7 Der Hintergrund

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DOI

10.34663/9783945561607-09

Citation

Høyrup, Jens (2021). Der Hintergrund. In: Algebra in Keilschrift: Einführung in eine altbabylonische geometrische Technik. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

Was wir über altbabylonische Algebra wissen – ihre Flexibilität, ihre Leistungsfähigkeit bei der Lösung ausgeklügelter aber für die Praxis irrelevanter Probleme, die Kompetenz der Schreiber, die sie angewendet haben – lässt das Rätsel ihrer Existenz unbeantwortet. Weil dieses Rätsel inzwischen fast 4000 Jahre alt ist, dürfen wir hoffen, durch Nachdenken über die Lage in der Zeit von König Hammurabi etwas über unser Zeitalter herauszufinden.

Die Schreiberschule

Die altbabylonische Mathematik diente nicht der Zerstreuung von reichen und hochintelligenten Liebhabern, wie das griechische Mathematiker waren oder zumindest sein wollten. Nach dem Format der Texte wurde sie in den Schreiberschulen gelehrt – kaum allen Schülern, nicht einmal denjenigen unter diesen, welche das volle Standardcurriculum absolvierten, aber doch zumindest einem Teil der zukünftigen Schreiber (oder nur den künftigen Lehrern der Schreiberschulen?).

Das Wort „Schreiber“ könnte irreführend sein. Sicherlich konnten die Schreiber schreiben. Aber die Fähigkeit zu rechnen war genauso wichtig – ursprünglich ist das Schreiben als Hilfsmittel bei der Buchhaltung erfunden worden, und diese nachrangige Funktion in Bezug auf das Rechnen blieb sehr wichtig. Die modernen Kollegen der Schreiber sind Ingenieure, Buchhalter und Notare.

Es ist daher angebracht, nicht von „babylonischen Mathematikern“ zu sprechen. Strenggenommen sollte man das, was man an den Schreiberschulen größtenteils unterrichtete, in erster Linie nicht als „Mathematik“ sondern eher als Rechnen bezeichnen. Der Schreiber sollte befähigt werden, die richtige Zahl zu finden, sei es in seiner Funktion als Ingenieur oder als Buchhalter. Sogar Aufgaben, die keine echten praktische Probleme betrachten, drehen sich immer um messbare Größen, und sie fragen immer nach einer numerischen Lösung, wie wir gesehen haben. Vielleicht ist es angebracht, von der „Algebra“ als „reinem Rechnen“ anstatt (unangewandter und daher „reiner“) Mathematik zu reden. Die oben auf Seite 9 gemachten Beobachtungen sollten also noch einmal durchdacht werden!

Dies ist einer der Gründe, warum viele der Aufgaben, die nicht wirklich in der Praxis verankert sind, dennoch vom Messen und Teilen eines Feldes sprechen, von der Herstellung von Ziegeln, der Konstruktion von Belagerungsrampen, Kauf und Verkauf, und vom Verleihen von Geld gegen Zinsen. Man kann viel über das tägliche Leben in Babylonien (wie es mit den Augen eines professionellen Schreibers ausgesehen hat) allein durch die Themen lernen, über die in diesen Problemen gesprochen wird, selbst wenn deren mathematische Substanz vollkommen künstlich ist.

Wenn wir wirklich altbabylonische „Mathematiker“ in einem annähernd modernen Sinn finden wollen, dann müssen wir diejenigen betrachten, welche diese Techniken erschaffen haben, und die entdeckt haben, wie man Aufgaben konstruiert, die schwierig sind, aber dennoch gelöst werden können. Betrachten wir etwa das Problem TMS XIX #2 (das nicht in diesem Buch enthalten ist): Finde die Seiten ℓ und w eines Rechtecks aus seiner Fläche und der Fläche eines anderen Rechtecks \sqsubset \hspace{-1.99997pt}\sqsupset \!\! (d,  (\ell )) (also eines Rechtecks, dessen Länge die Diagonale des ersten Rechtecks und dessen Breite gleich dem Würfel mit Seitenlänge ℓ ist). Dies ist ein Problem achten Grades; ohne systematische theoretische Arbeit, vielleicht mit einer Aufgabe wie BM 13901 #12 als Ausgangspunkt, wäre es unmöglich gewesen zu erraten, dass diese Aufgabe (in unseren Worten) bi-biquadratisch ist und sich mit Hilfe einer Kaskade dreier quadratischer Gleichungen lösen lässt. Diese Art theoretischer Arbeit hat aber keine schriftlichen Spuren hinterlassen.

Der erste Zweck: Das Üben numerischen Rechnens

Wenn man einem der algebraischen Texte zu folgen versucht, insbesondere einem der eher komplizierten Exemplare, dann ist man geneigt, den Rechnungen zu trauen – „es ist zweifellos richtig, dass igi 6°56′40″ gleich 8′38″24‴ ist, und wenn nicht, dann würde in der modernen Ausgabe des Textes eine Fußnote angebracht sein (bestimmte Schreibfehler sind oben tatsächlich korrigiert worden, somit sollten alle Berechnungen korrekt sein). Ein misstrauischer Leser dagegen wird ein gutes Training in sexagesimaler Arithmetik genossen haben.

Dies illustriert eine der Funktionen der Algebra im Curriculum: sie liefert einen Vorwand, um den Umgang mit schwierigen Zahlen zu trainieren. Weil das Ziel der Schule das Training von professioneller Routine war, war die intensive Pflege der sexagesimalen Arithmetik offensichtlich ein willkommener Nebeneffekt.

Diese Beobachtung kann auf unsere Zeit und auf den Unterricht quadratischer Gleichungen übertragen werden. Das Ziel beim Unterricht quadratischer Gleichungen war nie, beim Überspielen einer Langspielplatte oder einer CD auf eine Kassette nützlich zu sein. Aber die Reduktion komplizierter Gleichungen und die anschließende Lösung quadratischer Gleichungen ist nicht der schlechteste Vorwand, um Schüler mit der Manipulation symbolischer algebraischer Ausdrücke und dem Einsetzen numerischer Werte in eine Formel vertraut zu machen; es scheint schwierig zu sein, Alternativen mit einer überzeugenderen direkten Beziehung zur Praxis zu finden – und das allgemeine Verständnis, die fehlerfreie Manipulation algebraischer Formeln und das Einfügen numerischer Werte in Formeln sind notwendige Routinen in vielen Berufen.

Der zweite Zweck: Professioneller Stolz

Der Erwerb professioneller Fingerfertigkeit ist sicherlich ein gerechtfertigtes Ziel, selbst wenn es auf indirektem Weg erreicht wird. Dennoch war es nicht der einzige Zweck des Unterrichtens von anscheinend nutzloser Mathematik. Kulturelle oder ideologische Funktionen spielten ebenfalls eine Rolle, wie dies die „Edubba-Texte“ (oben Seite 38) zeigen, Texte, welche der Herausbildung von professionellem Stolz künftiger Schreiber dienten.

Wir kennen eine Anzahl solcher Texte. Diese sprechen wenig von täglichen Routinen – der Umgang mit diesen war eine zu elementare Fähigkeit; der Stolz eines Schreibers, wenn er gerechtfertigt sein soll, musste auf etwas Gewichtigerem aufgebaut sein. Das Lesen und Schreiben der akkadischen Muttersprache in Silbenschrift zählte dabei nicht viel. Aber Sumerisch schreiben zu können, was nur andere Schreiber verstehen würden, war eine andere Preisklasse! Alle Logogramme zu kennen und zu üben, einschließlich ihrer okkulten und seltenen Bedeutungen, würde ebenfalls zählen.

Die Fläche eines rechteckigen Feldes aus seiner Länge und Breite zu berechnen war ebenfalls keine Aufgabe, die allzu respekteinflößend ist – jeder Stümper in diesem Beruf würde das können. Sogar die Bestimmung der Fläche eines Trapezes war zu leicht. Aber Länge und Breite aus ihrer Summe und der Fläche zu bestimmen, welche sie „enthalten“, hatte schon mehr Niveau. Sie aus den Angaben wie denen auf AO 8862 #2, oder den alptraumhaften Informationen auf VAT 7532 zu berechnen – das würde einem das Gefühl geben, ein richtiger Schreiber zu sein, also jemand, der sich den Respekt von Nicht-Eingeweihten verdient hatte.

Wir haben keine Information darüber, ob die Kenntnis des Sumerischen und der Mathematik zur Auswahl der Schreiberlehrlinge benutzt wurde – dies ist eine der Funktionen solcher Fähigkeiten in heutigen Schulen: Weil die Schreiberschule keine öffentliche Schule mit gleichem Zugang für alle war, gab es kaum Bedarf daran, die „falschen“ Schüler mit indirekten Methoden draußen zu halten. Allerdings haben tote Sprachen auch in der jüngeren Vergangenheit eine kulturelle Rolle gespielt, die über das Aufrechterhalten einer sozialen Barriere hinausging. Seit der Renaissance war Latein jahrhundertelang ein Symbol einer gebildeten Elite und Teil des Selbstbewusstseins der europäischen administrativen und juristischen Institutionen; von diesem Gesichtspunkt aus wurde die mathematische Ausbildung von Ingenieuren von denen, welche die lateinische Kultur besaßen und ihre Normen akzeptiert hatten, eher als Beweis für kulturelle und moralische Minderwertigkeit angesehen. Seit dem 18. Jahrhundert waren jedoch mathematische Kompetenz und Fingerfertigkeit über das Notwendige hinaus wesentliche Komponenten der professionellen Identität von Ingenieuren, Architekten und Offizieren1.

Sogar eine Analyse der kulturellen Funktion der „höheren“ altbabylonischen Mathematik kann uns also etwas über unsere Zeit lehren.

Fußnoten

Im 19. Jahrhundert machten diese drei Gruppen den Löwenanteil der Abonnenten des Journal des mathématiques élémentaires und ähnlicher Zeitschriften aus. Das Ladies’ Diary, das von 1704 bis 1841 erschien und mathematisch sehr inhaltsreich war, hat ebenfalls auf eine soziale Gruppe gezielt, die zum größten Teil von Oxford-Cambridge und der altsprachlichen humanistischen Bildung ausgeschlossen waren; dies waren Kreise, zu denen nicht einmal vornehme Frauen Zugang hatten.