A Aufbau Ost

Elizabeth Harvey

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DOI

10.34663/9783945561126-02

Citation

Harvey, Elizabeth (2016). A Aufbau Ost. In: Wissen Macht Geschlecht: Ein ABC der transnationalen Zeitgeschichte. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

„Richtige Osterküken sind es – weiße – bunte und schwarze und nun muß Frühling werden!“ Die landwirtschaftliche Lehrerin, die zu Ostern 1944 in ihrem Tagebuch über ihre neue Aufzucht von 600 Küken schrieb, war in der Kolonialen Frauenschule Rendsburg ausgebildet worden und dort auch als Lehrerin tätig gewesen. Von dort wurde sie mit einem neuen Auftrag in den „Osten“ bestellt: Ab Mai 1943 arbeitete sie im Kreis Zamość im Generalgouvernement, wo sie in einem polnischen Gutshaus in Sitno eine deutsche Schule für Dorfberaterinnen aufbaute. Die Dorfberaterinnen sollten die vom SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik betriebene „Eindeutschungspolitik“ in der Region Zamość im Distrikt Lublin unterstützen. In diesem Experimentierfeld des „Generalplans Ost“ beruhte die „Eindeutschung“ auf der Entfernung und Ermordung der Juden und der Vertreibung der Polen: Aus den entvölkerten Dörfern sollte ein deutsches Siedlungsgebiet entstehen. Die Dorfberaterinnen sollten den neu angekommenen bessarabiendeutschen Siedlerfamilien und einheimischen „Deutschstämmigen“ auf ihren neuen Höfen praktische Hilfe leisten und Ratschläge in der Haus- und Landwirtschaft erteilen.

Aus diesen Höfen und Betrieben waren in großen Räumungsaktionen die polnischen Bewohner seit Ende 1942 vertrieben worden. Viele wurden ins Reich als Arbeitskräfte zwangsdeportiert. Kinder unter 14 Jahren, über 60-jährige Personen und Arbeitsunfähige wurden in „Rentendörfer“ verbracht, wo sie ihr Leben fristeten oder zugrunde gingen. Ende 1942 wurden zum Beispiel 2.207 Personen, darunter viele Kinder unter zehn Jahren, in den Kreis Garwolin im Distrikt Warschau deportiert, wo „Rentendörfer“ in ehemals von Juden bewohnten Orten gebildet wurden. Ein weiterer Teil der vertriebenen Polen kam in die Konzentrationslager Majdanek oder Auschwitz. Die gewaltsame Germanisierungskampagne im Distrikt Lublin entfachte den polnischen Widerstand. Im Jahre 1943 mehrten sich die tödlichen Angriffe auf die Siedlerdörfer und daraufhin auch die deutschen Vergeltungsmaßnahmen. Im März 1944 erzwang der deutsche Rückzug im Osten die ersten Schritte zur Räumung des Gebiets um Zamość. In Sitno wurde die Schule für Dorfberaterinnen nicht sofort geräumt, sondern zu einem Stützpunkt für die verbleibenden männlichen Siedler, die Polizei und einquartiertes Militär umfunktioniert. Die Schulleiterin blieb dort, führte die Wirtschaft und arbeitete weiter als Ratgeberin für die Siedler, für die auch die Küken gedacht waren. Ihre Tagebucheinträge in den darauffolgenden Tagen und Wochen brachten nacheinander Meldungen über die Kriegslage und die drohende Räumung des Gebiets und über die Arbeit im Haus und Garten, an der sie offenbar hing: „H. redet zwar wieder vom Treck, alles Zuchtvieh wird verladen in Zamość und niemand arbeitet halt mehr, aber ich glaube an die Militärverwaltung und das Bleiben, sonst wär ja auch die Kükenaufzucht Unsinn“ (7. April 1944). Im Mai verteilte sie dann 440 Küken an die Siedler. „100 behalte ich selbst und will sie im neuen Auslauf von aller Rachitis halt auskuriert haben. – Aufzuchtkosten betragen pro Küken 1,30 Zl, von 600 Stück sind 55 eingegangen, – also eine ziemlich normale Aufzucht“ (11. Mai 1944).

Abb. 1: Landschaft bei Sitno, Kreis Zamość. (© N.: Jahn, Bibliothek für Zeitgeschichte in der Württembergischen Landesbibliothek, Stuttgart)

Abb. 1: Landschaft bei Sitno, Kreis Zamość. (© N.: Jahn, Bibliothek für Zeitgeschichte in der Württembergischen Landesbibliothek, Stuttgart)

Was kann man mit dieser Episode anfangen? Die vielseitigen Forschungsbeiträge von Carola Sachse bieten verschiedene Perspektiven, mit deren Hilfe man die „Osterküken von Sitno“ in größere Zusammenhänge platzieren kann. Einen möglichen Zugang zum Thema bilden die Rationalisierung der Frauenarbeit und des Haushalts, hier bezogen auf die Landwirtschaft, und die Verbreitung und der Transfer von Expertise in Bezug auf die ländliche Frauenarbeit. Aus einem anderen Blickwinkel geht es um die Eroberungspolitik des nationalsozialistischen Regimes, die Einbindung weiblicher Expertise in die rassistische Umstrukturierung im besetzten Osteuropa und die gedankliche Konstruktion von Räumen und Orten des „Ostens“ als Projektionsfläche für imaginäre Zukunftsordnungen.

Dass 1943 eine Schule für Dorfberaterinnen überhaupt als notwendige Einrichtung für das „deutsche Siedlungsgebiet“ im Generalgouvernement erschien, geht unter anderem auf die Diskussionen zurück, die seit den 1920er Jahren in deutschen Landfrauenorganisationen um die Arbeitsüberlastung der Frauen in der deutschen Landwirtschaft und das Problem der Landflucht stattfanden. Das Schlagwort von der Rationalisierung als „das Modewort seit Mitte der zwanziger Jahre in Deutschland“ (Carola Sachse) wurde auch hier in Bezug auf die Lebensgestaltung der Landfrau angewendet: Gegen ihre Arbeitsbelastung besonders in kleinen bäuerlichen Wirtschaften sollten arbeitssparende Techniken, bessere Geräte und rationellere Gestaltung der Küche, der Arbeitsräume und Ställe wirken. Insgesamt, hieß es, sollte die Bedeutung der „Innenwirtschaft“ für den Hof und für die Produktivität des Agrarsektors stärker anerkannt werden: Innovationen auf dem Hof sollten nicht nur der „Außenwirtschaft“ des Mannes, sondern auch dem Bereich der weiblichen Produktions- und Reproduktionsarbeit – Haushalt, Garten, Kleintierhaltung – zugutekommen. Und wo neue Agrarsiedlungen entstanden, besonders in der Weltwirtschaftskrise in den östlichen Provinzen des Reichs, sollten „Siedlungsberaterinnen“ die Siedlerfrauen unterstützen.

Nach 1933 führten nationalsozialistische Agrarpolitiker und Expertinnen für Landfrauenfragen die Diskussionen um die Arbeitsbelastung von Frauen in der Landwirtschaft weiter, aber nun vermengt mit dem Bestreben, die Bäuerin auch noch als „Lebensquell des Volkes“ und „Erhalterin des Brauchtums“ ideologisch aufzuwerten. Die Landfrauenorganisationen wurden abgeschafft und eifrige Agrarexpertinnen schufen neue Tätigkeitsbereiche im Reichsnährstand in den Abteilungen IC „Die Frau“ und Abteilung II H „Hauswirtschaft“. Die Botschaft des nationalsozialistischen Regimes an die Landfrauen hob die große Bedeutung der Bäuerin für Land und Volk hervor, aber auch die grenzenlosen Herausforderungen, die sie zu meistern hatte: effiziente Produktion von Milchprodukten und Eiern für die „Erzeugungsschlacht“, Selbstversorgung mit Obst und Gemüse, hygienische Haushaltsführung, sorgfältige Kindererziehung und die Pflege von „Brauchtum“, zum Beispiel die traditionelle Fertigung von Kleidung und Wäsche.

Während in der deutschen Landfrauenpresse ein Zukunftsbild moderner, heller Bauernküchen und Arbeitsräume mit Elektrogeräten vermittelt wurde, verblieben die meisten Landfrauen weiterhin mit der gleichen Ausrüstung, der gleichen langen Arbeitszeit und dem gleichen Mangel an Hilfskräften wie zuvor – eine Situation, die im Krieg trotz des Einsatzes von ausländischen Zwangsarbeitskräften noch akuter wurde. Dafür vermehrten sich Beratungsangebote, Schulungen und Lehrgänge für Landfrauen, neue Ausbildungsgänge in ländlichen Hauswirtschaftsschulen und populäre Ratgeberwerke wie Das Tagewerk der Landfrau von Hildegard Caesar-Weigel: Die dritte Auflage 1939 hatte als vielsagendes Motiv auf dem Schutzumschlag – neben drei Fotos von einer Bauersfrau im Garten, in der Küche und am Hühnerstall – eine Uhr.

Die Vision einer rationelleren und gesünderen Lebensgestaltung für Landfrauen wurde auch über die Grenzen Deutschlands hinaus projiziert – zum Beispiel bis in die deutschen „Sprachinseln“ Südosteuropas, wo deutsche Bauerndörfer zum Untersuchungsobjekt von Gruppen deutscher Studierender in den späten 1930er Jahren wurden. Auch auf dem internationalen Parkett bis 1939 und während des Kriegs im Austausch mit organisierten Landfrauen in NS-okkupierten und mit Deutschland verbündeten Ländern – zum Beispiel Rumänien und Bulgarien – priesen deutsche Agrarexpertinnen die deutschen Leistungen in der Beratung und Ausbildung von Landfrauen.

Über solchen Transfer und Austausch hinaus schufen die Eroberung Polens und die gewaltsame Kolonisation zunächst der „eingegliederten“ westpolnischen Gebiete, ab 1941 auch von Teilen des Generalgouvernements und des Reichskommissariats Ukraine, den entscheidenden Raum, wo landwirtschaftliche Planer und Agrarexperten ihre Ideen vom „neuen Bauerntum“ testen konnten. Das „Menschenmaterial“ für die Errichtung deutscher Siedlungsgebiete im besetzten „Osten“ bestand zum großen Teil aus deutschen Minderheitengruppen aus Ostpolen, den baltischen Ländern und Rumänien, die im Zeitraum von 1939 bis 1941 vom Apparat Himmlers als „Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums“ ins Reich umgesiedelt wurden. Bei ihrer Ankunft wurden sie von der sogenannten „Einwandererzentralstelle“ je nach „rassischer Qualität“ als Siedler „für den Osten“ selektiert („O-Fälle“) oder, bei negativer Entscheidung, als Arbeitskräfte „für das Altreich“ bestimmt. Die Familien, die als „O-Fälle“ galten, wurden nach kurzem oder langem Aufenthalt in Umsiedlerlagern auf polnischen Höfen nach der Vertreibung ihrer Besitzer angesiedelt.

Der gigantische „Aufbau Ost“ erweiterte auch den Raum für weibliche Expertise und weiblichen „Einsatz“ in Bezug auf ländliches Leben in den „neuen Gebieten“. Bilder und Metapher vermittelten die Assoziierung zwischen „Ostraum“ und weiblicher Machtentfaltung, Produktivität und Selbsterfüllung. Für Luise Essig, „Amtsreferentin für Bauerntum“ in der Reichsjugendführung, „Jugendwartin“ des Reichsnährstands und Autorin des Buchs „Lebensziel Bäuerin“, schuf die Expansion des Reiches einen Lernort für Landmädel, deren Horizonte durch die „erzieherische Kraft der Fremde“ erweitert werden sollten. Gleichzeitig sah Essig den „Osten“ als eine Quelle endloser Ressourcen für das Reich als Ganzes: So sollte „der große Sieg“ die ersehnte Erleichterung und Technisierung der ländlichen Frauenarbeit herbeiführen. Im von Konrad Meyer herausgegebenen Band Landvolk im Werden (1941) zeichnete Essig das Wunschbild einer zukünftigen Bäuerin, die „wieder Frau sein“ durfte, über Elektroherd und Waschmaschine verfügte und sich nicht mehr für endlose Arbeit im Stall und auf dem Feld einspannen ließ. Eine eigene Perspektive auf „den Osten“ bot die Schulleitung der Kolonialen Frauenschule in Rendsburg: Für die „Kolo-Schule“ bedeutete die Siedlungstätigkeit des „Reichskommissariats für die Festigung deutschen Volkstums“ im besetzten Polen die Chance eines Orientierungswechsels und eine neue Legitimation für die Schule in Kriegszeiten, weg von der Vorbereitung auf die Arbeit in den ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika und hin zum „Osten“. Über den Kontakt zur Leiterin des „Hauptarbeitsgebiets Fraueneinsatz“ in Krakau wurden ehemalige „Kolo-Schülerinnen“ aufgrund ihrer praktischen Ausbildung in der Landwirtschaft und in der ländlichen Hauswirtschaft ins Generalgouvernement geholt. So kam es zur Abordnung der jungen Landwirtschaftslehrerin nach Sitno, um die Schule für Dorfberaterinnen aufzubauen.

Ihr Tagebuch und ihre Briefe an die Eltern zeigen, dass auch sie die beharrliche Vision vom „Osten“ als Ort des „Aufbaus“ teilte. Ihre Vorstellungen von Ordnung und friedlicher Arbeit für die deutschen Siedler fanden ein Korrelat in Bildern von umhegten Räumen und Orten: vom neu eingerichteten Gutshaus, vom unkrautfreien Garten und Auslauf für die Küken. Aber „Aufbau“ und Gewalt ließen sich nicht auseinanderhalten. In vereinzelten Bemerkungen wurde ihr Wissen vom Judenmord im Distrikt klar: Neben ihren Lehrgängen für bessarabiendeutsche Siedlerfrauen über die Verwertung von Rhabarber und Spinat mußte sie Sachen an die Siedlerfamilien austeilen, „vielfach noch schmutzig, blutig aus dem Ghetto und von Juden stammend“. Die Lehrerin hielt Distanz zu „Parteileuten“, erwartete, dass sie als Nichtparteimitglied nicht lange als Schulleiterin geduldet werden würde, aber arbeitete bis zur Evakuierung ununterbrochen weiter, in der Hoffnung, das Siedlungsgebiet ließe sich halten. Als Trost und Ablenkung diente die Kükenaufzucht auch über die Räumung des Gebiets hinaus. Als die Lehrerin mit den verbleibenden männlichen Siedlern im Juli 1944 in Richtung Warthegau auf Treck ging, nahmen auch einige der Siedler die ehemaligen Osterküken, nun Junghennen, mit. Der Treck erreichte Ende Juli Litzmannstadt, wo die Frauen und Kinder der Siedler schon warteten, und die Hühner hatten dort, wie die Lehrerin schrieb, „schönen Auslauf im Lager“.