S Sexualreform

Atina Grossmann

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DOI

10.34663/9783945561126-20

Citation

Grossmann, Atina (2016). S Sexualreform. In: Wissen Macht Geschlecht: Ein ABC der transnationalen Zeitgeschichte. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

Wenn ich an Carola Sachse denke, dann denke ich an das R-Wort: Rationalisierung. S für Sexualreform, das war mein Thema: die Wiederentdeckung der Weimarer Sexualreformbewegung, die Kampagnen für die Reform des Paragraphen 218, die Netzwerke von Ehe-und-Sexualberatungsstellen in Berlin, geleitet von (meist jüdischen) sozialistischen und kommunistischen Ärzten und vor allem auch Ärztinnen, die Verbindungen zwischen kommunistischen und sozialdemokratischen Frauenorganisationen und der bürgerlichen Frauenbewegung, und eben auch die Verwobenheit der Sprache von „mein Körper gehört mir” und dem, wie ich es nannte, „Motherhood-Eugenics Consensus“. All dies habe ich ab dem heißen Herbst 1977, als ich zur Archiv- und Literatur-Recherche nach Berlin kam, in enger Zusammenarbeit mit Carola Sachse erforscht und zu verstehen versucht. Sie beschäftigte sich eher mit Arbeit und Arbeiterinnen in ihrer Dissertation über die Betriebliche Sozialpolitik als Familienpolitik und als Geschlechterpolitik bei Siemens (1990). Doch der Untertitel Eine Untersuchung zur sozialen Rationalisierung in Deutschland im 20. Jahrhundert machte den Fokus deutlich – ob wir über Sexualreform oder Sozialpolitik schrieben, das Zauberwort hieß Rationalisierung.

In den frauenbewegten Jahren 1978 und 1979 saß Carola im Siemens-Archiv – wenn ich mich recht erinnere hat sie sogar einen Computerkurs bei Siemens belegt, um die Feldforschung mit einer echten Ausbildung zu verbinden. Dies zu einer Zeit in den späten 1970er Jahren als Computer in der historischen Forschung und in der öffentlichen Kultur überhaupt noch exotisch waren. Wir, ihre Kolleginnen, staunten und meinten, dass dieses Abenteuer wohl mit ihrer Soziologieausbildung zu tun hatte, aber auch mit einem Hang zur Genauigkeit. Ich dagegen marschierte (in Kooperation mit Gudrun Schwarz, die damals für ihre Diplomarbeit über das Frauenbild in der SS Zeitschrift Das Schwarze Korps recherchierte) regelmäßig durch den Grenzübergang Friedrichstraße nach Ost-Berlin in die Staatsbibliothek Unter den Linden, um die alten handgeschriebenen Kataloge nach verschollenen Sexualaufklärungszeitschriften durchzusehen, mit Titeln wie Liebe und Ehe, Ideal-Ehe, Ideal-Lebensbund (Wochenend und Ehe), Sexualnot, Sexualhygiene, Der Eheberater: Monatsschrift für Hygiene und Volksbelehrung, oder Aufklärung, die die Vorkriegslebensreform und die Weimarer Sexualreformbewegung vorstellten. Die Zeitschriften enthielten eine – für mich erst einmal schwer zu interpretierende – Mischung aus Eugenik, Volksgesundheit, Sozialhygiene, und (sehr) sanfter Pornografie: nackte Fotos von „gesunden“, verdächtig arisch aussehenden Frauen und Männern in einer, so schien es, der Metropole Berlin fernen Landschaft mit – und dies war der entscheidende Punkt – sachlichen Tipps zur Verhütung und gesunder, glücklicher, auch für Frauen befriedigender (Hetero-)Sexualität.

Nicht wenige der Einträge in den großen, aus der Vorkriegszeit geretteten Katalogbänden waren rot durchgestrichen, Opfer des Nationalsozialismus und der „Bücherverbrennung“ – quer gegenüber der Staatsbibliothek auf dem Opernplatz – am 10. Mai 1933. Aber auch die Quellen, die nicht verschollen waren, befanden sich nicht in der Ost-Berliner Staatsbibliothek, sondern lagen völlig vergessen und nicht einmal ausgepackt im Keller der damals noch nicht fertig gebauten neuen West-Berliner Staatsbibliothek, direkt im Niemandsland nahe dem Potsdamer Platz. Bewaffnet mit den Signaturen kam ich zurück über die Grenze in unsere von der Mauer umschlossene linke feministische kapitalistische Insel, wo die West-Bibliothekare dann dankbar die Zeitschriften ausgruben, ordentlich katalogisierten und mir (und zukünftigen Forscher_innen) bereitstellten.

Nun saß ich (den Bibliotheksausweis mit der „niedrigen Nummer“, die den Status als Pionierbenutzerin belegt, besitze ich immer noch) in einer der begehrten Glaskabinen in der Bibliothek und studierte diese Zeitschriften – ihre Fotos und Beratungsspalten („Dr. Hodann antwortet“), die Inserate für Verhütungsmittel oder zur „Wiederherstellung der Menses“, die Adressen und Öffnungszeiten der Beratungsstellen und der Ambulatorien des Verbandes der Krankenkassen Berlins sowie die Annoncen der Treffen der verschiedenen Ligen und Verbände für Sexualreform. Dazu kamen die Berichte der Treffen der Weltliga für Sexualreform, die Zeitschriften des Vereins sozialistischer Ärzte sowie des Bundes deutscher Ärztinnen und eine veritable Flut anderer Quellen. Die lagerten in Bibliotheken und Archiven von Koblenz in West-Deutschland und der Breiten Straße in Ost-Berlin (Ost-Berliner Landesarchiv), in Stockholm, New York, London und Cardiff, also überall dort, wo der Nationalsozialismus diese Bewegung vertrieben hatte, die der Sozialgesundheit, aber eben auch der Parole „Dein Körper gehört Dir“ verpflichtet war. Etliche Bücher, verstaubte Originalausgaben, unter anderem von Max Hodann, Magnus Hirschfeld, Wilhelm Reich, Hertha Riese, Friedrich Wolf und Max Marcuse, fand ich in Antiquariaten in Jerusalem und Tel Aviv. Es war der den nachfolgenden Generationen unverständliche Rest aus den Habseligkeiten, die die Yekke-Flüchtlinge nach Palästina gerettet hatten. Dazu kamen die Beiträge von Charlotte Wolff, Alice Vollnhals-Goldmann, Martha Ruben-Wolf, Helene Stöcker, Kaethe Frankenthal, Lotte Fink, Hertha Nathorff, Julius Moses und anderen sowie Archivmaterial zu der im Jahr 1931 von der KPD geleiteten Kampagne gegen den Paragraph 218.

Die Lektüre war aufregend und, so fand ich, extrem widersprüchlich. Eine Bewegung zur sexuellen Freiheit, die die Sprache von Hygiene und Volksgesundheit mobilisierte und dennoch – dessen war ich mir als Emigrantenkind ganz sicher – nicht, wie damals öfters argumentiert wurde, eine direkte Linie von der Weimarer Reform zur nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik zeichnete. Zu Hilfe kam – gerade im rechten Moment – Michel Foucault mit seiner Einsicht in Sexualität und Wahrheit, dass man nicht meinen sollte, „by saying yes to sex, one says no to power.“

„Das Paradoxon der Sexualreformbewegung bestand darin, dass sie die weibliche Sexualität ‘befreite’, indem sie die Sehnsucht der Frauen nach Befriedigung entdeckte, und sie gleichzeitig neuen Tabus und Restriktionen unterwarf“ – so meine Entschlüsselung 1983 (Grossmann 1985 [1983], 54). Carola Sachse las damals nicht, so meine Erinnerung, eifrig Foucault. Das Postmoderne faszinierte sie nicht. Aber gerade durch Foucaults Analyse der Disziplinierung durch die Verbreitung von Diskursen landete ich bei Carola Sachse und ihrer Forschung über die Rationalisierung der Hausarbeit und der Betriebsarbeit. Ich konnte nun „wissenschaftliches Management“, das die Doppelbelastung der „neuen Frau“ – als tüchtige Arbeiterin, Mutter, und (auch sexuelle) Partnerin – ermöglichen sollte, auch auf die Sexualität beziehen.

Es ging, verkürzt gesagt, um “Die Verlängerung des Fließbandes ins Schlafzimmer.“ Das Spannende an der Weimar Sexualreformbewegung war die “neue Sachlichkeit“, dieser Sprung in die Moderne:

Die sexuellen Beziehungen wurden zunehmend standardisiert durch verstärkt individualisierende und spezialisierte Kontrollmechanismen, d. h. Experten griffen direkt in den Körper ein durch ärztliche Geburtenkontrolle und vorgeschriebene Sexualtechniken. Und umgekehrt erlangten diese Experten in den Sozial- und Beratungsstellen tiefere Einblicke in das private Leben der Menschen. Die Zeitschriften, Ratgeber und Broschüren der Sexualreformbewegung trugen deren Intervention direkt in die Häuser und Schlafzimmer. Somit wurden dieselben Kriterien, die man für eine effektive Rationalisierung der Industrie entwickelt hatte, auch auf die Sexualität übertragen: Einheitlichkeit, Standardisierung, Zuverlässigkeit, Reproduzierbarkeit, Vorhersehbarkeit. (Grossmann 1985 [1983], 53–54)

Carola Sachse und ich ebenso wie Mary Nolan, Tilla Siegel und andere, die zur Rationalisierung im Rahmen von Gender forschten, veröffentlichten die Ergebnisse unserer Arbeit. Aber innerhalb eines Jahrzehnts wurden unsere Interventionen zu Fragen von Gender, Frauen, und Rationalisierung eingeholt oder gar überholt von neuen brennenden Diskussionen im Zusammenhang mit der sich verändernden politischen Situation der Frauenbewegung und den Gender Studies in Deutschland und den USA. In einem kurzen, 1997 veröffentlichten Aufsatz versuchte ich ein Resümee nach einer von Carola Sachse, Tilla Siegel, Mary Nolan und mir organisierten Tagung 1994 zu „Gender and Modernity“ in New York:

In the German case, research on gender and modernity has been significantly defined by the concept of ‘rationalization’ or ‘social rationalization’ […]. The conferences and workshops of the past several years have brought a kind of closure to debates about the usefulness and limitations of the term ‘rationalization’, a vocabulary that has enjoyed more currency in the German context and has indeed proved extremely fruitful for analyzing the turbulent and radically shifting history of modern Germany. We have moved from our, by now very well developed, discussions of rationalization and social welfare at home (housework and in the workplace, trade union and company social policy) and in the welfare state (including the impact of socialism and communism), to consider the new areas of comparative investigation: race, empire, nation, and citizenship, mass consumption and consumer culture, as well as violence and war [und in dem Artikel nicht direkt angesprochen, für mich immer mehr ein Thema, der Holocaust]. […] We concluded that questions regarding inclusion and exclusion, boundary-making and – keeping – perhaps we could call this citizenship – are integral and complementary to any discussion of processes of rationalization and structuring of gender systems. (Grossmann 1997, 7–8)

Carola und ich haben immer wieder darüber gesprochen, dass wir diese Debatten eigentlich nicht weiter verfolgen konnten, da neue Fragen und Forschungsbereiche dringender und relevanter wurden – und dass es dennoch wichtig wäre, sie wieder in Erinnerung zu rufen, um zu fragen, inwiefern sie uns heute und in einem anderen Moment der Krise und Globalisierung, in dem Gender und Sexualität explosive Themen werden, weiter helfen könnten. Deswegen zu Carolas Emeritierung (aber sicherlich nicht Ruhestand) diese kleine Reise in unsere gemeinsame wissenschaftliche und politische Vergangenheit – mit Blick in die Zukunft.

Literatur

Grossmann, Atina (1985 [1983]). Die ‘Neue Frau’ und die Rationalisierung der Sexualität in der Weimarer Republik. In: Die Politik des Begehrens. Sexualität, Pornographie und neuer Puritanismus in den USA. Hrsg. von Ann Snitow, Christine Stansell und Sharon Thompson. Berlin: Rotbuch Verlag, 38–62.

— (1997). Gender and Rationalization: Questions about the German/American Comparison. Social Politics Spring:6–18.

Sachse, Carola (1990). Siemens, der Nationalsozialismus und die moderne Familie: Eine Untersuchung zur Sozialen Rationalisierung in Deutschland im 20. Jahrhundert. Hamburg: Rasch und Röhring.