6 Allgemeine Charakterisierung

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DOI

10.34663/9783945561607-08

Citation

Høyrup, Jens (2021). Allgemeine Charakterisierung. In: Algebra in Keilschrift: Einführung in eine altbabylonische geometrische Technik. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

Zeichnungen?

Alle Texte, wie wir oben diskutiert haben, waren mit geometrischen Figuren illustriert. Allerdings finden sich nur auf zwei Tafeln solche geometrischen Figuren, und in beiden Fällen illustrieren sie die Aussage der Aufgabe, nicht aber die Prozedur der Lösung.

Viele Aspekte der Lösungsprozeduren sind in der traditionellen arithmetischen Interpretation unerklärlich, haben aber eine natürliche Erklärung in der geometrischen Sichtweise. Es gibt daher gute Gründe anzunehmen, dass bei den Überlegungen der Babylonier irgendeine Art von Geometrie eine Rolle gespielt haben muss. Es ist allerdings nicht sehr plausibel, dass die Babylonier Zeichnungen genau wie die unsrigen benutzt haben. Im Gegenteil legen viele Texte nahe, dass sie sich mit groben strukturellen Diagrammen zufrieden gegeben haben; siehe etwa Seite 57 über den Maßstabswechsel in einer Richtung. Die Abwesenheit besonderer Namen für L = 3\lambda und W = 21\phi in TMS IX #3 (siehe Seite 65) legt ebenfalls nahe, dass keine neue Figur gezeichnet wurde, in welcher man diese hätte identifizieren können, während \lambda und \phi als die Seiten der „Fläche 2“ identifiziert werden konnten.

Dies ist allerdings wenig überraschend. Wer sich mit altbabylonischen Techniken auskennt, braucht nur eine grobe Skizze, um den Überlegungen zu folgen; man braucht die Teilungen und Verschiebungen gar nicht ausführen: die Zeichnung des Rechtecks genügt bereits, um die verwendete Methode zu verstehen. Ebenso wie wir Rechnungen im Kopf machen und dabei nur ein oder zwei Zwischenergebnisse notieren, können wir uns eine „Kopfgeometrie“ aneignen, bei der wir höchstens eine grobe Skizze machen.

Uns ist eine erkleckliche Anzahl von Felderkarten bekannt, welche mesopotamische Schreiber angefertigt haben; der linke Teil von Abb. 6.1 zeigt eine von ihnen. Sie haben genau den Charakter von Strukturdiagrammen: ihr Zweck ist nicht die maßstabsgetreue Wiedergabe der einzelnen Längen – dies kann man sehen, wenn man die Karte mit der maßstabsgetreuen Zeichnung auf der rechten Seite vergleicht. In dieser Hinsicht ähneln sie Abb. 4.5, deren wirkliche Proportionen man in Abb. 4.6 sehen kann – siehe Seite 71 und Seite 73. Ebensowenig waren die Babylonier an einer korrekten Darstellung der Winkel interessiert, mit Ausnahme der „praktisch rechten Winkel“, die der Berechnung dienten und damit eine strukturelle Rolle spielten.

Abb. 6.1: Eine neu-sumerische Felderkarte (21. Jahrhundert v. Chr.), links wie auf der Keilschrifttafel, rechts im korrekten Maßstab nachgezeichnet. Nach F. Thureau-Dangin, “Un cadastre chaldéen”. Revue d’Assyriologie 4 (1897–98), 13–27.

Abb. 6.1: Eine neu-sumerische Felderkarte (21. Jahrhundert v. Chr.), links wie auf der Keilschrifttafel, rechts im korrekten Maßstab nachgezeichnet. Nach F. Thureau-Dangin, “Un cadastre chaldéen”. Revue d’Assyriologie 4 (1897–98), 13–27.

Das Üben der „Kopf-Geometrie“ setzt den flüssigen Umgang mit konkreter Geometrie voraus; echte Zeichnungen irgendeiner Art müssen daher existiert haben. Allerdings kann man die Technik des cut-and-paste nicht leicht auf einer Tontafel ausführen. Der Staub-Abakus, den phönizische Rechner im ersten Jahrtausend v. Chr. benutzt haben und den die Griechen von ihnen übernommen haben,1 ist für diesen Zweck deutlich besser geeignet. Damit ist es leicht, einen Teil einer Figur wegzuwischen und ihn an einer andern Stelle wieder hinzuzeichnen. Ein Schulhof, der mit Sand bestreut ist (siehe Seite 37), konnte hier ebenfalls gute Dienste leisten.

Staub und Sand dürften auch bei den ersten Schritten des Lernens der Schrift hilfreich gewesen sein. Aus dieser Einführungsphase kennen wir Tafeln, welche den Schülern, die sie zum Lernen der Keilschriftsymbole kopieren mussten, als Vorlage dienten. Aus der nächsten Phase kennen wir ebenfalls Tontafeln, die von den Schülern geschrieben sind – aber die Arbeit der Schüler aus der ersten Phase hat keinerlei archäologische Spuren hinterlassen, was bedeutet, dass diese vermutlich auf Sand oder in den Staub geschrieben worden sind. Es gibt daher keinen Grund, sich darüber zu wundern, warum geometrische Zeichnungen beim Unterrichten von Algebra und Quasi-Algebra nicht gefunden worden sind.

Algebra?

Bis jetzt haben wir, aus Gründen der Bequemlichkeit und in Übereinstimmung mit der Mehrheit der Mathematikhistoriker, von einer altbabylonischen „Algebra“ gesprochen, ohne zu klären, welche Bedeutung man diesem Wort im babylonischen Kontext zuschreiben sollte, und ohne zu versuchen zu erklären, warum (oder ob) eine geometrische Technik wirklich als „Algebra“ betrachtet werden kann.

Wir haben inzwischen allerdings eine ganze Reihe von Beobachtungen gemacht, die uns helfen können, eine begründete Meinung zu bilden (und bisweilen anzudeuten, welche Rolle diese Beobachtungen in unserem Argument spielen werden).

Zuerst muss gesagt werden, dass die moderne Algebra, der sich die altbabylonische Technik vielleicht anpassen könnte, eine Technik ist, nämlich der Umgang mit Gleichungen. Nichts in den altbabylonischen Texten erlaubt uns anzunehmen, dass die Babylonier auch nur den Hauch einer algebraischen Theorie besessen haben, wie sie ab dem 16. Jahrhundert entwickelt wurde (betreffend den Zusammenhang zwischen Koeffizienten und den Wurzeln, usw.); wir können a fortiori ihr Vorgehen auch nicht mit dem gleichsetzen, was heutige Mathematiker Algebra nennen (Gruppentheorie und alles, was darauf aufbaut oder dieses Gebiet erweitert). Die heutige Algebra, an welche wir denken sollten, ist diejenige aus dem Schulunterricht, die in Gleichungen ausgedrückt wird.

Wir haben oben gesehen (Seite 33), in welchem Sinne altbabylonische Aufgabenstellungen als Gleichungen verstanden werden können: sie geben das Ergebnis einer Kombination von (oft aber nicht immer geometrischen) Größen an, oder sie fordern, dass das Maß einer Kombination einer andern gleich ist, oder dass die erste die letztere um einen bestimmten Betrag übertrifft oder kleiner ist als diese. Das Prinzip unterscheidet sich nicht von der jeder angewandten Algebra, und daher auch nicht von den Gleichungen mit denen Ingenieure oder Wirtschaftswissenschaftler heute arbeiten. In diesem Sinn sind die altbabylonischen Aufgabenstellungen wirkliche Gleichungen.

Es gibt allerdings einen Unterschied. Ein heutiger Ingenieur arbeitet mit diesen Gleichungen: er schiebt die Größen von einer Seite auf die andere, multipliziert die Koeffizienten, er integriert Funktionen usw. – all diese Dinge existieren nur als Elemente der Gleichungen und haben keine andere Darstellung. Die Operationen der Babylonier dagegen wurden, wie wir gesehen haben, mit Hilfe einer anderen Darstellung realisiert, nämlich durch geometrische Größen2.

Bis auf wenige Ausnahmen (von denen wir oben keine gesehen haben) sind altbabylonische Lösungen analytisch. Dies macht sie unserer modernen Algebra der Gleichungen ähnlich. Abgesehen davon sind die meisten ihrer Prozeduren „homomorphe“ wenn nicht „isomorphe“ Analogien unserer Algebra, oder können zumindest in der Sprache der modernen Algebra leicht erklärt werden. Diese gemeinsamen Charakteristika – Aufgabenstellungen in Form von Gleichungen, homomorphe Prozeduren – haben viele Mathematikhistoriker dazu verleitet (oder, wie manche Kritiker während der letzten 40 Jahre gesagt haben, verführt) von einer „babylonischen Algebra“ zu sprechen. Es gibt aber einen weiteren Grund für diese Charakterisierung, ein Grund, der entscheidender ist, aber größtenteils unbemerkt geblieben ist.

Die heutige Algebra der Gleichungen besitzt eine neutrale „fundamentale Darstellung“ (siehe Seite 19): abstrakte Zahlen. Diese neutrale Darstellung ist ein leerer Behälter, der alle Arten messbarer Größen aufnehmen kann: Abstände, Flächen, elektrische Ladungen und Ströme, Fruchtbarkeit von Populationen usw. In der griechischen geometrischen Analysis dagegen geht es nur um die vorhandenen geometrischen Größen, und diese stellen nichts anderes dar als das, was sie sind. In diesem Sinne ist die babylonische Technik näher an der modernen Gleichungsalgebra als die griechische. Wie wir gesehen haben, können Strecken bei den Babyloniern Flächen, Preise (oder besser inverse Preise), und in einem anderen Zusammenhang auch die Anzahl von Arbeitern und Arbeitstagen etc. bedeuten. Wir könnten nun glauben (weil wir es gewohnt sind, die abstrakte geometrische Figur und die Zeichnung auf Papier zu identifizieren), dass Geometrie weniger neutral ist als abstrakte Zahlen - wir wissen sehr genau, wie man die abstrakte Zahl 3 von 3 Kieselsteinen unterscheidet, neigen aber dazu, ein gut gezeichnetes Dreieck für das Dreieck selbst zu halten. Aber selbst wenn wir bei dieser Verwechslung bleiben, müssen wir von einem funktionalen Standpunkt aus zugeben, dass die altbabylonische Geometrie der gemessenen Größen ebenfalls ein leerer Behälter ist.

Die heutige Algebra der Gleichungen ist also eine Technik, die Lösung zu finden mittels der Vorstellung, dass wir diese bereits gefunden haben (Analyse), gefolgt von der Manipulation unbekannter Größen, als ob diese bekannt wären – alles innerhalb der funktional leeren Darstellung des Bereichs der abstrakten Zahlen. Ersetzen wir Zahlen durch messbare geometrische Größen, dann können wir dasselbe über die altbabylonische Technik sagen – mit einer kleinen Einschränkung, auf die wir gleich zurückkommen werden. Wenn wir die moderne Technik als eine „Algebra“ verstehen, trotz der riesigen konzeptuellen Entfernung von der Gruppentheorie und ihren Nachkommen, dann erscheint es angemessen, auch die altbabylonische Technik, wie wir sie in den Kapiteln 2-4 angetroffen haben, unter demselben Stichwort zu verbuchen.

Dies bedeutet nicht, dass es keine Unterschiede gibt: es gibt sie, und zwar wichtige; aber diese sind nicht von der Art, wie man sie normalerweise benutzt, um „Algebra“ von anderen mathematischen Gebieten zu trennen.

Neben der Darstellung durch eine Geometrie der messbaren Größen ist der wichtigste Unterschied wohl der, dass die altbabylonische Algebra von zweitem (und höherem) Grad keinerlei praktische Anwendungen hatte – nicht weil dies prinzipiell unmöglich gewesen wäre, sondern weil kein praktisches Problem innerhalb des Horizonts eines altbabylonischen Schreibers die Anwendung höherer Algebra verlangte. Alle Probleme höheren Grades sind daher künstlich, und alle sind rückwärts aus einer bekannten Lösung konstruiert (dies gilt auch für viele lineare Probleme). Beispielsweise beginnt der Autor mit einem Quadrat der Seitenlänge 10′ und findet dann, dass die Summe der vier Seiten und der Fläche gleich 41′40″ ist. Die Aufgabe, die er daraus konstruiert, gibt dann diesen Wert und verlangt (in einer Formulierung, die noch von den Rechenmeistern des Mittelalters benutzt wurde, aber auch in TMS XVI und TMS VII) vorkommt), dass die Seiten und die Fläche „getrennt“ oder „zerstreut“ werden3.

Mit dieser Art von Algebra sind wir heute sehr vertraut. Sie erlaubt Lehrern und Lehrbuchautoren, Probleme für Schüler zu konstruieren, bei denen sie sicher sein können, das eine vernünftige Lösung existiert. Der Unterschied ist, dass unsere künstlichen Probleme den Schülern Techniken antrainieren sollen, die ihnen später in realitätsnahen Problemen nützlich sind.

Was wir nicht kennen ist die Offenheit, mit welcher gewisse altbabylonische Texte vom Wert der Größen sprechen, die im Prinzip als unbekannt gelten. Weil der Text allerdings klar zwischen gegebenen und lediglich bekannten Größen unterscheidet, wobei Letzteres nur zur Identifikation und der pädagogischen Erklärung benutzt wird, illustriert diese scheinbare abweichende Gewohnheit, dass man eine Sprache benötigt, in welcher man die Prozedur beschreiben kann – eine Alternative zu den ℓ, \lambda und L unserer Algebra und der „Strecke AB“ unserer Geometrie.

Weil die Texte „Handbücher für Lehrer“ sind, trotz der Anrede „Du“, die sich an Schüler richtet, können wir nicht ausschließen, dass der Lehrer beim mündlichen Vortrag der Aufgabe nicht mit dem Finger auf das Diagramm gezeigt und „diese Breite hier“ oder „diese Fläche dort“ gesagt hat. Wir können auch nicht behaupten, dass es so gelaufen ist – wir haben kein besseres Fenster auf die didaktische Praxis der altbabylonischen Mathematik als das, was uns TMS XVI #1 (Seite 31) bietet.

Fußnoten

Das griechische Wort für den Abakus, αβαξ, hat phönizische Wurzeln und bedeutet ursprünglich „Staub“ und „wegfliegen“.

Lediglich einige Transformationen ersten Grades wie diejenigen auf TMS XVI #1 und TMS IX #3 können teilweise als Ausnahmen betrachtet werden; TMS XVI #1 erklärt in der Tat, wie Operationen direkt auf den Wörtern der Gleichung innerhalb der geometrischen Darstellung verstanden werden können. Hat man dies erst einmal verstanden, dann könnte TMS IX #3 vermutlich direkt auf der Ebene der Wörter operieren. Aber TMS XVI #1 ist keine Lösung einer Aufgabe, und in TMS IX #3 ist die Transformation ersten Grades den geometrischen Operationen untergeordnet.

Siehe TMS XVI #2 Zeile 16 und TMS VII #1 Zeile 4 (unten Seite 123 und 124); die beiden Ausdrücke scheinen synonym zu sein. Diese „Trennung“ ” oder „Zerstreuung“, die keine Subtraktion ist, ist die Umkehrung der Operation „anhäufen“.