viel weiter zu gehen; und sie hatten die negativen Zahlen noch nicht „entdeckt“ (was in manchen Sekundärquellen in die Überzeugung transformiert wurde, sie hätten sie entdeckt). Sie waren zwar nicht so weit gekommen wie wir, aber sie waren auf demselben Weg – der einzige Weg, der Weg zu uns. Dies ging mit einem leicht abgeleiteten Korollar einher: die Tatsache, dass unser Weg der einzige ist, garantiert, dass das, was wir machen, mit Fortschritt synonym ist, und dass alle anderen – andere Zivilisationen und Schüler, die noch nicht verstehen – lernen müssen, ihm zu folgen.

Ein weiteres Korollar, vielleicht nicht ganz so naheliegend, aber auch nicht zu weit hergeholt, ist dies: was für Mathematik gilt, gilt auch für andere Aspekte der Zivilisation: wir sind der fleischgewordene und wahre Fortschritt.

Diese Botschaft verschwindet mit der neuen Interpretation. Altbabylonische Mathematik hat sicherlich viele Ähnlichkeiten mit der heutigen „Weltmathematik“ – wahrscheinlich mehr als jede andere fremde mathematische Kultur (wir bauen so direkt auf die altgriechische und die mittelalterliche arabische Mathematik auf, dass wir sie kaum als „fremd“ betrachten dürfen). Die Unterschiede sind aber unübersehbar, sowohl was die Methoden betrifft, als auch was Ziele und Denkweisen angeht. Was wir von der neuen Interpretation lernen können ist, dass Mathematik auf verschiedene Arten gedacht werden kann und dass man immer auf die anderen (die andere Epoche, welche Historiker untersuchen, oder den Partner des Lehrers, also den Schüler) hören sollte, bevor man beschließt, was dieser andere gedacht haben muss und denken sollte. Wenn Mathematik auf verschieden Arten gedacht werden kann, dann gibt es keine Garantie dafür, dass unsere in jeder Hinsicht die bestmögliche ist – nicht einmal für uns, und umso weniger in unpersönlicher und supra-historischer Allgemeinheit. Wir können aber durch Zuhören zu einem besseren Verständnis unserer eigenen Vorgehens- und Denkweise kommen, und können besser darüber sinnieren, ob unsere eine der fruchtbareren Arten ist – vielleicht sogar darüber, welche Früchte sie verspricht.

Der Fortschritt, den man in der Geschichte der Mathematik findet, ist keine Autobahn in nur eine Richtung. In einem Bild, das der Mathematikhistoriker Moritz Cantor 1875 formuliert hat, muss man ihn mit einer Flusslandschaft mit vielen Strömungen vergleichen – Strömungen, welche sich nach Windungen und Verzweigungen wieder vereinigen und dazu neigen, in die gleiche Richtung in denselben Ozean zu fließen. Wenn Fortschritt in der Geschichte der Zivilisationen existiert, dann wird er immer von derselben Art sein.