Eine Moral? Was hat Moral mit Mathematik und ihrer Geschichte zu tun?
Zum einen ist die Moral etwa einer Fabel nicht dasselbe wie die Moral
in der Sittenlehre. Die Moral einer Fabel enthüllt sich beim Nachdenken
nach dem Lesen: „Was können wir daraus lernen?“ In diesem
Sinn haben nicht nur Fabeln, sondern auch Texte, die Geschichte erzählen,
eine Moral – spätestens seit der Zeit von Herodot und den hebräischen
Schreibern, welche von den Ereignissen der Zeiten von Saulus und David
erzählten (oder die Fabeln um diese Ereignisse).
In diesem Sinn haben auch die Geschichte und die Geschichten der Mathematik
eine Moral. Die erste Interpretation
der altbabylonischen Algebra hatte die implizite Botschaft, dass sie
dieselbe Art Mathematik betrieben wie wir. Ihnen fehlte lediglich
der wundervolle algebraische symbolische Kalkül, der uns erlaubt hat, viel
weiter zu gehen; und sie hatten die negativen Zahlen noch nicht „entdeckt“
(was in manchen Sekundärquellen in die Überzeugung
transformiert wurde, sie hätten sie entdeckt). Sie waren zwar nicht so
weit gekommen wie wir, aber sie waren auf demselben Weg –
der einzige Weg, der Weg zu uns. Dies ging mit einem leicht abgeleiteten Korollar
einher: die Tatsache, dass unser Weg der einzige ist, garantiert, dass das, was
wir machen, mit Fortschritt synonym ist, und dass alle anderen – andere Zivilisationen
und Schüler, die noch nicht verstehen – lernen müssen, ihm zu folgen.
Ein weiteres Korollar, vielleicht nicht ganz so naheliegend, aber auch nicht
zu weit hergeholt, ist dies: was für Mathematik gilt, gilt auch für andere
Aspekte der Zivilisation: wir sind der fleischgewordene und wahre Fortschritt.
Diese Botschaft verschwindet mit der neuen Interpretation. Altbabylonische Mathematik
hat sicherlich viele Ähnlichkeiten
mit der heutigen „Weltmathematik“ – wahrscheinlich mehr als jede andere
fremde mathematische Kultur (wir bauen so direkt auf die altgriechische und die
mittelalterliche arabische Mathematik auf, dass wir sie kaum als „fremd“
betrachten dürfen). Die Unterschiede sind aber unübersehbar, sowohl was die Methoden
betrifft, als auch was Ziele und Denkweisen angeht. Was wir von der neuen Interpretation
lernen können ist, dass Mathematik auf verschiedene Arten gedacht werden kann
und dass man immer auf die anderen (die andere Epoche, welche Historiker untersuchen, oder
den Partner des Lehrers, also den Schüler) hören sollte, bevor man beschließt, was dieser
andere gedacht haben muss und denken sollte. Wenn Mathematik auf verschieden Arten gedacht
werden kann, dann gibt es keine Garantie dafür, dass unsere in jeder Hinsicht die
bestmögliche ist – nicht einmal für uns, und umso weniger in unpersönlicher und
supra-historischer Allgemeinheit. Wir können aber durch Zuhören zu einem besseren
Verständnis unserer eigenen Vorgehens- und Denkweise kommen, und können besser darüber
sinnieren, ob unsere eine der fruchtbareren Arten ist – vielleicht sogar darüber,
welche Früchte sie verspricht.
Der Fortschritt, den man in der Geschichte der Mathematik findet, ist
keine Autobahn in nur eine Richtung. In einem Bild, das der Mathematikhistoriker Moritz
Cantor 1875 formuliert hat, muss man ihn mit einer Flusslandschaft mit vielen Strömungen
vergleichen – Strömungen, welche sich nach Windungen und Verzweigungen wieder vereinigen
und dazu neigen, in die gleiche Richtung in denselben Ozean zu fließen. Wenn
Fortschritt in der Geschichte der Zivilisationen existiert, dann wird er immer von derselben
Art sein.