Die historische Auseinandersetzung mit Menschenrechten ist nach wie vor ein relativ neues Forschungsfeld. Erst in den letzten Jahren sind Arbeiten in größerer Zahl erschienen. Viele dieser Beiträge versuchten grundlegende Fragen zu klären: Wann, wo, und in welchen Kontexten war von Menschenrechten die Rede? Welche Bedeutung hatten sie? Wer berief sich auf sie? Durch diese historiographischen Nachfragen konnten kritische Einwände gegenüber einer glorifizierenden Geschichte der Menschenrechte formuliert werden. Lynn Hunt hat in ihrem 2007 erschienen Buch Inventing Human Rights etwa darauf hingewiesen, dass viele im 18. Jahrhundert formulierten Menschenrechte trotz ihres universalen Anspruches nicht für Sklav_innen oder Frauen galten. Die Betonung der Selbstevidenz – so das weitere Argument – hätte sogar zu einer Vertiefung von Ungleichheiten geführt. Immerhin musste erklärt werden, weshalb manche Menschen so grundlegend anders seien, dass die als selbstverständlich bezeichneten Rechte für sie nicht gelten sollten. Joan W. Scott hat bereits 1996 auf dieses Paradoxon hingewiesen und beschrieben, wie in der französischen Revolution Geschlechtsunterschiede konstruiert wurden, um Möglichkeiten politischer Teilhabe für Frauen einzuschränken. In ihrer Arbeit Only Paradoxes to Offer zeigt sie, wie französische Aufklärer die Möglichkeit gedanklicher Kreativität nur Männern zusprachen, um Frauen das Recht einer Teilnahme am öffentlichen Diskurs aufgrund ihres Geschlechts zu verwehren. Dieses Paradox ist mit einer kritischen Perspektive auf die gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen des 18. Jahrhunderts gut nachvollziehbar. Aber hat sich dieses androzentrische und rassistische Verständnis von Menschenrechten im 20. Jahrhundert oder zumindest seit der Verabschiedung der UN-Menschenrechtsdeklaration nicht geändert?
Verfolgt man aktuelle Debatten in Europa und den USA, so scheint der Schutz von Menschenrechten schlussendlich doch selbstevident geworden zu sein. Bei nahezu jeder Gelegenheit wird zur Verteidigung der Menschenrechte aufgerufen. Treffen Politiker_innen mit autoritären Staatschefs zusammen, gehört der Hinweis auf die Verbesserung der Menschenrechtssituation in den jeweiligen Ländern zum Repertoire diplomatischer Rituale. Menschenrechte haben politischen Handlungen in den letzten Jahrzehnten eine moralische Grundierung gegeben und werden gerne verwendet, um den progressiven Charakter von politischen Institutionen zu betonen. Im Dezember 2014 hat der Wiener Gemeinderat etwa beschlossen, dass Wien eine „Stadt der Menschenrechte“ sei und eine entsprechende Deklaration und einen Arbeitsplan verabschiedet, der Schritte definiert, um Menschenrechte als Querschnittsthema in Verwaltung und Politik zu verankern. Und die Europäische Union verweist stolz darauf, dass sie Menschenrechte innerhalb ihrer Grenzen und im Kontakt mit Nicht-EU Staaten aktiv fördert und verteidigt. Diese Bekenntnisse können uns aufgrund aktueller Debatten über die Einschränkung des Rechts auf Asyl in Europa zynisch vorkommen. Aber ohne Zweifel wäre es möglich, eine schlüssige Erfolgsgeschichte über die globale Ausbreitung der Menschenrechte nach Ende des Zweiten Weltkriegs zu schreiben.
Tatsächlich sind sich Historiker_innen weitgehend einig, dass Menschenrechte im 18. Jahrhundert und jene nach 1945 grundlegend verschieden waren: Erstere entstanden aus revolutionären Bewegungen heraus und regelten das Verhältnis zwischen Staatsbürgern und nationalen Regierungen. Letztere hingegen waren mit einem Anspruch auf Universalität verbunden. Widersprüche, die bereits aus dem 18. Jahrhundert bekannt sind, wurden aber bei weitem nicht aufgehoben. Eine Vielzahl an Forschungsarbeiten hat gezeigt, dass Menschenrechte nicht immer mit politischem Aktivismus verbunden war, der darauf ausgelegt war, Rechtsansprüche auszuweiten, Diskriminierungen abzubauen oder den Zugang zu Rechten für eine größere Anzahl von Menschen zu erleichtern. In seinem neuesten Buch Christian Human Rights zeigt Samuel Moyn etwa, dass Menschenrechte in einer ersten Phase nach 1945 durch christliche Moralvorstellungen geprägt waren und konservative Regierungen in Europa ideologisch gestützt haben. Die Historikerin Celia Donert hat entgegen der Betonung einer Ost/West Spaltung in ihrem Artikel Wessen Utopie? – Frauenrechte und Staatssozialismus im Internationalen Jahr der Frau 1975 deutlich gemacht, dass die oft betonten Unterschiede im Menschenrechtsverständnis im Kalten Krieg zu verschwimmen beginnen, wenn es um Frauenrechte geht. Und in meiner von Carola Sachse betreuten Dissertation versuche ich zu zeigen, dass einzelne Akteur_innen in Diskussionen um globale Bevölkerungspolitiken auf Menschenrechte verwiesen haben, um individuelle Freiheiten einzuschränken. So sprach Indira Gandhi 1976 von einem Menschenrecht der Nation auf Entwicklung, um Massensterilisationen zu rechtfertigen. In seinem 2014 publizierten Artikel The Rebirth of Politics from the Spirit of Morality: Explaining the Human Rights Revolution of the 1970s hat der deutsche Historiker Jan Eckel aufgrund dieser komplexen Gemengelage für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts von multiplen Chronologien, unterschiedlicher Relevanz und Bedeutung, unterschiedlichen Akteur_innen und unterschiedlichen Geographien der Menschenrechte gesprochen.
Trotz dieser immer größeren Differenzierung der Menschenrechtsforschung fällt auf, dass es nur eine geringe Zahl an Arbeiten aus frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive gibt. Nimmt man die am meisten beachteten Sammelbände der letzten Jahre zur Hand und versucht eine thematische Kategorisierung der darin publizierten Beiträge, so fallen rund 50 Prozent in drei große Kategorien: Länderstudien, Beiträge über die Ursprünge der Menschenrechte, und Beiträge über Menschenrechtsaktivismus und -organisationen. Nur wenige Artikel beschäftigen sich explizit mit Frauenrechten oder Menschenrechten, von deren Verletzung explizit Frauen betroffen sind. Zwar sind in den letzten Jahren auch eine ganze Reihe von Publikationen erschienen, die sich dem Thema aus einer geschlechterhistorischen Perspektive widmen. Aber in den prominenten Debatten der Menschenrechtsforschung spielt diese Perspektive kaum eine Rolle. Carola Sachse hat sich seit 2005 stärker mit dem Thema befasst und von Anfang an die Frage nach einer geschlechterhistorischen Perspektive in den Vordergrund gerückt. Gemeinsam mit Atina Grossmann organisierte sie zwei Workshops mit dem Titel Utopien, Menschenrechte und Geschlecht im 20. Jahrhundert. Die Beiträge mündeten in einer 2011 erschienen Ausgabe der Zeitschrift Central European History. In ihrem 2014 bei L’Homme erschienenen Artikel „Leerstelle: Geschlecht Zur Kritik der neueren zeithistorischen Menschenrechtsforschung“ kritisierte Carola Sachse die Absenz geschlechterhistorischen Perspektiven in den die Diskussion bestimmenden Forschungsarbeiten. Darauf aufbauend haben wir im Sommersemester 2015 gemeinsam eine Ring-Vorlesung an der Universität Wien mit dem Titel Das Geschlecht der Menschenrechte von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart konzipiert. Die dabei vorgestellten Projekte haben in ihrer Zusammenschau eine Reihe von interessanten Perspektiven und Fragen für die Forschung eröffnet: Erstens wurde deutlich, dass sich Frauen – ohne die Unterschiede der jeweiligen historischen Phasen leugnen zu wollen – über die von der Forschung betonten Epochengrenzen hinweg mit menschenrechtlichen Fragen auseinandergesetzt haben und dabei mit Widersprüchen konfrontiert waren, die auch den modernen Menschenrechten immanent sind. Vergleichbar mit heutigen Debatten mussten sie sich einerseits in einen androzentrisch geprägten Diskurs erst einschreiben, um überhaupt den Status als Mensch zu erlangen, andererseits jedoch die Spezifik der Menschenrechtsverletzungen gegenüber Frauen betonen und damit die Universalität in Frage stellen. Zweitens hat sich gezeigt, dass geschlechtergeschichtlich informierte Menschenrechtsforschung kein ausschließlich additives Verfahren sein kann. So wichtig es auch ist, Frauen und deren Auseinandersetzung mit Menschenrechten nachzuspüren, muss sich die Forschung auch mit den geschlechterpolitischen Implikationen bestehender Normen und Diskurse beschäftigen. Drittens wurde aus postkolonialer Perspektive sichtbar, dass die westliche Lesart der Menschenrechte Handlungsräume von Frauen in (ehemaligen) Kolonien auch einschränken und zur Festigung binärer Geschlechterdifferenz führen konnte. Offen blieb, inwiefern Menschenrechte ein effektives Instrument sein können, um frauenpolitische Anliegen durchzusetzen.
Auf Grundlage des letzten Punktes, der nach der Effektivität von Menschenrechten für feministische Forderungen gefragt hat, hat sich für mich eine allgemeine historische Frage ergeben: Wann ist es legitim, die Forderung nach Frauenrechten in unterschiedlichen Phasen der Geschichte als menschenrechtliche Anliegen zu betrachten? Viele Forderungen sowohl der ersten, als auch der zweiten Frauenbewegung werden heute als Menschenrechte verstanden – so etwa die Forderung nach allgemeinem Wahlrecht, nach körperlicher Unversehrtheit oder nach dem Recht auf freien Zugang zu Verhütungsmitteln für Frauen. Ist es aber in all diesen Fällen legitim, die oft sehr rezenten Eingemeindungen in den Menschenrechtsdiskurs auf Bewegungen zurück zu projizieren, die sich in manchen Fällen nicht explizit auf Menschenrechte berufen haben? Kurz gefragt: Sind die Frauenbewegungen des 20. Jahrhunderts Menschenrechtsbewegungen? Es gibt sicher keine einheitliche Antwort auf diese Frage. Auffällig sind vielmehr die großen Unterschiede. Betrachtet man etwa die 1970er Jahre, die in der Historiographie als Durchbruchsphase der Menschenrechte verstanden werden, sind sehr verschiedene politische Vorstellungen und Semantiken in der Frauenbewegung präsent. Während bei Konferenzen der Vereinten Nationen und hier insbesondere seit der Weltfrauenkonferenz in Mexico-Stadt 1975 ein deutlicher Aufschwung menschenrechtlicher Argumentationen zu beobachten ist, fällt in vielen Forderungskatalogen nationaler Frauenbewegungen der Zeit das Fehlen solcher Rückgriffe auf. Die erste Women’s Liberation Konferenz in Großbritannien 1970 hat etwa sehr spezifische Rechte gefordert, aber den Begriff der Menschenrechte dabei nicht verwendet. Auch das 1971 gegründete österreichische Aktionskomitee zur Abschaffung des § 144 verwies in seiner Forderung nach Entkriminalisierung der Abtreibung nicht auf Menschenrechte. Und das in Boston aktive Combahee River Collective, das 1977 die mehrheitlich weiße und heterosexuelle Zusammensetzung der US-amerikanischen Frauenbewegung kritisierte, bezog sich in seinem ausführlichen Statement ebenfalls kein einziges Mal auf Menschenrechte.
Vielleicht ist das auch wenig überraschend. In ihrem 1997 publizierten aber immer noch grundlegenden Artikel zu feministischer Rechtskritik attestierte Ute Gerhard der neuen Frauenbewegung eine grundlegende „Skepsis“ gegenüber Rechtsfragen. Immerhin waren die Diskrepanzen zwischen formeller rechtlicher Gleichstellung bei gleichzeitig weiterbestehenden Ungleichheiten nur allzu deutlich. Und denkt man an die Anfänge der zweiten Frauenbewegung in Deutschland – Aktionsrat, SDS-Konferenz oder Bundesfrauenkongress – so waren viele der Aktivistinnen marxistisch sozialisiert – ein Umfeld, in dem die Bezugnahme auf Menschenrechte als politische Strategie in vielen Fällen schlicht abgelehnt wurde. Wie sich wohl Helke Sanders und Helvi Sipilä über Menschenrechte verständigt hätten? Sipilä, Juristin, zentrale Akteurin in den Vereinten Nationen, Organisatorin der Weltfrauenkonferenz 1975 und spätere Präsidentschaftskandidatin für die Liberale Partei in Finnland. Sanders, Initiatorin des Aktionsrats zur Befreiung der Frau, die in ihrer berühmten Rede auf der SDS-Konferenz 1968 von „klassenspezifischen Unterdrückungsmechanismen“ und der notwendigen „Umwandlung der Produktionsverhältnisse“ gesprochen hat.
Was heißt das nun für die Historiographie der Menschenrechte? Wie Carola Sachse in ihrem bereits erwähnten Artikel argumentiert hat, muss unser Wissen über die Geschichte der Menschenrechte unvollständig bleiben, wenn frauen- und geschlechtergeschichtliche Perspektiven nicht mit einbezogen werden. Aufgrund unserer gemeinsamen Arbeit an dem Thema scheint mir für eine solche in vielen Fällen noch fehlende Aufarbeitung wichtig zu sein, die Einheit von frauenrechtlichen Forderungen mit menschenrechtlichen Agenden zunächst zu hinterfragen, um erklären zu können, wann und weshalb sich manche Frauen dafür oder dagegen entschieden haben, die Bezugnahme auf Menschenrechte zu einem Teil ihrer politischen Strategie zu machen. Damit kann man auch einer Antwort auf die Frage näherkommen, ob beziehungsweise unter welchen Bedingungen der Bezug auf Menschenrechte für Frauenbewegungen eine effektive Strategie war, um ihre Forderungen durchzusetzen. Und das ist nicht nur aus einer frauen- und geschlechterhistorischen Perspektive interessant. Es berührt auch die allgemeine Frage, in welchen Fällen Verweise auf Menschenrechte abseits vom diskursiven Lärm, den sie erzeugen, tatsächlich zu politischen Transformationen geführt haben.
Literatur
Donert, Celia (2012). Wessen Utopie? Frauenrechte und Staatssozialismus im Internationalen Jahr der Frau 1975. In: Moral für die Welt? Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren. Hrsg. von Jan Eckel und Samuel Moyn. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 367–393.
Eckel, Jan (2014). The Rebirth of Politics from the Spirit of Morality: Explaining the Human Rights Revolution of the 1970s. In: The Breakthrough. Human Rights in the 1970s. Hrsg. von Jan Eckel und Samuel Moyn. Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 226–260.
Gerhard, Ute (1997). Menschenrechte sind Frauenrechte. Alte Fragen und neue Ansätze feministischer Rechtskritik. L’Homme 8:43–63.
Hunt, Lynn (2007). Inventing Human Rights. A History. New York: Norton.
Moyn, Samuel (2015). Christian Human Rights. Pennsylvania: University of Pennsylvania Press.
Scott, Joan W. (1996). Only Paradoxes to Offer. French Feminists and the Rights of Man. Cambridge: Harvard University Press.