3 Techniken für Grad 2

Download Chapter

DOI

10.34663/9783945561607-05

Citation

Høyrup, Jens (2021). Techniken für Grad 2. In: Algebra in Keilschrift: Einführung in eine altbabylonische geometrische Technik. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

Nach diesen Beispielen von Methoden zum Lösen von Problemen ersten Grades kommen wir nun zum eigentlichen Kern der altbabylonischen Algebra, wobei wir einmal mehr die Frage übergehen, was genau wir unter „Algebra“ im Zusammenhang mit babylonischer Mathematik verstehen wollen.

In diesem Kapitel werden wir einige einfache Probleme untersuchen, und dies wird uns erlauben, die fundamentalen Techniken zu entdecken, welche die altbabylonischen Gelehrten benutzt haben. In Kap. 4 werden wir komplexere und raffiniertere Aufgaben besprechen.

BM 13901 #1

Vs. I

(1)Die Fläche und meine Gegenseite habe ich angehäuft: 45′ ist es. 1, die Projektion

(2)setzt Du. Das Halbe von 1 brich ab, 30′ und 30′ lässt Du enthalten.

(3)15′ zu 45′ fügst Du hinzu: bei 1 ist 1 gleich. 30′, welche Du enthalten lassen hast,

(4)aus dem Inneren von 1 reiße heraus: 30′ ist die Gegenseite.

Dies ist das Problem, das auf Seite 11 in der „Transliteration“ der Assyriologen und auf Seite 15 in traditioneller Übersetzung zitiert wurde. Eine Übersetzung in moderne mathematische Symbolsprache findet man auf Seite 15.

Auch wenn wir diese Aufgabe von diesem Gesichtspunkt aus gut kennen, wollen wir den Text und die Terminologie noch einmal genau untersuchen, um mit ihm auch aus der Perspektive des Autors umgehen zu können.

In Zeile 1 wird die Aufgabe formuliert: es geht um eine Fläche, hier ein Quadrat, und um die dazugehörige Gegenseite, also die Figur eines Quadrats, das von seiner Seite parametrisiert ist; siehe Seite 26. Das Erscheinen des Wortes „Gegenseite“ bedeutet, dass die „Fläche“ diejenige eines Quadrats ist.

„Fläche“ und „Gegenseite“ sind angehäuft. Diese Addition muss benutzt werden, wenn verschiedenartige Größen im Spiel sind, hier eine Fläche (zwei Dimensionen) und eine Seite (eine Dimension). Der Text gibt die Summe der beiden Größen, also ihrer Maßzahlen: 45′. Wenn c für die Seite des Quadrats und \square (c) für dessen Fläche steht, dann kann das Problem wie folgt in Symbolen ausgedrückt werden:

Abb. 3.1: Das Verfahren von BM 13901 #1, in leicht veränderten Proportionen.

Abb. 3.1: Das Verfahren von BM 13901 #1, in leicht veränderten Proportionen.

Abbildung 3.1 zeigt die einzelnen Schritte des Verfahrens wie sie im Text erklärt sind:

A. 1, die Projektion, setzt Du. Dies bedeutet, dass ein Rechteck \sqsubset \hspace{-1.99997pt}\sqsupset \!\! (c,1) neben das Quadrat \square (c) gezeichnet wird.

Dadurch erhält die Summe einer Länge und einer Fläche, was per se sinnlos ist, eine geometrische Bedeutung als rechteckige Fläche \sqsubset \hspace{-1.99997pt}\sqsupset \!\! (c,c+1) = \frac{3}{4} = 45′. Diese geometrische Interpretation erklärt das Auftauchen der „Projektion“ weil das Rechteck \sqsubset \hspace{-1.99997pt}\sqsupset \!\! (c,1) aus dem Quadrat heraus verläuft wie eine Projektion aus einem Gebäude. Wir erinnern daran (siehe Seite 18), dass das Wort ursprünglich als „Einheit“ oder „Koeffizient“ übersetzt worden ist, nur weil die Übersetzer nicht verstanden haben, wie eine Zahl 1 „projizieren“ kann.

B. Das Halbe von 1 brich ab. Die „Projektion“ mit dem angrenzenden Rechteck \sqsubset \hspace{-1.99997pt}\sqsupset \!\! (c,1) wird in zwei „natürliche“ Hälften zerbrochen.

C. 30′ und 30′ lass enthalten. Die äußere Hälfte der Projektion (grau gefärbt) wird so bewegt, dass seine beiden Teile (jedes mit Länge 30′) das Quadrat mit gepunktetem Rand unten links „enthalten“. Dieses cut-and-paste-Verfahren hat uns also erlaubt, das Rechteck \sqsubset \hspace{-1.99997pt}\sqsupset \!\! (c,c+1) in ein „Gnomon“ zu verwandeln, also ein Quadrat, dem in einer Ecke ein kleineres Quadrat fehlt.

D. 15′ zu 45′ fügst Du hinzu: 1. 15′ ist die Fläche des Quadrats, das von den beiden Hälften (30′ und 30′) gehalten wird, und 45′ die des Gnomon. Wie wir von Seite 21 wissen, ist das „Hinzufügen“ einer Größe zu einer anderen eine Vergrößerung der letzteren und nur dann möglich, wenn wenn beide Größe konkret gegeben und von derselben Art sind, wie etwa zwei Flächen. Wir fügen also das fehlende Quadrat hinzu und ergänzen so das Gnomon zu einem neuen Quadrat. Die Fläche des vervollständigten Quadrats ist dann 45′+15′ =1.

Bei 1, 1 ist gleich. Im allgemeinen bedeutet die Phrase „bei Q, s ist gleich“ (siehe Seite 26), dass die Fläche Q, dargestellt als Quadrat, s als eine seiner gleichen Seiten besitzt (in arithmetischer Sprache: s = \sqrt{Q}). Im vorliegenden Fall sagt uns der Text also, dass die Seite des vervollständigten Quadrats gleich 1 ist, wie es in D links vom Quadrat angezeigt ist.

30′, welche Du enthalten lassen hast, aus dem Inneren von 1 reiße heraus. Um die Seite c des ursprünglichen Quadrats zu finden, müssen wir jetzt das Stück der Länge \frac{1}{2} = 30′ entfernen, welches wir darunter angefügt haben. „Reiße a aus H heraus“, ist, wie wir auf Seite 21 gesehen haben, die Umkehroperation von „Hinzufügen“, eine konkrete Elimination, die voraussetzt, dass a tatsächlich ein Teil von H ist. Wie wir oben bemerkt haben (Seite 18), wurde die Phrase „vom Innern“ bei den ersten Übersetzungen ausgelassen, weil sie bedeutungslos ist, solange man annimt, dass sich alles um abstrakte Zahlen dreht. Wenn die Zahl 1 dagegen eine Strecke repräsentiert, dann ist diese Phrase sinnvoll.

30′ die Gegenseite. Entfernen wir von 1 die Strecke \frac{1}{2} = 30′, die wir hinzugefügt hatten, dann erhalten wir die ursprüngliche Seite c, die „Gegenseite“, die folglich gleich 1-30′=30′= \frac{1}{2} (ganz links D).

Dies löst das Problem. In dieser geometrischen Interpretation werden nicht nur die auftretenden Zahlen erklärt, sondern auch die Wörter und Erklärungen, die im Text benutzt werden.

Was die neue Übersetzung angeht sind einige Beobachtungen angebracht. Wir bemerken, dass kein explizites Argument gegeben ist, wonach die cut-and-paste-Methode zu einem korrekten Ergebnis führt. Andererseits ist es intuitiv klar, dass dies so sein muss. Wir können daher von einem „naiven“ Zugang sprechen, müssen aber zugeben, dass unsere übliche Art, mit Gleichungen umzugehen, etwa im Beispiel, in welchem wir dasselbe Problem auf Seite 15 gelöst haben, nicht weniger naiv ist. Ebenso wie der altbabylonische Rechner gehen wir Schritt für Schritt voran, ohne irgend einen expliziten Beweis dafür zu geben, dass die Operationen, die wir ausführen (und denen wir „ansehen“, dass sie angemessen sind), gerechtfertigt sind.

Abb. 3.2

Abb. 3.2

Der wesentliche Schritt in der altbabylonischen Methode ist die Ergänzung des Gnomons wie in Abb. 3.2 gezeigt. Diesen Schritt nennen wir eine „quadratische Ergänzung“; derselbe Ausdruck wird für den entsprechenden Schritt in unserer Lösung durch algebraische Symbole benutzt:

Der Name scheint jedoch noch besser zum geometrischen Verfahren zu passen.

Offensichtlich würde eine negative Lösung in dieser konkreten Interpretation nicht sinnvoll sein. Altbabylonische Algebra ist auf handfesten Größen aufgebaut, und zwar sogar in Fällen, in denen die Aufgaben kaum einen praktischen Nutzen hatten. Keine Länge (oder Fläche, Volumen oder Gewicht) kann negativ sein. Die einzige Idee, die in altbabylonischen Texten zu finden ist und der Vorstellung von Negativität nahekommt, ist die einer subtraktiven Größe, also eine Größe, die dazu vorherbestimmt ist, herausgerissen zu werden. Wir haben solche Größen im Text TMS XVI #1 (Zeilen 3 und 4; siehe Seite 31) sowie TMS VII #2 (Zeile 35, die „herauszureißende Breite“ – siehe Seite 39) getroffen. In Zeile 25 des letzten Texts beobachten wir auch, dass die Babylonier das Ergebnis einer Subtraktion 20′ von 20′ nicht als Zahl betrachtet haben, sondern wörtlich als etwas, wovon es sich nicht zu sprechen lohnt.

Einige allgemeine Darstellungen der Geschichte der Mathematik behaupten, dass die Babylonier negative Zahlen gekannt haben. Dies ist eine Legende, die auf schlampigem Lesen beruht. Wie wir bereits gesagt haben, behaupten manche Texte aus stilistischen Gründen nicht, dass eine Größe A eine andere um den Betrag d übertrifft, sondern dass B um d kürzer ist als A; wir werden in BM 13901 #10 (siehe Fußnote 4, Seite 52) ein Beispiel dafür antreffen. In seinen mathematischen Kommentaren hat Neugebauer diese in der Form A-B = d bzw. B-A = -d ausgedrückt; (A = B+d bzw. B = A- d wären näher an den alten Texten gewesen, aber auch Neugebauer hatte seine stilistischen Gründe). Auf diese Art haben Mathematiker, welche nur die Übersetzung in Formeln gelesen haben und nicht die Erklärungen ihrer Bedeutung (und schon gar nicht die übersetzten Texte), ihre „babylonischen“ negativen Zahlen gefunden.

Wie der französische Orientalist Léon Rodet 1881 geschrieben hat, als er modernisierende Interpretationen eines alten ägyptischen mathematischen Papyrus kritisierte:

Um die Geschichte einer Wissenschaft zu studieren, ebenso wie wenn man etwas bekommen will, ist es besser, sich direkt an Gott zu wenden als an seine Heiligen.1

BM 13901 #2

Vs. I

(5)Meine Gegenseite aus der Fläche habe ich herausgerissen: 14‵30 ist es. 1, die Projektion,

(6)setzt Du. Das Halbe von 1 brichst Du, 30′ und 30′ lässt Du enthalten,

(7)15′ zu 14‵30 fügst Du hinzu: bei 14‵30°15′, 29°30′ ist gleich.

(8)30′, welches Du enthalten lassen hast, zu 29°30′ füge hinzu: 30 die Gegenseite.

Dieses Problem, auf einer Tafel mit insgesamt 24 Aufgaben, welche sich auf immer raffiniertere Art und Weise um eines oder mehrere Quadrate drehen, folgt unmittelbar auf dasjenige, das wir eben besprochen haben.

Vom altbabylonischen Standpunkt aus betrachtet ebenso wie von unserem ist es ein „natürliches“ Gegenstück. Wo das vorherige Problem „hinzufügt“, dreht sich dieses um ein „Herausreißen“. Der wesentliche Teil des Verfahrens ist identisch: Die Verwandlung eines Rechtecks in ein Gnomon, gefolgt von einer quadratischen Ergänzung.

Zu Beginn (Zeile 5) wird das Problem formuliert: Meine Gegenseite aus der Fläche habe ich herausgerissen: 14‵30 ist es. Einmal mehr geht es also um die Fläche eines Quadrats und seine Seite, aber dieses Mal ist die Gegenseite c „herausgerissen“.

Das „Herausreißen“ ist eine konkrete Subtraktion durch Wegnehmen, die Umkehrung der Operation des „Hinzufügens“, und wird nur benutzt, wenn das, was „herausgerissen“ werden soll, Teil der Größe ist, aus der es „herausgerissen“ wird.2 Die „Gegenseite“ c wird also als Teil (des Inneren) der Fläche betrachtet. Abb. 3.3, A zeigt, wie dies möglich ist: Die „Gegenseite“ wird mit einer „Breite“ 1 versehen (eine „Projektion“) und dadurch in ein Rechteck \sqsubset \hspace{-1.99997pt}\sqsupset \!\! (c, 1) verwandelt, das im Innern des Quadrats sitzt. Dieses Rechteck (dunkelgrau schattiert) muss daher „herausgerissen“ werden; was bleibt, nachdem wir \sqsubset \hspace{-1.99997pt}\sqsupset \!\! (c, 1) aus \square (c) eliminiert haben, soll 14‵30 sein. In moderner Symbolsprache entspricht das Problem also

Einmal mehr haben wir jetzt ein Rechteck, von dem wir den Flächeninhalt (14‵30) und die Differenz zwischen der Länge (c) und der Breite ( c-1) kennen – und wieder einmal ist diese Differenz gleich 1, also der „Projektion“.

Abb. 3.3: Die Prozedur von BM 13901 #2.

Abb. 3.3: Die Prozedur von BM 13901 #2.

1, die Projektion, setzt Du. In Abb. 3.3, B, besteht das Rechteck \sqsubset \hspace{-1.99997pt}\sqsupset \!\! (c,c-1) aus einem (weißen) Quadrat und einem (schattierten) „überschüssigen“ Rechteck, dessen Breite gleich der Projektion 1 ist.

Das Halbe von 1 brichst Du. Das überschüssige Rechteck, dargestellt durch seine Breite 1, wird in zwei “Halbe“ geteilt; die Halbe, welche abgetrennt wird, ist in Abb. 3.3, C, schattiert.

Durch cut-and-paste, wie in Abb. 3.3, D gezeigt, erhalten wir wieder ein Gnomon mit derselben Fläche wie die des Rechtecks \sqsubset \hspace{-1.99997pt}\sqsupset \!\! (c, c-1), also 14‵30.

30′ und 30′ lässt Du enthalten, 15′. Das Gnomon wird durch ein kleines Quadrat (schwarz in Abb. 3.3, E) ergänzt, welches von den beiden Halben „gehalten“ wird. Die Fläche dieses vervollständigten Quadrats ist 30′× 30′ = 15′.

Als nächstes werden die Fläche des vervollständigten Quadrats und seine Seite bestimmt: 15′ zu 14‵30 füge hinzu: bei 14‵30°15′, 29°30′ ist gleich.

Indem wir das „Halbe“, das bewegt worden ist, zurücklegen, finden wir die Seite des ursprünglichen Quadrats zu 29°30′+30′ = 30: 30′, welches Du enthalten lassen hast, zu 29°30′ füge hinzu: 30 die Gegenseite.

Wir bemerken das dieses Mal die „Gegenseite“ des Quadrats 30 ist, nicht 30′. Der Grund ist einfach und überzeugend: wenn c nicht größer als 1 ist, dann wird die Fläche kleiner als die Seite sein, und wir müssten mehr „herausreißen“ als vorhanden ist, was offensichtlich nicht möglich ist. Wie wir bereits erklärt haben, waren die Babylonier mit „subtraktiven Größen“ vertraut, also mit Größen, welche dazu bestimmt waren, „herausgerissen“ zu werden; aber nichts in ihrem mathematischen Denken entspricht unseren negativen Zahlen.

Wir bemerken ebenfalls, dass das Paar (14‵30°15′, 29°30′) nicht in Tabellen von Quadratzahlen und Quadratwurzeln aufgeführt ist (siehe Seite 27); die Aufgabe ist also rückwärts aus einer bekannten Lösung konstruiert worden.

YBC 6967

Vs.

(1)Das igibûm über das igûm, 7 geht es hinaus

(2)igûm und igibûm was?

(3)Du, 7 welches das igibûm

(4)über das igûm hinausgeht,

(5)brich es entzwei: 3°30′;

(6)3°30′ zusammen mit 3°30′

(7)lasse enthalten: 12°15′.

(8)Zu 12°15′ welches für Dich herauskommt,

(9)1‵ die Fläche füge hinzu: 1‵12°15′.

(10)Das Gleiche von 1‵12°15′ was? 8°30′.

(11)8°30′ und 8°30′, die Gegenseite, lege nieder.

Rs.

(1)3°30′, was Du halten lassen hast,

(2)von Eins reiße aus,

(3)zu Eins füge hinzu.

(4)Das erste ist 12, das zweite ist 5.

(5)12 ist das igibûm, 5 ist das igûm.

Probleme zweiten Grades, die von Rechtecken handeln, treten häufiger auf als solche über Quadrate. Zwei Arten von Problemen gehören zu dieser Kategorie; andere, komplexere Probleme können auf diese beiden Grundtypen reduziert werden. In einem der beiden ist die Fläche und die Summe der Seiten bekannt; im anderen ist die Fläche und die Differenz der Seiten gegeben.

Die obige Übung gehört zu letzterem Typ – wenn wir von der Tatsache absehen, dass es dabei gar nicht um ein Rechteck geht, sondern um ein Zahlenpaar, das in einer Tabelle von Reziproken steht (siehe Tafel. 1.1 auf Seite 24). Igûm ist die babylonische Aussprache des sumerischen igi, und igibûm diejenige von igi.bi, „seinem igi“ (das Verhältnis zwischen den beiden Zahlen ist in der Tat symmetrisch: wenn 10′ das igi 6 ist, dann ist 6 das igi 10′).

Man könnte erwarten, dass das Produkt von igûm and igibûm 1 ist; im vorliegenden Problem ist das jedoch nicht der Fall: hier soll das Produkt 1‵ sein, also 60. Die beiden Zahlen werden von den Seiten eines Rechtecks der Fläche 1‵ repräsentiert (siehe Zeile Vs. 9); die Situation ist in Abb. 3.4 A dargestellt. Wir haben es hier also einmal mehr mit einem Rechteck zu tun, von dem die Fläche und die Differenz von Länge und Breite gegeben ist, nämlich 1‵ bzw. 7.

Abb. 3.4: Die Prozedur von YBC 6967.

Abb. 3.4: Die Prozedur von YBC 6967.

Es ist wichtig zu bemerken, dass hier die „fundamentale Darstellung“ (die messbaren geometrischen Größen) dazu dient, Größen einer anderen Art zu repräsentieren: die beiden Zahlen igûm und igibûm. In unserer Algebra liegt die Sache anders herum: unsere fundamentale Darstellung kommt aus dem Gebiet der abstrakten Zahlen, und diese dienen der Darstellung von Größen anderer Art: Preise, Massen, Geschwindigkeiten, Abstände usw. (siehe Seite 19).

Wie in den beiden analogen vorhergehenden Fällen wird das Rechteck in ein Gnomon verwandelt, und wie üblich wird das Gnomon zu einem Quadrat vervollständigt, das von den beiden „Halben“ des Überschusses (Zeilen Vs. 3–10) „enthalten“ wird. Das Verfahren lässt sich an den Figuren in Abb. 3.4, B und 3.4, C verfolgen.

Die nächsten Schritte sind bemerkenswert. Die „Halbe“, die abgebrochen und bei der Bildung des Gnomons verschoben wurde (das, was das vervollständigende Quadrat „enthalten lässt“) wird zurück an seinen Platz gesetzt. Weil es um dasselbe Stück geht, muss es grundsätzlich verfügbar sein, bevor es „hinzugefügt“ werden kann. Dies hat zwei Konsequenzen. Zum einen muss das „Gleiche“ 8°30′ zwei Mal „niedergelegt“ werden3, wie wir in Abb. 3.4, D sehen können: dadurch kann das Stück aus dem einen „herausgerissen“ werden (es bleibt die Breite igûm) und dem anderen „hinzugefügt“ werden (dies ergibt die Länge igibûm). Zum anderen muss das „Herausreißen“ dem „Hinzufügen“ vorangehen (Zeilen Rs. 1–3), obwohl die Babylonier (wie wir auch) es normalerweise vorziehen, erst zu addieren und dann zu subtrahieren – vgl. BM 13901 #1–2: das erste Problem addiert die Seite, das zweite subtrahiert sie: 3°30′, was Du enthalten lassen hast, vom einen reiße heraus, dem anderen füge hinzu.

In BM 13901 #1 und #2 wurde die Ergänzung dem Gnomon „hinzugefügt“, hier wird das Gnomon „hinzugefügt“. Beide Varianten sind möglich, weil beide an ihrem Platz bleiben können. Wenn 3°30′ in der Konstruktion des igibûm zu 8°30′ hinzugefügt wird, ist dies nicht der Fall: wenn eine Größe an ihrem Platz bleibt und die andere verschoben wird, dann ist es immer die letztere, die „hinzugefügt“ wird. Im Gegensatz zu unserer Addition und dem „Anhäufen“ der Babylonier ist „hinzufügen“ keine symmetrische Operation.

BM 13901 #10

Vs. II

(11)Die Flächen meiner beiden Gegenseiten habe ich angehäuft: 21°15′.

(12)Gegenseite von Gegenseite, ein Siebtel ist es kleiner geworden.

(13)7 und 6 schreibst Du ein. 7 und 7 lasse enthalten, 49.

(14)6 und 6 lasse enthalten, 36 und 49 häufe an:

(15)1‵25. igi 1‵25 wird nicht abgespalten. Was zu 1‵25

(16)soll ich setzen das mir 21°15′ gibt? Bei 15′, 30′ ist gleich.

(17)30′ zu 7 erhöhst Du: 3°30′ die erste Gegenseite.

(18)30′ zu 6 erhöhst Du: 3 die zweite Gegenseite.

Wir kehren nun zu der Tafel zurück, welche eine Sammlung von Aufgaben über Quadrate enthält, und betrachten eines der einfachsten Probleme über zwei Quadrate. Zeilen 11 und 12 enthalten die Formulierung: Die Summe der beiden Flächen ist als 21°15′ gegeben, und uns wird gesagt, dass die zweite „Gegenseite“ ein Siebtel kürzer ist als die erste4 In Symbolen liest sich die Gleichung, wenn die beiden Seiten mit c_1 bzw. c_2 bezeichnet werden, so:

In anderen Worten ist das Verhältnis der beiden Seiten wie 7 zu 6. Dies eröffnet die Möglichkeit einer Lösung durch einen „falschen Ansatz“ (siehe Seite 37). Die Zeilen 13 und 14 beschreiben die Konstruktion zweier „Modellquadrate“ mit den Seiten 7 und 6 (indem man diese Seiten „enthalten lässt“; siehe Abb. 3.5), deren Gesamtfläche 49+36 = 1‵25 ist. Die Aufgabenstellung verlangt aber, dass diese Summe gleich 21°15′ sein soll; also muss die Fläche um einen Faktor 21°15′/1‵25 reduziert werden. Jetzt ist 1‵25 aber keine „reguläre“ Zahl (siehe Seite 24) – sie besitzt also kein igi: igi 1‵25 wird nicht abgespalten. Wir müssen daher den Quotienten „aus dem Ärmel schütteln“ – dies wird in den Zeilen 15-16 gemacht, wo er als 15′ (also \frac{1}{4}) angegeben wird. Wenn aber die Fläche um einen Faktor 15′ reduziert wird, dann müssen die entsprechenden Seiten um einen Faktor 30′ reduziert werden: Bei 15′, 30′ ist gleich. Zum Schluss bleibt noch (Zeilen 17 und 18) 7 und 6 auf 30′ „zu erhöhen“.

Die erste „Gegenseite“ ist daher 7\cdot 30′ = 3°30′, die zweite 6\cdot 30′ = 3.5

Abb. 3.5: Die beiden Quadrate von BM 13901 #10.

Abb. 3.5: Die beiden Quadrate von BM 13901 #10.

BM 13901 #14

Vs. II

(44)Die Flächen meiner beiden Gegenseiten habe ich angehäuft: 25′25″.

(45)Die [andere] Gegenseite, zwei Drittel der Gegenseite und 5′ nindan.

(46)1 und 40′ und 5′ gehend über 40′ schreibe ein.

(47)5′ und 5′ lasse enthalten, 25″ aus 25′25″ reißt Du heraus:

Rs. I

(1)25′ schreibst Du ein. 1 und 1 lässt Du enthalten: 1. 40′ und 40′ lässt Du enthalten,

(2)26′40″ zu 1 fügst Du hinzu: 1°26′40″ auf 25′ erhöhst Du:

(3)36′6″40‴ schreibst Du ein. 5′ zu 40′ erhöhst Du: 3′20″

(4)und 3′20″ lässt Du enthalten, 11″6‴40⁗ zu 36′6″40‴ fügst Du hinzu:

(5)bei 36′17″46‴40⁗, 46′40″ ist gleich. 3′20″, welches Du enthalten lassen hast,

(6)aus 46′40″ reißt Du heraus: 43′20″ schreibst Du ein.

(7)igi 1°26′40″ wird nicht abgespalten. Was zu 1°26′40″

(8)soll ich setzen das mir 43′20″ gibt? 30′ ist sein bandûm.

(9)30′ zu 1 erhöhst Du: 30′ die erste Gegenseite.

(10)30′ zu 40′ erhöhst Du: 20′, und 5′ fügst Du hinzu:

(11)25′ die zweite Gegenseite.

Auch bei diesem Problem geht es um zwei Quadrate (Zeilen Vs. II.44–45).6

Die etwas obskure Formulierung in Zeile 45 bedeutet, dass die zweite „Gegenseite“ zwei Drittel der ersten ausmacht, mit zusätzlichen 5′ nindan. Wenn c_1 und c_2 für die beiden „Gegenseiten“ stehen, dann sagt uns Zeile 44, dass die Summe der Flächen \square (c_1)+ \square (c_2) = 25′25″ ist, während Zeile 45 angibt, dass c_2 = 40′\cdot c_1+5′ ist.

Dieses Problem kann nicht durch einen einfachen falschen Ansatz gelöst werden, bei dem eine Zahl vorläufig als der Wert der Unbekannten angenommen wird – dies funktioniert nur für homogene Probleme.7 Die Zahlen 1 und 40′ in Zeile 46 zeigen uns den tatsächlich eingeschlagenen Weg: c_1 und c_2 werden durch eine neue Größe ausgedrückt, welche wir c nennen können:

Dies entspricht Abb. 3.6. Es zeigt, wie das Problem auf ein einfacheres reduziert wird, in dem es um ein einziges Quadrat \square (c) geht. Es ist klar, dass die Fläche des ersten der beiden ursprünglichen Quadrate ( \square (c_1)) gleich (1×1) \square (c) ist, aber diese Rechnung muss bis Zeile Rs. I.1. warten.

Der Text beginnt mit der Betrachtung von \square (c_2), was komplizierter ist und zu mehreren Beiträgen Anlass gibt. Zuerst geht es um das Quadrat \square (5′) in der rechten unteren Ecke: 5′ und 5′ lasse enthalten, 25″. Dieser Beitrag wird aus der Summe 25′25″ der beiden Flächen eliminiert: 25″ aus 25′25″ reiße heraus: 25′ schreibe ein. Die verbleibenden 25′ müssen nun in Abhängigkeit der Fläche und der Seite des neuen Quadrats \square (c) erklärt werden.

\square (c_1) ist, wie schon gesagt, 1\times 1=1 mal die Fläche \square (c): 1 und 1 lasse enthalten: 1.8 Nach der Elimination der Ecke 5′\times 5′ bleibt von \square (c_2) einerseits ein Quadrat \square (40′c) übrig, andererseits zwei „Flügel“, auf die wir gleich zurückkommen werden. Die Fläche des Quadrats \square (40′c) ist (40′\times 40′)\square (c) = 26′40″ \square (c): 40′ und 40′ lasse enthalten, 26′40″. Insgesamt haben wir also das 1+26′40″ = 1°26′40″-fache der Quadratfläche \square (c): 26′40″ zu 1 füge hinzu: 1°26′40″.

Abb. 3.6: Die beiden Quadrate von BM 13901 #14.

Abb. 3.6: Die beiden Quadrate von BM 13901 #14.

Jeder „Flügel“ ist ein Rechteck \sqsubset \hspace{-1.99997pt}\sqsupset \!\! (5′,40′c), mit der Fläche 5′\cdot 40′c = 3′20″c: 5′ auf 40′ erhöhe: 3′20″. Damit haben wir die Gleichung

Diese Gleichung stellt uns vor ein Problem, welches der altbabylonische Autor schon in Zeile Rs. I.2 vorhergesehen hat, und das ihn dazu bewegt hat, die Berechnung der Flügel auf später zu verschieben. Wir würden heute sagen, die Gleichung sei nicht „normalisiert“, weil der Koeffizient des quadratischen Terms nicht gleich 1 ist. Der altbabylonische Rechner hätte dies erklären können, indem er in der Terminologie von TMS XVI sagt, dass „so viel wie es von Flächen (gibt)“ nicht eins ist – siehe den linken Teil von Abb. 3.7, wo wir eine Summe von \alpha Quadratflächen (das weiße Rechteck \sqsubset \hspace{-1.99997pt}\sqsupset \!\! (c,\alpha c)) und von \beta Seiten haben, also das schattierte Rechteck \sqsubset \hspace{-1.99997pt}\sqsupset \!\! (c,\beta ), was der Gleichung

entspricht (im vorliegenden Fall ist \alpha =1°26′40″, \beta =2\cdot 3′20″, und \Sigma =25′). Dies hindert uns daran, unsere gewohnte cut-and-paste-Methode direkt anzuwenden. Das „Zerbrechen“ von \beta und das Enthaltenlassen der beiden Halben würde uns kein Gnomon geben.

Abb. 3.7: Transformation des Problems \alpha \square (c)+\beta c = \Sigma .

Abb. 3.7: Transformation des Problems \alpha \square (c)+\beta c = \Sigma .

Die Babylonier umgingen diese Schwierigkeit mit Hilfe eines Tricks, der auf der rechten Seite von Abb. 3.7 zu sehen ist: Der Maßstab der Figur wird in der vertikalen Richtung geändert, und zwar so, dass die vertikale Seite \alpha c statt c wird. Also ist die Summe der beiden Flächen nicht mehr \Sigma \, (= 25′), sondern \alpha \Sigma (=1°26′40″\cdot 25′=36′6″40‴): 1°26′40″ auf 25′ erhöhe: 36′6″40‴ schreibe ein. Wir wir sehen, hat sich die Zahl \beta der Seiten nicht geändert, sondern nur der Wert der Seite, der von c zu \alpha c geworden ist.9

In moderner Symbolsprache entspricht diese Umformung der Multiplikation beider Seiten der Gleichung

mit \alpha , und dies gibt uns die normalisierte Gleichung

in der Unbekannten \alpha c.

Eine Gleichung dieses Typs ist uns schon in BM 13901 #1 begegnet. Wir sind also an einem Punkt angelangt, an dem wir die gewohnte Methode anwenden können: man „zerbreche“ des schattierten Rechtecks und lasse die beiden „Halben“ eine quadratische Ergänzung „enthalten“ (siehe Abb. 3.8); die äußere „Halbe“ ist leicht schattiert in ihrer ursprünglichen Position, die stärker schattierte in der Position, auf die sie gebracht wurde). Erst jetzt muss der Rechner die Anzahl der Seiten im schattierten Rechteck von Abb. 3.7 wissen (also \beta bestimmen). Wie wir schon gesagt haben, trägt jeder „Flügel“ 5′40″=3′20″ Seiten bei. Hätte der Rechner mechanisch nach festen Algorithmen gearbeitet, hätte er nun mit 2 multipliziert, um \beta zu finden. Aber er tut es nicht! Er weiß in der Tat, dass die beiden Flügel den Überschuss darstellen, der in zwei „Halbe“ „zerbrochen“ werden muss. Er lässt daher 3′20″ und 3′20″ „enthalten“, was die quadratische Ergänzung liefert, und „fügt“ die sich ergebende Fläche 11″6‴40⁗ zu der Fläche 36′6″40‴ des Gnomons hinzu: 3′20″ und 3′20″ lasse enthalten, 11″6‴40⁗ zu 36′6″40‴ füge hinzu [...] 36′17″46‴40⁗.

Abb. 3.8: BM 13901 #14, das normalisierte Problem.

Abb. 3.8: BM 13901 #14, das normalisierte Problem.

36′17″46‴40⁗ ist daher die Fläche des vervollständigten Quadrats, und dessen Seite ist \sqrt{36′17″46‴40⁗} = 46′40″: bei 36′17″46‴40⁗, 46′40″ ist gleich. Diese Zahl stellt 1°26′40″\cdot c+3′20″ dar; 1°26′40″ c ist folglich 46′40″-3′20″=43′20″: 3′20″, das du enthalten lassen hast, aus 46′40″ reiße heraus: 43′20″ schreibe ein. Als nächstes müssen wir den Wert von c finden. 1°26′40″ ist eine irreguläre Zahl, und der Quotient 46′40″/1°26′40″ wird direkt als 30′ angegeben:10 igi 1°26′40″ wird nicht abgespalten. Was soll ich zu 1°26′40″ setzen, das mir 43′20″ gibt? 30′, sein bandûm. Zum Schluss werden c_1 und c_2 bestimmt, c_1=1\cdot c=30′, c_2=40′\cdot c+5′=25′:11 30′ auf 1 erhöhe: 30′ die erste Gegenseite. 30′ auf 40′ erhöhe: 20′, und 5′ füge hinzu: 25′ die zweite Gegenseite. Die Aufgabe ist gelöst.

TMS IX #1 und #2

#1

(1)Die Oberfläche und 1 die Länge habe ich angehäuft, 40′. ¿30, die Länge,? 20′ die Breite

(2)Als 1 Länge zu 10′ der Fläche wurde hinzugefügt,

(3)oder 1 (als) Basis zu 20′, der Breite, wurde hinzugefügt,

(4)oder 1°20′ ¿ist gesetzt? zur Breite, welche 40′ zusammen mit der Länge ¿hält?

(5)oder 1°20′ zusam⟨men⟩ mit 30′ der Länge enthält, 40′ (ist) dessen Name.

(6)Weil so, zu 20′ der Breite, wie Dir gesagt ist,

(7)1 wird hinzugefügt: 1°20′ siehst Du. Hiervon ausgehend

(8)fragst Du. 40′ die Fläche, 1°20′ die Breite, die Länge was?

(9)30′ die Länge. Dies ist das Verfahren.

#2

(10)Fläche, Länge und Breite habe ich angehäuft, 1. Nach der akkadischen (Methode)

(11)1 zur Länge füge hinzu. 1 zur Breite füge hinzu. Weil 1 zur Länge hinzugefügt ist,

(12)1 zur Breite hinzugefügt ist, 1 und 1 lasse enthalten, 1 siehst Du.

(13)1 zum Haufen von Länge, Breite und Fläche füge hinzu, 2 siehst Du.

(14)Zu 20′, der Breite, 1 füge hinzu, 1°20′. Zu 30′, der Länge, 1 füge hinzu, 1°30′.

(15)¿Weil? eine Fläche, die von Breite 1°20′, von Länge 1°30′,

(16)¿die Länge zusammen mit? der Breite man enthalten lassen hat, was ist ihr Name?

(17)2 die Fläche.

(18)So geht die akkadische (Methode).

Wie TMS XVI #1 lösen die Abschnitte #1 und #2 der vorliegenden Tafel kein Problem.12 Stattdessen bieten sie eine pädagogische Erklärung der Bedeutung der Addition von Flächen und Strecken, sowie der Operationen zur Behandlung von Problemen zweiten Grades. In den Abschnitten #1 und #2 geht es um zwei verschiedene Situationen. In #1 ist die Summe der Fläche und der Länge, in #2 die Summe der Fläche, der Länge und der Breite eines Rechtecks gegeben; erst #3 (das wir im nächsten Kapitel behandeln werden) ist ein echtes Problem, das in Übereinstimmung mit den in #1 und #2 gelehrten Methoden formuliert und gelöst wird.

Die Abbildung in Abb. 3.9 links ist in Übereinstimmung mit dem Text von #1 gezeichnet, in welchem die Summe der Fläche und der Länge eines Rechtecks gegeben ist. Parallel zu unserer symbolischen Umformung

wird die Breite mit einer „Basis“13 versehen. Dies führt zu einer ganzen Reihe von Erklärungen, die gegenseitig voneinander abhängen und mit „oder ... oder ... oder“ verbunden sind, merkwürdig ähnlich zur Art, wie wir über unsere Umformungen einer Gleichung sprechen, wenn wir etwa

schreiben.

Abb. 3.9: TMS IX, #1 und TMS IX, #2.

Abb. 3.9: TMS IX, #1 und TMS IX, #2.

Zeile 2 spricht von der „Fläche“ als 10′. Der Schüler soll also einmal mehr annehmen, dass die Diskussion sich um das Rechteck \sqsubset \hspace{-1.99997pt}\sqsupset \!\! (30′,20′) dreht. Die Tafel ist zerbrochen, weswegen wir nicht wissen, ob die Länge explizit gegeben war; Zeile 6 zeigt allerdings, dass die Breite gegeben war.

Am Ende zeigen Zeilen 7-9, wie man die Länge findet, wenn die Breite zusammen mit der Summe von Fläche und Länge bekannt ist (durch eine Division, die hier nur implizit durchgeführt wird).

Aufgabe #2 lehrt, wie man sich in einer komplexeren Situation verhält: Jetzt ist die Summe der Fläche und beider Seiten eines Rechtecks gegeben (siehe Abb. 3.9 rechts). Sowohl Länge als auch Breite werden um 1 verlängert; dies erzeugt zwei Rechtecke \sqsubset \hspace{-1.99997pt}\sqsupset \!\! (ℓ,1) und \sqsubset \hspace{-1.99997pt}\sqsupset \!\! (w,1), deren Flächen die Länge bzw. die Breite darstellen. Aber dies erzeugt auch ein leeres Eckquadrat \sqsubset \hspace{-1.99997pt}\sqsupset \!\! (1,1). Ist dieses gefüllt, dann haben wir ein größeres Rechteck der Länge ℓ+1 (= 1°30′), der Breite w+1 (= 1°20′) und der Fläche 1+1 = 2; eine Probe bestätigt, dass das Rechteck, das diese beiden Seiten enthalten, tatsächlich Fläche 2 besitzt.

Diese Methode hat einen Namen, was in der altbabylonischen Mathematik (zumindest in den uns erhaltenen Texten) sehr selten ist. Sie heißt „die akkadische (Methode).“ „Akkadisch“ ist die Bezeichnung für die Sprache, deren Hauptdialekte das Babylonische und das Assyrische sind (siehe den Kasten „Geschichte Mesopotamiens“; entsprechend wird „Akkader“ für den nicht-sumerischen Anteil der Bevölkerung im dritten Jahrtausend v.Chr. benutzt. Es gibt Hinweise darauf (so etwa durch den hier vorliegenden Text), dass die „Algebra“ der altbabylonischen Schreiberschule sich von der Praxis einer akkadischen Feldmesserprofession inspiriert wurde (wir werden dieses Thema auf Seite 114 besprechen). Die „akkadische“ Methode ist in der Tat nichts anderes als eine quadratische Ergänzung, wenn auch eine etwas untypische Variante, also das Grundwerkzeug zur Lösung aller gemischten quadratischen Probleme, seien diese geometrisch oder, wie bei uns, durch numerische Algebra ausgedrückt; es ist genau dieses Werkzeug, das als die „akkadische Methode“ bezeichnet wird.

Fußnoten

Léon Rodet, Les prétendus problèmes d'algèbre du manuel du calculateur Égyptien (Papyrus Rhind), Journal asiatique (7) 18 (1881), S. 205.

Auf der anderen Seite ist die Umkehroperation des „Anhäufens“ überhaupt keine Subtraktion, sondern eine Zerlegung in Bestandteile. Siehe Fußnote 3, Seite 105.

Das fragliche Verb (nadûm) hat ein breites Spektrum an Bedeutungen, darunter „zeichnen“ oder „schreiben“ (auf einer Tafel); das Verb lapātum, das wir als „einschreiben“ übersetzen, hat übrigens dieselbe Bedeutung. Weil das, was „niedergelegt“ wird, ein numerischer Wert ist, könnte es scheinen, dass die letztere Interpretation vorzuziehen ist – aber weil geometrische Größen regelmäßig mit ihren numerischen Maßen identifiziert wurden, muss dies nicht zwangsläufig der Fall sein.

Hier sehen wir einen der stilistischen Gründe, der zu einer Formulierung durch Fehlen statt durch Überschuss führt: man hätte genauso gut sagen können, dass die eine Seite die andere um ein Sechstel übertrifft, aber auf dem Gebiet der Multiplikation und des Nehmens von Bruchteilen gaben die Babylonier den Zahlen 4, 7, 11, 13, 14 und 17 einen besonderen Status. Im nächsten Problem dieser Tafel geht es darum,dass eine Seite die andere um ein Siebtel übertrifft, und wieder wäre es möglich gewesen zu sagen, dass die zweite ein Achtel kürzer ist als die erste.

Es wäre denkbar, dass die zugrunde liegende Idee eine leicht andere ist, dass nämlich die ursprünglichen Quadrate in 7×7 bzw. 6×6 Teilquadrate zerlegt werden, deren Anzahl insgesamt 1‵25 wäre, von denen dann also jedes einzelne eine Fläche von \frac{21°15′}{1‵25} = 15′ und eine Seite 30′ hätte. Diese Interpretation wird allerdings ausgeschlossen durch die Operation „enthalten lassen“: Tatsächlich sind die ursprünglichen Quadrate bereits vorhanden, und es gibt folglich keinen Grund, sie zu konstruieren (in TMS VIII #1 wird eine Unterteilung in kleinere Teilquadrate vorgenommen, und dort wird deren Anzahl tatsächlich durch „erhöhen“ gefunden – siehe Seite 85).

Dieser Teil der Tafel ist schwer beschädigt. Aufgabe #24 auf derselben Tafel dreht sich um drei Quadrate, verläuft aber sonst streng parallel, und erlaubt so eine unzweifelhafte Rekonstruktion.

Bei einem einfachen falschen Ansatz wird die vorläufig angenommene Zahl um einen Faktor reduziert, der dem gefundenen Fehler entspricht; wenn wir aber die Werte für c_1 und c_2 mit einem gewissen Faktor reduzieren, etwa mit \frac{1}{5}, dann würde das zusätzliche 5′ ebenfalls um diesen Faktor reduziert, also auf 1′. Nach der Reduktion würden wir daher c_2 = \frac{2}{3}c_1+1′ haben.

Diese sorgfältige Rechnung zeigt, dass der Autor sich ein neues Quadrat vorstellt, und nicht \square (c_2) in Abhängigkeit von \square (c_1) und c_1 ausdrückt.

Dieser Trick wurde bei der Lösung nicht-normalisierter Gleichungen regelmäßig benutzt, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Babylonier eine bestimmte Darstellung wie in Abb. 3.7 benötigt haben. Sie könnten sich vorstellen, dass der Maßstab in einer Richtung geändert wurde – wir wissen aus anderen Texten, dass ihre Diagramme sehr ungenau sein konnten, also bloße Strukturdiagramme waren – mehr wurde zur Gedankenführung nicht benötigt. Sie mussten also nur die Summe \Sigma mit \alpha multiplizieren, und dies konnten (und, wie hier, würden) sie tun, bevor sie \beta ausrechneten.

Der Quotient heißt ba.an.da. Dieser sumerische Ausdruck könnte „das was an die Seite gestellt wird“ bedeuten, was der Art entsprechen könnte, wie Multiplikationen auf einer Hilfstafel ausgeführt wurden. Siehe die Fußnote 11, Seite 25.

Dass der Wert von c1 als 1⋅c berechnet wird und nicht direkt mit c identifiziert wird bestätigt, dass wir mit einer neuen Seite c gearbeitet haben.

Die Tafel ist ziemlich beschädigt; wir erinnern daran, dass die mit ¿? gekennzeichneten Abschnitte Rekonstruktionen sind, welche die Bedeutung (die dem Kontext entnommen werden können), aber nicht notwendig den genauen Wortlaut des Originals wiedergeben.

Das Wort ki.gub.gub ist eine Zusammensetzung sumerischer Wörter, welches nicht von andern Tafeln bekannt ist, und das eine ad hoc-Konstruktion sein könnte. Es bezeichnet vermutlich etwas, das stabil auf den Boden gelegt wird.