W Wahlverhalten

Gerhard Botz

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DOI

10.34663/9783945561126-24

Citation

Botz, Gerhard (2016). W Wahlverhalten. In: Wissen Macht Geschlecht: Ein ABC der transnationalen Zeitgeschichte. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

Wahlverhalten von Frauen. „Das Geschlecht der Zahl“: Ein nicht gehaltenes Seminar mit Carola Sachse über die NSDAP in Österreich vor 1933

Mitte der Nullerjahre kamen Carola Sachse und ich in einem gemeinsamen Seminar für Dissertant_innen auf das Wahlverhalten von Frauen in der Aufstiegsphase des Nationalsozialismus zu sprechen. Ich erwähnte dabei die Besonderheit des österreichischen Wahlsystems, demgemäß in der Zwischenkriegszeit Frauen- und Männerstimmen getrennt ausgezählt wurden. Carola regte daraufhin an, gemeinsam ein Seminar mit dem Titel „Das Geschlecht der Zahl“ abzuhalten. Dieser Vorschlag ist mir seither nicht mehr aus dem Kopf gegangen, einen konkreten Schritt zur Realisierung habe ich im ,Getümmelʻ der täglichen universitären und wissenschaftlichen Kleinarbeit jedoch nicht unternommen. Ähnlich kann es auch Carola gegangen sein. Nun versuche ich, ein solches Thema, aus (m)einer wohl unvermeidbar männlichen, historisch-sozialwissenschaftlichen Sicht zu umreißen.

Zweifelsohne signalisierte schon die Genderisierung von „Zahl“ einen frauen- und geschlechterspezifischen Zugang zu einem scheinbar so ‚harten‘ Begriff. Aber wir waren uns, wie mir scheint, im Klaren, dass das Quantitative mit all seinen statistisch-mathematischen und formalisierbaren Verfahren in der geschichtswissenschaftlichen Praxis einer historisch-qualitativen Grundlegung, einer erzählenden Interpretation und einer quellen- und methodenkritischen Ergänzung bedarf (Botz, Gerhard, Christian Fleck, Albert Müller und Manfred Thaller 1988). Das heißt aber nicht, dass die erprobten statistischen und EDV-anwendenden Methoden und die theoretischen Ansätze von Sozialgeschichte und Historischer Sozialwissenschaft auch nach der Transformation der historischen Wissensmatrix zu Komplexität, Diversität, Subjektivität, Ambivalenz und Verflechtung sowie ins ‚Digitale‘ als Instrumente alltäglichen geschichtswissenschaftlichen Arbeitens irrelevant geworden wären.

So war bei Gender- und Wissenschaftshistorikerinnen von Carola Sachses Rang auch eine binäre ‚Codierung‘ des Organisationsverhaltens, der Lebenswelten, der Handlungsvoraussetzungen und -ziele oder Funktionen von Frauen – keineswegs der Frau – im NS-Herrschafts- und Verfolgungssystem nicht zu erwarten (Sachse 1997; Reese und Sachse 1990). Die Gegensätzlichkeit von „Opfer“/„Täterin“, Privatheit/Öffentlichkeit, Pro- und Antinatalismus oder Frauen- und „Rassen“-Politik wäre wohl diskutiert, nicht aber ungeschaut übernommen worden (etwa Gehmacher 1995; Gehmacher, Johanna und Maria Mesner 1998; Lanwerd und Stöhr 2007).Während die Frauen-/Gender-Thematik im Nationalsozialismus sich bis heute von wenigen Ausnahmen abgesehen auf Phasen nach der Machtübernahme in Deutschland und Österreich, auf Formen der System-Unterstützung und Widerständigkeit, auf Terror, Krieg und Massenmord bezog, hätte sich unser Seminar stärker mit Fragen nach den Anteilen von Frauen unter den Anhänger- und Wählerschaften des österreichischen Nationalsozialismus, notwendigerweise differenziert nach Region, Periode, Alters- und Sozialgruppen sowie politischen Kontexten, befasst.

Dabei hatten wir einen einmaligen Vorteil: Seit 1920 wurden in der Republik Österreich bei allen Parlaments- und vielen Landtagswahlen (ab 1923 beziehungsweise 1927 in Wien) Männer- und Frauenstimmen separat ausgezählt und (meist) auch in statistischen Tabellen getrennt publiziert. (Im Übrigen wurden oft auch sozialstatistische Auswertungen der Wählerschaft vorgenommen und publiziert, was genaue Analysen der Wähler_innen ermöglichen konnte.) Die je nach Geschlecht unterschiedlich gefärbten Stimmzettel waren eingeführt worden, um zu klären, welche Konsequenzen das (bei den Deutschnationalen, zu denen vor allem die Großdeutsche Volkspartei (GVP) und der Landbund gerechnet wurden, und bei einzelnen Christlichsozialen (CS) keineswegs einhellig begrüßte) Frauenwahlrecht wahlpolitisch hatte. (Männer hatten bereits 1907 in Zisleithanien das Wahlrecht erlangt.) Es ging 1919 um die Frage, „ob die Frauen, wie oft behauptet wird, in der Regel so stimmen, wie die Männer, zu deren Familie oder Haushalt sie gehören, oder ihre eigenen Wege gehen, ob sie bestimmte Parteien bevorzugen und welche“ (Stiefbold, Rodney, Arlette Leupold-Löwenthal, Georg Ress und Walter Lichem 1966, C51). Statt nur stichprobenartig oder auf einzelne politische Teilgebiete beschränkte Zählungen machen zu lassen, wie das in der Weimarer Republik geschah (Falter 1991, 139f.), wollten die republikgründenden Parteien – Sozialdemokraten (SD), CS und Deutschnationale (Dt. Nat.) – Klarheit darüber haben, ob „ihre“ Frauen „politisch fremd“ gingen und „diesen Fragen mit dem Rüstzeug der Massenbeobachtung an den Leib […] rücken“ (Stiefbold, Rodney, Arlette Leupold-Löwenthal, Georg Ress und Walter Lichem 1966, C51). Das hatte schon 1918 ein deutschnationaler Antrag deutlich gemacht, als die Befürchtung geäußert wurde, dass die Frauen „noch nicht ganz eingelebt sind in die Politik, noch nicht ganz politisch reif“ sind und die Einführung der Wahlpflicht gefordert wurde (Seliger und Ucakar 1984, 57).

Daraus ergaben sich – hier nur stark vereinfacht – schon auf der obersten Aggregationsebene folgende für unser Thema interessanten Ergebnisse (Tabellen 1 und 2).  

Abb. 1

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  Vorauszuschicken ist, dass der österreichische Nationalsozialismus, anders als der deutsche, in die späte Habsburger Monarchie zurückreichte. Schon vor 1900 hatten sich in Nordböhmen, einer von sozialen Gegensätzen unterlagerten nationalen Kampfzone zwischen Tschechen und Deutschen, „völkische“ Deutsche Gewerkschaften gebildet. 1903/1904 entstand daraus gleichsam als ihr politischer Arm die Deutsche Arbeiterpartei (DAP), die 1918 ihrer Bezeichnung die programmatische Erweiterung „nationalsozialistisch“ hinzufügte und hinfort DNSAP hieß und noch in den 1920er Jahren in der Republik Österreich, nachdem sie sich in eine Schulz- beziehungsweise Riehl-Gruppe gespalten hatte, ihre ideologische Linie weiter führte. Obwohl sie bis 1920/1921 nicht dem Prototyp einer faschistischen Partei entsprach, wurde die DNSAP im Gebiet des heutigen Österreich zur Keimzelle auch einer an Hitler orientierten radikalnationalistischen, -antisemitischen und antidemokratischen Bewegung. Die ursprüngliche soziale Basis als Partei vor allem von Privatangestellten, Verkehrsbediensteten und in freien Berufen und in Industrie und Bergbau tätigen Quasi-)Akademikern wirkte – schwächer werdend – über die 1920er Jahr hinaus auch in den sozialen Profilen der Parteimitglieder und Wähler_innen der NSDAP(-Hitler-Bewegung) fort. Dabei näherte sich der österreichische Nationalsozialismus einer „asymmetrischen Volkspartei“ (mit starker Unterrepräsentierung der Arbeiter und der katholischen Bauern, aber Überrepräsentation der „neuen Mittelstände“) an (Botz 2007). Diese Charakteristik wurde auch in ihrer Wählerschaft von Dirk Hänisch (1998, 402 f.) überzeugend nachgewiesen und danach (stark reduziert) in einer mathematischen Dissertation nachvollzogen (Hoffmann 2013, 126–129, 162–192).

Waren 1919 unter den Kandidat_innen zur Parlamentswahl durchaus eine Anzahl von Frauen vertreten (Botz 1977), so änderte sich das 1923 grundlegend, als auch die österreichischen Nationalsozialisten (gewalttätig) ‚münchnerisch zu reden‘ begannen und zu einer markanten Männer- und (männlichen) Jugendpartei wurden. Daher betrug der Frauenanteil von 1926 bis 1932 unter den der Partei Beitretenden nur sechs bis acht Prozent, und auch 1933 war er nicht höher als zwölf Prozent; erst unter den ‚Illegalen‘ erreichte er 1938 28 Prozent, um ab 1943 durch organisatorische Lenkung auf 36 Prozent anzusteigen.

Dementsprechend blieb die Wählerschaft der Nationalsozialisten (jeder Spielart) bis 1932 immer mehr oder weniger deutlich männlich, wenngleich allmählich die Frauen aufzuholen begannen, aber nie mit den Männern voll gleichzogen (siehe Tabellen 1 und 2). Damit ist die gerade auch für Deutschland vorgebrachte These, Frauen hätten Hitler an die Macht gebracht, (in dieser Schärfe) nicht mehr haltbar. Beachtlich sind allerdings die je nach Bundesländern und Ortsgrößen differierenden Einzelergebnisse (Hänisch 1998, 240–252); sie hätten im Seminar – unter Verwendung einer am Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft (Wien) vorhandenen umfangreichen Wahl- und Sozialstruktur-Datenbasis – überprüft und multivariat weiter entwickelt werden können. So war die NS-Wählerschaft bis 1930 in den vier westlichsten Bundesländern und im Burgenland etwas ‚männlicher‘ als in Wien, Niederösterreich, Steiermark und Kärnten. In den erstgenannten Ländern (ausgenommen Salzburg) hatte die NSDAP einen größeren Wähleranteil erlangt als in den letztgenannten. Damit deutet dies schon auf den Zusammenhang von steigender Pro-NS-Wählermobilisierung und höherer weiblicher Bereitschaft, die NSDAP zu wählen, hin. Dieser Nexus blieb auch bis Anfang der 1930er Jahre – im weiteren Zeitverlauf sich abschwächend – bestehen. Erst mit dem Massenerfolg der NSDAP bei den Landtagswahlen vom April 1932 in Wien sowie in Niederösterreich und Salzburg (insgesamt ca. 16 Prozent NS- Stimmen) änderte sich die Situation grundlegend. Im noch immer „Roten“ Wien, auf das hier der Blick vor allem gerichtet ist (siehe Tabelle 2), gingen vor allem GVP-Wähler in den stark (klein)bürgerlich deutschnational vorgeprägten Innenbezirken und im Nobelbezirk Währing zur NSDAP über. Während diese Partei auch die faschistische Heimwehr (HB) weitgehend aufsog und – in regional unterschiedlicher Weise – auch Einbrüche in die CS und die SP erzielte, erreichte sie manchmal schon fast die Männer-Frauen-Parität. Die (auch von mir anfangs vertretene) These, dass die NSDAP als faschistische Bewegung oder überhaupt als Partei des politischen Extremismus – vergleichbar der Heimwehr und der Kommunistischen Partei Österreichs – entsprechend ihrer extrem antifeministischen Orientierung per se eine Männerpartei gewesen sei, hätte einer genauen Überprüfung am Datenmaterial nicht standgehalten. Dabei wäre auch als schwacher Parallelfall die GVP mit ihrem relativ höheren Wählerinnen-Anteil zu beachten gewesen, ebenso die gegensätzlichen Extremfälle der Sozialdemokratischen und der Christlichsozialen Partei, erstere stark männer-, letztere noch stärker frauendominiert. Welche Momente für den Wandel der NSDAP ab 1930 zu einem gendermäßig weniger einseitigen Elektorat hin verantwortlich waren, hätte anhand der Forschungen von Johanna Gehmacher (1998, 110–154) diskutiert werden können: Waren es primär (mikro)kulturelle Veränderungen der bis dahin eher politisch distanzierten, auf Familie hin orientierten Lebenswelten von Frauen und Mädchen, war es eine Verschiebung der politischen Diskurse von „Frau“ und „Familie“ zu „Rasse“ (Antisemitismus) und „Volk“ oder waren es die Um- und Neuorientierungen der NS-Propaganda und der wachsenden NS-Umfeldorganisationen? Oder war es einfach, wie die Deutschnationalen angenommen hatten, die oben zitierte ‚Reifung‘ von Frauen und deren „Einleben“ in die politische Praxis des erst jüngst erlangten Wahlrechts?

Obwohl diese Fragen nur ansatzweise hätten geklärt werden können, wären Carola und ich im Abschluss-‚Social‘ des Seminars wohl zu einem Heurigen gegangen und nach einem Gläschen Zweigelt beziehungsweise Achterl Gemischen Satz hätte ich vielleicht vorgeschlagen, entsprechend dem Lateinischen einen neuen Eintrag in das „Österreichische Wörterbuch“ aufzunehmen: „der Zahl“.

Literatur

Botz, Gerhard (1977). Faschismus und Lohnabhängige in der Ersten Republik. Österreich in Geschichte und Literatur 21(2):102–128.

— (2007). Arbeiter und andere ‚Lohnabhängige‘ im österreichischen Nationalsozialismus. In: ITH-Tagungsberichte 41. „ArbeiterInnenbewegung und Rechtsextremismus“. Hrsg. von Jürgen Hofmann und Michael Schneider. Leipzig: Akademische Verlagsanstalt, 35–61.

Botz, Gerhard, Christian Fleck, Albert Müller und Manfred Thaller, Hrsg. (1988). „Qualität und Quantität“. Zur Praxis der Methoden der historischen Sozialwissenschaft. Frankfurt am Main: Campus.

Falter, Jürgen (1991). Hitlers Wähler. München: C. H. Beck.

Gehmacher, Johanna (1995). Kein Historikerstreit…. Zeitgeschichte 22(3–4):109–123.

— (1998). Völkische Frauenbewegung. Deutschnationale und nationalsozialistische Geschlechterpolitik in Österreich. Wien: Döcker.

Gehmacher, Johanna und Maria Mesner, Hrsg. (1998). Frauen- und Geschlechtergeschichte. Positionen, Perspektiven. Innsbruck: Studien Verlag.

Hänisch, Dirk (1998). Die österreichischen NSDAP-Wähler. Eine empirische Analyse ihrer politischen Herkunft und ihres Sozialprofils. Wien: Böhlau.

Hoffmann, Thomas (2013). Die Nationalratswahlen der Ersten Republik. Eine statistische Studie. Ungedruckte Diss.: Univ. Wien.

Lanwerd, Susanne und Irene Stöhr (2007). Frauen- und Geschlechterforschung zum Nationalsozialismus seit den 1970er Jahren: Forschungsstand, Veränderungen, Perspektiven. In: Frauen- und Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus: Fragestellungen, Perspektiven, neue Forschungen. Hrsg. von Johanna Gehmacher und Gabriella Hauch. Innsbruck: Studien-Verlag, 22–68.

Reese, Dagmar und Carola Sachse (1990). Frauenforschung zum Nationalsozialismus. Eine Bilanz. In: Töchter Fragen. NS-Frauengeschichte. Hrsg. von Lerke Gravenhorst und Carmen Tatschmurat. Freiburg: Kore, 73–106.

Sachse, Carola (1997). Frauenforschung zum Nationalsozialismus. Debatten, Topoi und Ergebnisse seit 1976. Mittelweg 36(2):24–33.

Seliger, Maren und Karl Ucakar (1984). Wahlrecht und Wählerverhalten in Wien 1848–1932. Wien: Jugend und Volk.

Stiefbold, Rodney, Arlette Leupold-Löwenthal, Georg Ress und Walter Lichem, Hrsg. (1966). Wahlen und Parteien in Österreich. Bd. 3. Wahlstatistik: Teil C. Wien: Österreichischer Bundesverlag.