Eugenik, Macht, Geschlecht
Die Sterilisationsverfahren nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, in deren Folge innerhalb des nationalsozialistischen Machtbereichs zwischen 1934 und 1945 etwa 400.000 Menschen zumeist zwangsweise unfruchtbar gemacht wurden, spiegeln geradezu paradigmatisch das Zusammenspiel von Eugenik, Macht und Geschlecht in der modernen Biopolitik wider. Aus heutiger Sicht frappierend erscheint die enge Verschränkung von medizinischer und sozialer Diagnostik in diesen Verfahren. Vor allem die Diagnose „angeborener Schwachsinn“ bot eine Zugriffsmöglichkeit auf „asoziale Psychopathen“, denen – unabhängig von ihrer Intelligenzleistung – „moralischer Schwachsinn“ unterstellt wurde. Auf diese Weise liefen Menschen Gefahr, sterilisiert zu werden, weil sie den Volksschulabschluss nicht geschafft hatten, ein uneheliches Kind hatten, keiner geregelten Arbeit nachgingen, keinen festen Wohnsitz besaßen oder wegen Bagatelldelikten mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Diese Praxis sozialer Diagnostik hatte auch eine geschlechtsspezifische Dimension, denn die Beschreibung und Bewertung von Einstellungen und Verhaltensweisen – etwa im Hinblick auf häusliche Ordnung, äußere Sauberkeit, Bildung und Beruf, Gewaltbereitschaft oder Sexualverhalten – orientierte sich selbstverständlich an den gängigen Geschlechtsrollenerwartungen.
In vielen Sterilisationsverfahren prallten völlig unterschiedliche Normen und Werte, Umgangsformen und Sprachstile unvermittelt aufeinander: Richter und Ärzte wurden mit den ihnen völlig fremden Lebenswelten von Bauern und Knechten, Fabrikarbeiter_innen und Hausmädchen konfrontiert – und weil die Bildungsbürger, die hier über „einfache Leute“ zu Gericht saßen, deren Werte- und Normensystem nicht verstanden, sprachen sie ihnen kurzerhand „die höheren Verstandeskräfte“ ab. Eine Verständigung war unter diesen Bedingungen schon im Ansatz unmöglich. Was die Betroffenen, ihre Angehörigen und Vormünder vorbrachten, folgte dem „gesunden Menschenverstand“, hielt sich nicht an die wissenschaftliche Logik der Psychiatrie und wurde folgerichtig vor Gericht als unerheblich abgetan. Was Krankheit und was Gesundheit sei, welche Krankheiten erblich seien, was Erblichkeit hieß und welche Konsequenzen sie haben sollte, was Heilung bedeutete, darüber gingen die Meinungen zwischen den Betroffenen und ihren Angehörigen auf der einen, den Medizinern und Juristen auf der anderen Seite ebenso weit auseinander wie über die Frage, was soziale „Höher- oder Minderwertigkeit“ sei. Die diskursiven Ebenen berührten sich allerdings zumeist nicht, und der herrschende Diskurs, der machtgestützte Diskurs der Mediziner, in den die Juristen mit hineingenommen waren, setzte sich regelmäßig durch. Diese beiden Gruppen bestimmten, über welche Aspekte der Wirklichkeit im Sterilisationsverfahren in welcher Form geredet werden durfte und welche Aspekte der Wirklichkeit nicht thematisiert werden konnten. Dies galt umso mehr, wenn vor den Erbgesundheitsgerichten über Sterilisandinnen befunden wurde. Dies soll im Folgenden an Hand von drei Sterilisationsfällen aus den Evangelischen Mädchenheimen in Ummeln bei Bielefeld eingehender dargestellt werden. Diese Einrichtung fungierte seit der Weimarer Republik als „Aufnahme-, Beobachtungs- und Verteilungsstation“ für schulentlassene weibliche Fürsorgezöglinge evangelischer Konfession aus der preußischen Provinz Westfalen und verfügte über besondere Häuser und Abteilungen für „schwersterziehbare“, „schwachsinnige“, „psychopathische“ und geschlechtskranke Mädchen und junge Frauen.
Fragt man nach den Verhaltensmustern, die dazu führen konnten, dass eine Frau als „moralisch schwachsinnig“ abgestempelt wurde, so ist neben Schulversagen und Arbeitsbummelei, Unsauberkeit und Bettnässen, Lügen und Stehlen vor allem ein von der gesellschaftlichen Norm abweichendes Sexualverhalten zu nennen. Besonders deutlich tritt dies in drei Sterilisationsverfahren aus den Jahren 1943 hervor, die Zöglinge der Mädchenheime in Ummeln betrafen (alle Zitate und Quellenangaben aus dem Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 106,1/Gesundheitsamt).
Ida (* 1925) [es handelt sich bei den Namen – wie auch in den unten stehenden Fällen – um Pseudonyme] war unehelich geboren worden. Schon als Säugling kam sie zu Pflegeeltern in eine ländliche Gemeinde im Minden-Ravensberger Land. Körperlich habe sie sich, so heißt es im Beschluss des Erbgesundheitsgerichts Bielefeld vom 16. Dezember 1942, „im Kleinkindes- und Kindesalter […] normal entwickelt“. Dagegen sei sie „geistig seit ihrer frühesten Jugend zurückgeblieben“. Festgemacht wurde dies an den schwachen schulischen Leistungen. Ida hatte die Volksschule besucht, war dreimal sitzen geblieben und schließlich „mit einem dürftigen Abgangszeugnis“ aus der dritten Schulklasse entlassen worden. 1940/1941 war sie als „Pflichtjahrmädchen“ eingesetzt worden. „Dann wurde ihre vorläufige und endgültige Unterbringung in Fürsorgeerziehung wegen bereits eingetretener sittlicher Verwahrlosung dringend erforderlich.“ Sie habe selbst eingestanden, bereits als Schulmädchen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Als „Pflichtjahrmädchen“ bei einem Bauern habe sie wiederholt versucht, den auf dem Hof beschäftigten, 23 Jahre alten Polen Alexander B. „zum Geschlechtsverkehr anzureizen“. Auch habe sie, „als sie keinen Erfolg hatte, obendrein noch den Polen wissentlich unwahr des strafbaren Geschlechtsverkehrs“ bezichtigt.
Im April 1941 wurde Ida in den Evangelischen Mädchenheimen in Ummeln aufgenommen. Auch hier fiel das Urteil über sie vernichtend aus:
Ein eigentliches Schulwissen hat sie überhaupt nicht, es fehlen ihr auch die allerprimitivsten Kenntnisse. Wie sie schon bewiesen hat, gehen ihr, wie es scheint, irgendwelche sittlichen Begriffe völlig ab. Sie ist geistig stumpf und ohne besondere geistige Interessen. Bei erschwerter Auffassung wird sie als sehr träge und ohne Antrieb bei der Arbeit, in ihrer Stimmung als gleichgültig, gefühlsarm, wehleidig und oft empfindlich geschildert.
Dr. Fehlhaber, der für Ummeln zuständige Arzt der Bodelschwinghschen Anstalten, zeigte Ida beim Amtsarzt Bielefeld-Land an, dieser schloss sich der Anzeige ohne weitere Prüfung an, und auch für das Erbgesundheitsgericht war der Fall klar. Ida leide „nach alledem an einer geistigen Schwäche, die seit frühester Jugend besteht und mangels Vorliegens einer äußeren Entstehungsursache als angeborener Schwachsinn zu werten ist.“ Umstandslos wurde ihre Unfruchtbarmachung verfügt, die am 10. Februar 1943 im Krankenhaus Gilead der Westfälischen Diakonissenanstalt Sarepta vollzogen wurde.
Luise (* 1924) entstammte nach dem Urteil des Erbgesundheitsgerichts Bielefeld „sehr ungünstigen Familienverhältnissen“. Sie war mit einem Abgangszeugnis aus dem fünften Jahrgang der Volksschule entlassen worden. In ihrem Fall listete das Gericht einen ganzen Katalog von devianten Verhaltensweisen auf – im Mittelpunkt stand auch hier ein promiskuitives Sexualverhalten: Luise habe
[…] schon früh unter dem Einfluss ihrer Schwestern, die ungehemmt ihren Sexualtrieben nachgingen[, gestanden]. Sie wurde oft mit jungen Burschen gesehen, führte öffentlich Reinigungsarbeiten des Hausflurs im Badeanzug aus. Sie kleidete sich dirnenhaft, hielt auf der Landstraße Autofahrer an, um etwas zu erleben, und hatte schon frühzeitig Geschlechtsverkehr. In Bezug auf Zigarettengenuss legte sie sich wenig Beschränkungen auf, erbettelte sich Zigaretten gelegentlich auch in Wirtschaften und wurde auch schon betrunken gesehen. Im Januar 1939 wurde sie trotz des Arbeitermangels von ihrem Arbeitgeber entlassen, weil sie gegen ihre Vorgesetzten frech gewesen war und im Betriebe schmutzige Ausdrücke gebraucht hatte. Im Juni 1941 hat sie zugestandenermaßen ein Paar Stoffhandschuhe gestohlen.
Im Juni 1938 sollten Luise und ihre Schwester der Fürsorgeerziehung überwiesen werden. Der Antrag auf Fürsorgeerziehung wurde aber auf Beschwerde ihrer Mutter vom Landgericht Hagen zurückgewiesen. Auch das Kammergericht Berlin wies „mangels Beweises“ die vom Jugendamt gegen diesen Beschluss erhobene Beschwerde zurück, so dass die beiden Mädchen schon nach einem Tag aus dem Heim, in das sie verbracht worden waren, wieder entlassen werden mussten. Drei Jahre später, wohl nach dem Offenbarwerden des Diebstahls, unternahm das Jugendamt einen neuen Anlauf. Dieses Mal wurde die Fürsorgeerziehung vom Gericht tatsächlich angeordnet. Im Juli 1941 wurde Luise in den Evangelischen Mädchenheimen in Ummeln aufgenommen. Auch sie erhielt im Heim eine äußerst negative Bewertung:
Während der bisherigen Beobachtungszeit erwies sie sich als oberflächlich und nicht immer offen. Auch ihre starke Triebhaftigkeit, die ebenfalls durch unmäßiges Essen und Trinken zum Ausdruck kommt, machen sich weiterhin geltend. Ihr ganzes Denken wird durch ihren frühzeitig geweckten Sexualtrieb beeinflusst. Sie war weitgehend egozentrisch und herrschsüchtig. Ferner suchte sie aufzufallen, um Gefallen zu erregen. Unter dem Hervortreten einer deutlichen Willensschwäche war sie leicht beeinflussbar und hatte auch keinen festen Willen zu arbeiten. Am Unterricht nahm sie anscheinend aufmerksam teil, verstand dadurch aber, Interesse vorzutäuschen, das doch gar nicht vorhanden war. Sie hat einen verlangsamten Gedankenablauf und verfügt nur über ein geringes Schulwissen. Ihre Ausdrucksfähigkeit ist ungenügend und ihre Kritik- und Urteilsfähigkeit ist stark herabgesetzt.
Das Erbgesundheitsgericht Bielefeld habe sich, so hieß es im Sterilisationsbeschluss vom 29. Oktober 1942, „nach Vorgeschichte, dem Ergebnis der Intelligenzprüfung und dem anlässlich der persönlichen Vorstellung in der mündlichen Verhandlung [sich ergebenden] Gesamteindruck davon hinreichend überzeugen können“, dass Luise „seit ihrer frühesten Jugend an einem Schwachsinn leidet, der mangels Nachweises einer äußeren Entstehungsursache als ein angeborenes Leiden angesehen werden muss.“ Ausdrücklich hob das Gericht auf das Kriterium der „Fortpflanzungsgefährlichkeit“ ab: Der „Schwachsinn“ sei zwar „leicht“, aber „ohne Zweifel erblich bedingt und deshalb für etwaige spätere Nachkommen von ganz besonders schwerwiegender Bedeutung.“ Die „familiäre Belastung“ ergebe sich „einwandfrei“ aus der „Sippentafel“.
Luise und ihre Familie nahmen diesen Sterilisationsbeschluss jedoch nicht widerspruchslos hin. Ihr Vater legte Beschwerde beim Erbgesundheitsobergericht Hamm ein, das sich am 6. Februar 1943 mit dem Fall befasste. Es bestätigte indessen den in erster Instanz ergangenen Beschluss in vollem Umfang. Luises „Fähigkeiten und Leistungen […] auf intellektuellem Gebiet liegen unter der Norm. Ihr positives Wissen ist gering, der Gedankenablauf verlangsamt, die Urteils- und Kritikfähigkeit herabgesetzt.“ Das Erbgesundheitsgericht räumte zwar ein, dass diese Mängel „auf dem Gebiete des Intellekts“ keine „sehr erheblichen“ seien. Entscheidend waren für das Gericht „gröbere Ausfälle auf anderen Gebieten“. Luise sei „unbeständig und arbeitsunlustig“. Ihre Leistungen blieben hinter denen der „gleichaltrigen Arbeitskameradinnen“ zurück.
Ihr charakterliches und soziales Verhalten ist gekennzeichnet durch Oberflächlichkeit, mangelndes Verantwortungsbewusstsein, Verlogenheit, selbstsüchtiges Wesen und leichte Reizbarkeit. Daneben tritt besonders ihre Triebhaftigkeit und Willensschwäche in die Erscheinung. Die Gesamtheit dieser Feststellungen sichert die Diagnose eines die Gesamtpersönlichkeit erfassenden Schwachsinns.
Das Gericht fegte auch die Einwände der Familie im Hinblick auf die Erblichkeit vom Tisch. Für die Entstehung der „geistige[n] und charakterliche[n] Unterwertigkeit“ seien „äußere Schädigungsgründe nach der Anamnese und dem normalen Ausfall der neurologischen Untersuchungen nicht erkennbar“. Für die „Anlagebedingtheit des Leidens“ sprächen „die ungünstigen erbbiologischen Verhältnisse der Sippe“, in der „Fälle von Schwachsinn und Kriminalität mehrfach vorgekommen“ seien. Am 11. März 1943 wurde Luise im Krankenhaus Gilead unfruchtbar gemacht.
Betty (* 1925), so hielt es das Erbgesundheitsgericht Bielefeld in seinem Beschluss fest,
[…] machte rein äußerlich einen netten Eindruck, war groß und schlank, hatte ein frisches Aussehen und war in ihrer Kleidung sauber und ordentlich, in ihrem Wesen aber äußerst frech, anmaßend und schnippisch. Sie war dabei von einer unvorstellbaren Lügenhaftigkeit und zeigte überall einen außergewöhnlichen Hang zum Stehlen.
Als Schulmädchen habe Betty, die aus einer Großstadt im Ruhrgebiet stammte, öfter den Unterricht geschwänzt – einmal habe sie dafür sogar „Wochenendkarzer“ bekommen. Nach der Schulzeit trat sie eine Stelle als Hausgehilfin an, begann dann eine Lehre in einem Café, scheiterte aber schon nach kurzer Zeit. Auch bei ihr stellte ein promiskuitives Sexualverhalten den Stein des Anstoßes dar: Schon im Alter von 14 Jahren habe sie sich „viel in zweifelhaften“ Lokalen aufgehalten und sei „damals auch mal in angetrunkenem Zustande in der Gesellschaft von Soldaten gesehen worden“. Sie habe sich „wahllos dem Geschlechtsverkehr“ hingegeben. Sie habe selbst eingeräumt, „in vier Fällen mit ihr kaum bekannten Soldaten, von denen sie verschiedentlich nur den Vornamen angeben konnte, geschlechtlich verkehrt zu haben.“ In selbstgerechter Empörung, vielleicht auch mit einem voyeuristischen Schauder, hielt das Gericht fest, Betty sei dem Vernehmen nach „unter dem Namen ‚Soldatenliebchen’ bekannt gewesen“. Der Zeugenaussage einer ihrer Dienstherrinnen zufolge sei „auf ihrem Schlüpfer mehrmals der Stempel ‚Eigentum der Flak’ zu sehen gewesen“. Aufgrund „geschlechtlicher Verwahrlosung“ war Betty in Fürsorgeerziehung genommen und in die Evangelischen Mädchenheime Ummeln verbracht worden, wo sie sich „aber doch nur der Gewalt“ gefügt habe.
Der Einfluss der Kriegsverhältnisse wurde vom Gericht nicht in Rechnung gestellt, Bettys Sexualleben wurde kurzerhand auf eine vermeintliche innere Haltlosigkeit zurückgeführt. Vielleicht hatte man ihr auch negativ angekreidet, dass sie – wie auch der Anstaltsarzt und der Amtsarzt – von sich aus einen Antrag auf Sterilisation gestellt hatte. Jedenfalls wurde sie, die keineswegs an einer geistigen Beeinträchtigung litt, am 27. Mai 1943 wegen „angeborenen Schwachsinns“ sterilisiert.
Bettys Fall belegt einmal mehr, dass es auf die Intelligenzleistung nicht wirklich ankam. Für die Diagnose „angeborener Schwachsinn“ war letztlich nicht entscheidend, dass eine kognitive Beeinträchtigung vorlag, vielmehr war ein abweichendes Verhalten ausschlaggebend. Ida, Luise und Betty wurde Schulversagen und Arbeitsbummelei, Alkohol- und Tabakkonsum, unschickliche Kleidung, aufreizendes Verhalten und vor allem eine ausgeprägte Sexualität als Devianz ausgelegt. Sie galten als träge, faul, verlogen, unehrlich, frech, ichbezogen, verantwortungslos, launisch, unausgeglichen, maßlos, willensschwach und ungehemmt triebhaft. Vor dem Hintergrund des Idealbildes der bürgerlichen Ehefrau, Mutter und Hausfrau wurden diese Einstellungen und Verhaltensweisen pathologisiert. Das so geschaffene Gegenbild der „schwachsinnigen Psychopathin“ wiederum stellte eine Negativfolie dar, an der sich die Normalitätserwartungen der bürgerlichen Gesellschaft im Hinblick auf die weibliche Geschlechtsrolle immer wieder neu ausrichten konnten.
Literatur
Schmuhl, Hans-Walter (2016). Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Nationalsozialismus. Berlin: Springer.
Schmuhl, Hans-Walter und Ulrike Winkler (2016). Vom Asyl für entlassene Gefangene zur Teilhabe für Menschen mit Behinderungen. 150 Jahre Diakonische Stiftung Ummeln (1866–2016). Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte.