5 Quasi-algebraische Techniken

Download Chapter

DOI

10.34663/9783945561607-07

Citation

Høyrup, Jens (2021). Quasi-algebraische Techniken. In: Algebra in Keilschrift: Einführung in eine altbabylonische geometrische Technik. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

Wir haben immer noch nicht festgelegt, was wir unter „Algebra“ verstehen wollen. Jede Unterscheidung zwischen altbabylonischer „Algebra“ und „Quasi-Algebra“ muss daher als vorläufig betrachtet werden – eine Hypothese, die uns erlauben wird, die Beobachtungen zu sammeln, die uns am Schluss für eine systematischere Diskussion dienlich sein werden.

VAT 8512

Vs.

(1)Ein Dreieck. 30 die Breite. Im Innern zwei Felder,

(2)die obere Fläche über die untere Fläche, 7‵ ging sie hinaus.

(3)Die untere Absteigende über die obere Absteigende, 20 ging sie hinaus.

(4)Die Herabsteigende und die Querlinie, was?

(5)Und die Flächen der beiden Felder, was?

(6)Du, 30 die Breite setze, 7‵ was die obere Fläche über die untere Fläche hinausging, setze,

(7)und 20 was die untere Herabsteigende über die obere Herabsteigende hinausging, setze.

(8)igi 20 was die untere Herabsteigende über die obere Herabsteigende hinausging

(9)spalte ab: 3′ auf 7‵ was die obere Fläche über die untere Fläche hinausging,

(10)erhöhe, 21 möge Dein Kopf halten!

(11)21 zu 30 der Breite füge hinzu: 51

(12)zusammen mit 51 lasse enthalten: 43‵21

(13)21 was Dein Kopf behalten hat zusammen mit 21

(14)lasse enthalten: 7‵21 zu 43‵21 füge hinzu: 50‵42.

(15)50‵42 brich entzwei: 25‵21.

(16)Das Gleiche von 25‵21 was? 39.

(17)Aus 39, 21 das Gehaltene, reiße heraus, 18.

(18)18 welche Dir übrig bleiben ist die Querlinie.

(19)Gut, wenn 18 die Querlinie ist,

(20)die Herabsteigenden und die Flächen der beiden Felder sind was?

(21)Du, 21 welches zusammen mit sich selbst Du enthalten lassen hast, aus 51

(22)reiße heraus: 30 bleiben Dir. 30 welche Dir bleiben

(23)brich entzwei, 15 auf 30 welche Dir bleiben, erhöhe

(24)7‵30 möge Dein Kopf behalten!

Kante

(1)18 die Querlinie zusammen mit 18 lass enthalten:

(2)5‵24 aus 7‵30 welche Dein Kopf hält

(3)reiße heraus: 2‵6 bleiben Dir.

Rs.

(1)Was zu 2‵6 soll ich setzen

(2)was mir 7‵, welches die obere Fläche über die untere Fläche hinausging, gibt?

(3)3°20′ setze. 3°20′ auf 2‵6 erhöhe, 7‵ gibt es Dir.

(4)30 die Breite über 18 die Querlinie, wie viel geht es darüber hinaus? 12 geht es darüber hinaus.

(5)12 auf 3°20′, was Du gesetzt hast, erhöhe, 40.

(6)40 die obere Herabsteigende.

(7)Gut, wenn 40 die obere Herabsteigende ist,

(8)die obere Fläche ist was? Du, 30 die Breite,

(9)18 die Querlinie häufe an: 48 brich entzwei: 24.

(10)24 auf 40 die obere Herabsteigende erhöhe, 16‵.

(11)16‵ die obere Fläche. Gut, wenn 16‵ die obere Fläche,

(12)die untere Herabsteigende und die untere Fläche was?

(13)Du, 40 die obere Herabsteigende zu 20 welches die obere Herabsteigende über die untere Herabsteigende hinausgeht,

(14)füge hinzu, 1‵ die untere Herabsteigende.

(15)18 die Querlinie brich entzwei: 9

(16)auf 1‵ die untere Herabsteigende erhöhe, 9‵.

(17)9‵ die untere Fläche.

Viele altbabylonischen mathematischen Probleme behandeln die Aufteilung von Feldern. Die mathematische Substanz kann variieren – manchmal ist die Form des Feldes irrelevant und nur die Fläche wird zusammen mit den spezifischen Bedingungen für seine Teilung angegeben; manchmal, so wie hier, wird nach einer Aufteilung einer bestimmten geometrischen Form gefragt.

Bereits vor 2200 v.Chr. wussten mesopotamische Feldmesser, wie man ein Trapez durch eine parallele Transversale in zwei gleich große Teile teilt; wir werden gleich darauf zu sprechen kommen, wie sie das gemacht haben. Eine ähnliche Halbierung eines Dreiecks lässt sich ohne die Benutzung irrationaler Größen nicht exakt ausführen – und dies bedeutet, dass die altbabylonischen Feldmesser dies nur näherungsweise machen konnten, was allerdings nicht zu den üblichen Lernzielen gehört hat.

Das vorliegende Problem dreht sich um eine Variante der Aufteilung eines Dreiecks, die man exakt ausführen kann. Wie wir in Zeilen 1–3 sehen können und wie in Abbildung 5.1 gezeigt wird, wird ein dreieckiges Feld von einer „Querlinie“, also einer parallelen Transversale, in zwei Stücke geteilt (eine „obere Fläche“ und eine „untere Fläche“). Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass das Dreieck rechtwinklig ist. Es ist ziemlich sicher, dass der Autor des Texts dies auch getan hat, und dass die „Herabsteigenden“ daher Teile der Seite sind; wenn wir allerdings die „Herabsteigenden“ als Höhen interpretieren, gelten die Rechnungen auch für ein schiefwinkliges Dreieck.

Abb. 5.1: Das dreieckige geteilte Feld von VAT 8512, mit dem Hilfsrechteck.

Abb. 5.1: Das dreieckige geteilte Feld von VAT 8512, mit dem Hilfsrechteck.

Die beiden Stücke haben also verschiedene Flächen. Wir kennen allerdings die Differenz der beiden Flächen, sowie die Differenz der beiden dazugehörigen Herabsteigenden. Die Lösung benutzt einen unerwarteten und eleganten Trick und mag daher schwer zu verstehen sein.

Zeilen Vs. 8–10 „erhöhen“ das igi der Differenz der beiden „Herabsteigenden“ auf die Differenz der beiden „Flächen“. Dies bedeutet, dass der Text die Breite eines Rechtecks findet, dessen Länge der Differenz der beiden Teilhöhen und dessen Fläche gleich der Differenz der beiden Teilflächen ist. Dies Breite (die 21 ist) wird zuerst im Kopf behalten und dann zur Breite des Dreiecks hinzugefügt.

Das Ergebnis ist ein Dreieck mit einem angehängten Rechteck – zusammengenommen das Trapez in Abbildung 5.1. Verlängert man die Querlinie zu einer parallelen Transversale des Trapezes, dann finden wir, dass das Trapez in zwei gleich große Teile aufgeteilt wird – und dies ist das Problem, das bereits die altbabylonischen Feldmesser seit einem halben Jahrtausend oder länger zu lösen wussten.

Die Zeilen Vs. 11–16 zeigen, wie sie es gemacht haben: Das Quadrat auf der halbierenden Transversale ist festgelegt als der Mittelwert zwischen den Quadraten der parallelen Seiten. Die dabei verwendeten Operationen („enthalten lassen“ und „abbrechen“) zeigen, dass dieser Prozess wirklich mit Hilfe geometrischer Quadrate und Mittelwerten gedacht ist. Abbildung (5.2) zeigt, warum das Verfahren ein korrektes Ergebnis liefert.

Per definitionem hat der Mittelwert gleichen Abstand zu den beiden Extremen. Also muss das Gnomon zwischen 21 und 39 gleich demjenigen zwischen 39 und 51 sein: (39^2-21^2 = 51^2-39^2); die Hälfte dieser Gnomone – die beiden Teile des schattierten Trapezes – müssen daher ebenfalls gleich sein. Zuerst gilt dies nur für ein Trapez, das entlang der Diagonalen aus einem Quadrat ausgeschnitten ist, aber wir können uns vorstellen, dass das Quadrat zu einem Rechteck gezogen wird und vielleicht zu einem Parallelogramm verdreht wird – keine dieser Operationen ändert das Verhältnis der Flächen oder paralleler Strecken, und dies erlaubt die Erzeugung eines beliebigen Trapezes. Dieses Trapez wird immer noch halbiert, und die Summe der Quadrate auf den parallelen Seiten wird immer noch doppelt so groß sein wie das auf der parallelen Transversalen.

Abb. 5.2: Die Halbierung des Trapezes von BM 8512.

Abb. 5.2: Die Halbierung des Trapezes von BM 8512.

Wir bemerken, dass die Operation des „Langziehens“ auf einen Wechsel des Maßstabs in einer Richtung hinausläuft, eine Technik, die wir bereits in der Lösung nicht- normalisierter Probleme angetroffen haben, und die auch in der Aufgabe um einen Handel mit Öl in TMS XIII (siehe Seite 76) benutzt worden ist. Wir werden diese Technik auch weiter unten beim vorliegenden Problem antreffen.

Möglicherweise wurde die Regel zuerst auf der Basis konzentrischer Quadrate (siehe Abbildung 5.3) entdeckt – die geometrische Figur, die von zwei oder mehr konzentrisch ineinander geschachtelten Quadraten dargestellt wird, wurde in der babylonischen Mathematik sehr geschätzt, vielleicht bereits im dritten Jahrtausend (sie blieb populär bis zu den großen Architekten in der Renaissance); das Prinzip des Arguments bleibt offenkundig dasselbe.

Abb. 5.3: Die Halbierung des Trapezes erklärt durch konzentrische Quadrate.

Abb. 5.3: Die Halbierung des Trapezes erklärt durch konzentrische Quadrate.

Zeile Vs. 17 findet also die halbierende Transversale; sie ergibt sich als 39, und die „Querlinie“ zwischen den beiden ursprünglichen Stücken muss daher die Länge 39 - 21 = 18 haben.

Die nächsten Schritte erscheinen merkwürdig. Zeilen Vs. 21–22 scheinen die Breite des Dreiecks zu berechnen, aber die war eine der gegebenen Größen der Aufgabe. Zweifellos bedeutet dies, dass wir Abbildung 5.1 hinter uns gelassen haben und das Argument jetzt auf einer Figur wie in Abbildung 5.2 beruht. Wenn wir die zusätzliche Breite 21 eliminieren, dann bleibt ein Dreieck übrig, das dem ursprünglichen Dreieck entspricht, aber gleichschenklig ist – siehe Abbildung 5.4.

Um die „obere Herabsteigende“ zu finden, benutzt der Text einen falschen Ansatz und nimmt an, dass das gekürzte gleichschenklige Dreieck das ist, wonach wir suchen. Dessen Länge (die Summe der „Herabsteigenden“) ist dann gleich der Breite, also 30. Um das wahre Dreieck zu finden, müssen wir den Maßstab in der Richtung der Länge wechseln.

Abb. 5.4

Abb. 5.4

Die Zeilen Vs. 23–24 berechnen, dass die Fläche des falschen Dreiecks 7‵30 ist. Die beiden weißen Flächen sind gleich, und ihre summe muss 2\cdot (\frac{1}{2}\cdot (18\cdot 18)) = 5‵24 sein. Die schattierte Fläche – welche der Differenz der Flächen der beiden Teilstücke entspricht – muss daher 7‵30 - 5‵24 = 2‵6 (Kante 1–3) sein.

Wir wissen aber, dass die Differenz 7‵ ist und nicht 2‵6. Die Zeilen Rs. 1–3 ergeben, dass die Differenz 2‵6, die aus dem falschen Ansatz resultiert, mit 3°20′ multipliziert werden muss, um die wahre Differenz 7‵ zu erhalten. Da die Breite bereits den gewünschten Wert hat, müssen wir die Länge und die „Herabsteigenden“ mit diesem Faktor multiplizieren. Die „obere Herabsteigende“ wird also 3°20′\cdot (30-18) = 40 sein (Zeile Rs. 6). Danach ist alles sehr einfach; es könnte sogar noch einfacher sein, aber der gewählte Weg stimmt besser mit dem pädagogischen Stil überein, den wir von TMS XVI #1 kennen, und er ist von einem didaktischen Gesichtspunkt aus wahrscheinlich ergiebiger.

Die Art und Weise, wie dieses Problem gelöst wurde, unterscheidet sich sicherlich von dem, was wir bisher angetroffen haben. Jedoch gibt es auch Gemeinsamkeiten, die aus der Vogelperspektive deutlicher zu sehen sind.

Der Maßstabswechsel. in einer Richtung ist uns bereits als eine algebraische Technik bekannt. Ein nicht weniger auffälliger Unterschied – die Abwesenheit der quadratischen Ergänzung, also der „akkadischen Methode“ – deutet auf ein anderes Merkmal dieser Familie von Problemen hin: die Einführung einer Hilfsfigur welche zuerst „hinzugefügt“ und dann „herausgerissen“ wird.

Der „analytische“ Charakter dieser Methoden ist weniger offensichtlich aber fundamental. Seit der griechischen Antike nennt man die Lösung eines mathematischen Problems „analytisch“, wenn sie mit der Annahme beginnt, dass das Problem bereits gelöst ist; dies erlaubt uns, die Eigenschaften der Lösung zu untersuchen – zu „analysieren“ – um herauszufinden, wie man sie konstruiert.1

Eine Lösung durch eine Gleichung ist immer analytisch. Um dies zu verstehen, betrachten wir noch einmal unsere moderne Lösung von TMS XIII, dem Handel mit Öl (Seite 76). Man beginnt mit der Annahme, dass die Menge von sìla, die mit 1 Schekel gekauft worden ist, eine bekannte Zahl ist, und wir nennen sie a. Wir machen dasselbe mit der Verkaufsrate (die wir v nennen). Die Gesamtinvestition ist daher M\div a, der Gesamtverkaufspreis M\div v, und der Gewinn folglich w = \frac{M}{v}-\frac{M}{a}. Dann multiplizieren wir mit v\times a und so weiter.

Wir behandeln also a und v, als ob sie bekannte Zahlen wären; wir tun so, als hätten wir eine Lösung und wir beschreiben ihre Merkmale. Danach leiten wir Folgerungen ab und finden zum Schluss, dass a = 11, v = 7 ist.

Sogar die Lösungen mit der altbabylonischen cut-and-paste-Methode sind analytisch. Wir nehmen an, dass wir eine Lösung der Öl-Aufgabe kennen und stellen sie als Rechteck der Fläche 12‵50 dar, von dem ein Teil der Länge 40 dem Gewinn entspricht. Dann untersuchen wir die Merkmale dieser Lösung und finden den normalisierenden Faktor, mit welchem wir multiplizieren müssen, um eine Differenz 4 der Seiten zu finden usw.

Die Lösung des vorliegenden Problems ist ebenfalls analytisch. Wir nehmen an, dass das Dreieck durch ein Rechteck derart ergänzt wird, dass der verlängerte „Querlinie“ das sich ergebende Trapez in gleich große Teile teilt, und dann berechnen wir, wie groß die Breite des Rechtecks sein muss, wenn dies der Fall ist; und so weiter. Obwohl es seine Berechtigung hat, erscheint die Unterscheidung zwischen „algebraischen“ Problemen (solche, die man leicht in moderne Gleichungen übersetzen kann) und „quasi-algebraischen“ Problemen aus der Perspektive der altbabylonischen Texte weniger wichtig zu sein als aus unserer Sicht.

BM 85200 + VAT 6599 #6

Vs. I

(9)Eine Ausgrabung. So viel wie die Länge ist die Tiefe. 1 die Erde habe ich ausgerissen. Den Grund und die Erde habe ich angehäuft, 1°10′. Länge und Breite, 50′. Länge, Breite, was?

(10)Du, 50′ auf 1, die Umrechnung, erhöhe, 50′ siehst Du. 50′ auf 12 erhöhe, 10 siehst Du.

(11)Stelle 50′ sich gegenüber, 41′40″ siehst Du; auf 10 erhöhe, 6°56′40″ siehst Du. Sein igi spalte ab, 8′38″24‴ siehst Du;

(12)auf 1°10′ erhöhe, 10′4″48‴ siehst Du, 36′, 24′, 42′ sind Gleiche.

(13)36′ auf 50′ erhöhe, 30′ die Länge. 24′ auf 50′ erhöhe, 20′, die Breite; 36′ auf 10 erhöhe, 6, die Tiefe.

(14)Das Verfahren.

Dies ist ein Problem dritten Grades, das von einer in zwei Teile zerbrochenen Tafel stammt, von denen sich der eine in London und der andere in Berlin befindet (daher der zusammengesetzte Name). Die Aufgabe dreht sich um eine quaderförmige Ausgrabung der Länge ℓ [nindan], Breite w [nindan] und Tiefe d [kùš]. Die Länge ist gleich der Tiefe, aber wegen der verschiedenen Maßeinheiten in diesen beiden Richtungen bedeutet dies d = 12ℓ.

Abb. 5.5: Die Ausgrabung 1 kùš nach unten erweitert.

Abb. 5.5: Die Ausgrabung 1 kùš nach unten erweitert.

Weiter ist die Summe von Länge und Breite [ℓ+w=] 50′, und die Summe des Volumens der Erde, der „herausgerissen“ (also ausgegraben)2 wurde und des „Grunds“ (der Grundfläche) ist

Diese letzte Gleichung kann in

umgeformt werden – wenn also die Ausgrabung 1 kùš tiefer ausgeführt worden wäre, dann wäre das Volumen gleich 1°10′ [nindan2 \cdot kùš] gewesen (siehe Abbildung 5.5).3

Die Lösung basiert auf einer feinsinnigen Variante des falschen Ansatzes (in seiner eigentlichen Form kann dieser hier nicht angewendet werden, weil das Problem nicht homogen ist – siehe Fußnote 7, Seite 55). Der „Ansatz“ besteht in der Konstruktion eines „Bezugswürfels“ mit Kantenlänge ℓ+w. In horizontalen Maßen ist die Kantenlänge 1\cdot 50′ = 50′ [nindan], denn der „Umrechnungsfaktor“ von nindan in nindan besteht in einer Multiplikation mit 1. In vertikalen Maßen ist es 12\cdot 50′ = 10 kùš, weil der „Umrechnungsfaktor“ von nindan in kùš in einer Multiplikation mit 12 besteht (beide Umrechnungen finden in Zeile 10 statt).

Zeilen 11-12 finden das Volumen des Bezugswürfels als 6°56′40″. Dieses Volumen ist 10′4″48‴ mal in der erweiterten Ausgrabung enthalten.

Wir wollen uns nun vorstellen, dass die Kanten der erweiterten Ausgrabung durch die Kanten des Bezugswürfels gemessen werden. Wenn p angibt, wie oft die Länge ℓ von 50′ nindan gemessen wird, und q, wie oft die Tiefe d+1 kùš von 10 kùš (= 50´ nindan) gemessen wird, dann ist

und daher

weiter ist

daher

und schließlich

Wir müssen also 10′4″48‴ als das Produkt dreier Faktoren p, q und r ausdrücken, welche diesen Bedingungen genügen. Dies macht der Text in Zeile 12, wo die Faktoren als „die Gleichen“ 36′, 24′ und 42′ erscheinen. Danach findet Zeile 13 ℓ, w und d.

Die Faktorisierung scheint der Lehrer-Magier aus dem Ärmel geschüttelt zu haben, und vermutlich wurde sie tatsächlich so gefunden, ebenso wie die verschiedenen Quadratwurzeln und Quotienten. Weil die Lösung im Voraus bekannt ist, wäre das leicht. Aber man kann sie auch durch systematisches Nachdenken finden, beginnend mit einfachen Zahlen – man muss nur 10‶4‵48 (= 2^6\cdot 3^4\cdot 7) als das Produkt von drei Zahlen P, Q und R ausdrücken, wo P+Q = 60 und R = P+6 gilt4 Wenn wir den allgemeinen Charakter der altbabylonischen Mathematik berücksichtigen, dann können wir sogar behaupten, dass der Text die Antwort zwangsläufig nur deshalb aus dem Ärmel schütteln darf, weil es zwar möglich (aber recht aufwendig) wäre, sie ohne Magie zu finden. Wir wollen zuerst annehmen, dass P = 1 ist. Wegen P+Q = 60 wird Q = 59 sein, was unmöglich ist. Die Annahmen P = 2 und P = 3 können analog ausgeschlossen werden. P = 4 gibt R = 10, was ebenfalls ausgeschlossen ist – 10‶4‵48 enthält keinen Faktor 5. P = 5 ist unmöglich; P = 6 gibt Q = 54 und R = 12, was nicht sein kann, sowohl weil der Faktor 7 fehlt und weil eine Probe zeigt, dass das Produkt nicht den Bedingungen genügt. Der nächste Wert von P, der nicht zu unmöglichen Werten für Q oder R führt, ist 12, was aber aus denselben Gründen nicht sein kann. P = 18 ist unmöglich, weil das Produkt nur etwa halb so groß ist wie nötig. P = 24 und P = 30 funktionieren aus denselben Gründen wie bei P = 6 nicht. Endlich kommen wir bei P = 36, einem Wert der passt. Hätten wir Primfaktoren gezählt, wäre es noch leichter gewesen, aber es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass die Babylonier diese Technik gekannt hätten.

Es muss aber betont werden, dass diese Methode nur funktioniert, weil eine einfache Lösung existiert. Dadurch unterscheidet sich dieses Problem wesentlich von denen zweiten Grades, wo eine gute Näherung dessen, was „gleich ist“, eine fast richtige Lösung geben würde (und die Babylonier wussten sehr gut, wie man solche Quadratwurzeln näherungsweise bestimmt, obwohl sie dies in ihren Algebra-Problemen nicht taten). Die Babylonier konnten also kubische Probleme im allgemeinen nicht so lösen, wie sie Probleme zweiten Grades lösen konnten – dazu muss man auf die italienischen Algebraiker des 16. Jahrhunderts n.Chr. warten.

Unser Text spricht von drei „Gleichen“, die nicht einmal gleich sind. Dieser Gebrauch stellt zweifellos eine Verallgemeinerung einer Idee dar, die von den Seiten eines Quadrats und eines Würfels herkommt. Es ist nichts Seltsames an einer solchen Verallgemeinerung – unser eigener Begriff der „Wurzel“ einer Gleichung kommt auf dieselbe Art aus der frühen arabischen Algebra, wo die grundlegenden Gleichungen mit Hilfe eines Geldbetrags und seiner Quadratwurzel formuliert wurden. Sobald dieser Ursprung vergessen war, wurde das Wort als Bezeichnung für den Wert einer Unbekannten verstanden, welche dieser Gleichung genügt.

Andere Aufgaben von derselben Tafel sprechen von einem einzigen „Gleichen“; dies ist der Fall, wenn das Volumen der Ausgrabung, gemessen durch das Bezugsparallelepiped (nicht immer ein Würfel), als p^3 oder als p^2\cdot (p+1) faktorisiert werden muss. Für diese beiden Funktionen existieren in der Tat Tafeln, und in diesen erscheint p exakt als „das Gleiche“. Die letztere Tabelle hatte den Namen „gleich, 1 hinzugefügt“ – siehe Seite 132.

Wie in der Algebra der Aufgaben zweiten Grades ist die Behandlung der Probleme dritten Grades analytisch – was wir eben betrachtet haben ist ein typischer Vertreter dieser Kategorie: Man nimmt an, dass eine Lösung existiert und zieht daraus Konsequenzen. Ähnlich ist jede Lösung mit dem falschen Ansatz analytisch – sie beginnt mit der Annahme einer Lösung.

Davon abgesehen gibt es nur ziemlich schwache Verbindungen zwischen Problemen zweiten und dritten Grades: die Terminologie für Operationen, die Benutzung von Tafeln, und die fundamentalen arithmetischen Operationen.

Andere Aufgaben auf derselben Tafel (alle drehen sich um quaderförmige „Ausgrabungen“) werden auf Probleme zweiten oder gar ersten Grades zurückgeführt. Dieser werden dann mit Techniken gelöst, die wir schon kennen, und nicht durch Faktorisierungen. Die Babylonier waren sich dessen bewusst, dass sie eine andere (und in ihren Augen bessere) Technik besaßen, und sie kannten den Unterschied zwischen Problemen, die mit ihren algebraischen Techniken gelöst werden können und solchen, die damit nicht angreifbar waren. Aber sie scheinen diesen Unterschied nicht als fundamental betrachtet zu haben – das mathematische Genre, das durch den Inhalt der Tafel definiert wird, ist eher „Ausgrabungsprobleme“, ebenso wie das Genre, das von BM 13901 definiert wird, „Probleme über Quadrate“ ist, obwohl eines der Probleme auf ein Problem über ein Rechteck zurückgeführt wird. Einmal mehr scheint die Unterscheidung zwischen „Algebra“ und „Quasi-Algebra“ zweitrangig zu sein, weniger wichtig als die Klassifizierung der Probleme nach den Objekten, die sie betrachten.

BM 15285 #24

(1)1 die Gegenseite

(2)Im Innern 16 Gegenseiten

(3)habe ich niedergelegt. Ihre Flächen, was?

Dieses kleine Problem stammt von einer Tafel, welches um die 40 Aufgaben über Unterteilungen eines Quadrats der Seitenlänge 1 = 1‵ nindan enthält. Die noch erhaltenen Fragmente der Tafel enthalten 31 Aufgaben, zu denen es Diagramme gibt, welche die tatsächlichen Unterteilungen darstellen (diese sind oft notwendig, um die bisweilen recht knappen Aufgabenstellungen verstehen zu können). Abb. 5.6 zeigt die Vorderseite des Hauptfragments (Aufgabe #24 findet sich auf der Rückseite).

Der obige Text erklärt den Lösungsweg nicht – dies ist bei keinem einzigen der Aufgaben auf dieser Tafel der Fall. Es ist aber offensichtlich, dass es hier keine algebraische Denkweisen gebraucht werden. Ebenso klar ist, dass die Technik zur Berechnung der Koeffizienten in Aufgabe BM 13901 #10 (Seite 52) hier ebenfalls benutzt werden kann.

In Zeile 3 ist zu sehen, dass das Verb, das mit „niederlegen“ übersetzt ist, hier „zeichnen“ bedeuten könnte; siehe die Fußnote 3, Seite 52.

Abb. 5.6: Die Vorderseite des Hauptfragments der Tafel BM 15285. Nach C. J. Gadd, „Forms and Colours“. Revue d’Assyriologie 19 (1922), 149–159, hier S. 156.

Abb. 5.6: Die Vorderseite des Hauptfragments der Tafel BM 15285. Nach C. J. Gadd, „Forms and Colours“. Revue d’Assyriologie 19 (1922), 149–159, hier S. 156.

Fußnoten

Die Antithesis der „analytischen“ Methode ist die „Synthese, in welcher die Lösung direkt konstruiert wird, gefolgt von einem Beweis, dass die Konstruktion gültig ist“. Dies ist die Beweistechnik in den Elementen Euklids, und seit der Antike gibt es ständige Beschwerden darüber, dass es dies schwieriger als unbedingt nötig macht, dieses Werk zu verstehen: der Student sieht gut, dass jeder Schritt des Beweises korrekt ist und muss folglich akzeptieren, dass das Endresultat unwiderlegbar ist – aber er versteht nicht die Gründe, warum der Autor diesen einen Schritt macht. Dadurch erscheint der Autor eher scharfsinnig als wirklich pädagogisch. Seit der Antike hat man Euklid (oder seine Vorgänger) verdächtigt, ihre Konstruktionen und Beweise erst mittels einer Analyse gefunden und die Lösung dann konstruiert zu haben, während sie ihre Spuren versteckt haben.

Der Text benutzt dasselbe Verb „herausreißen“ wie für die subtraktive Operation.

Die Aussage bezieht sich auch auf „1 die Erde, die ich herausgerissen habe“, aber diese Information wird nicht benutzt. Dies ist ein weiteres Beispiel einer Größe, die bekannt aber nicht gegeben ist. Die Kenntnis des numerischen Werts erlaubt dem Lehrer, eine Unterscheidung zwischen der wirklichen Ausgrabung („1, die Erde“) und dem Volumen der Ausgrabung zu machen, die um 1 kùš nach unten fortgesetzt wird („1°10′, die Erde“).

Um ganze Zahlen zu haben führen wir hier P = 60p = 1‵p, Q = 1‵q, und R = 1‵r ein. Dann ist PQR = 1‷pqr = 10‶4‵48.