Arbeit am X
Ein X, zwei X, drei X – wo ist der Unterschied? XX oder XY: Da ist ein Unterschied. Wer schreibt solchen Zeichenkombinationen, die wir als Chromosomensätze erkennen und die in den Alltag als Verständigung über Geschlechtszugehörigkeiten eingegangen sind, einen Unterschied ein? Und wer stellt ihn wieder in Frage?
X-mal zählten Heerscharen von Laborantinnen unter dem Mikroskop die Chromosomen sich teilender Zellen aus. X-mal notierte Erika Ziegler, die Frau des Biochemikers Adolf Butenandt, in Experimenten mit Geschlechtshormonen die Wuchsform der Kämme junger Hähnchen. X-mal kreuzte der Genetiker Hans Nachtsheim seine Kaninchen hin und her, vor und zurück und verließ sich dabei auf seinen potenten Kaninchenstar „Rammler Rex“. Die Genetik, das wird leicht vergessen, ist nicht nur die Wissenschaft von der Vererbung, sondern eine Wissenschaft von der geschlechtlichen Vererbung. Ein führendes Genetik-Lehrbuch behauptete 1939:
Die Existenz der Verschiedenheit unter den Organismen ist eines der vertrautesten der natürlichen Phänomene. Jedes Kind erkennt nicht nur die Unterschiede zwischen Hunden, Katzen und Menschen, sondern auch zwischen verschiedenen Individuen jeder dieser Arten. […] Das verbreitetste und allgemein anerkannte diskontinuierliche Merkmal ist das des Geschlechts.“ (zitiert nach Satzinger 2009, 28)
In der Hormonforschung geriet diese „wissenschaftliche“ Gewissheit bereits in jenen Jahren in einen Strudel von Widersprüchen. Nur Mannsbildern wie einem Butenandt gelang es da noch, sich mit dem Rüstzeug eines hochmodernen Laboratoriums inklusive Gattin und Laborantinnen gegen solche Befunde zu stellen. Erfolg bei der Rettung der binären Geschlechterordnung versprach die Chromosomenforschung. Die Geschlechterdifferenz, so die Message der Chromosomenforscher, könne nun zweifelsfrei auf eine Chromosomendifferenz zurückgeführt werden. Doch auch die in zwingende mathematische Logik überführte Gleichung: Mann / Frau = XY / XX = 1 / 0 hatte die Übernahme einer gesellschaftlichen Konvention zur Voraussetzung und „begann sozusagen mit Adam und Eva“. Mit diesen Worten wiederum beginnt Helga Satzinger ihre große wissenschaftshistorische Studie, in der sie die angedeutete Rolle von Genetik, Chromosomen- und Hormonforschung bei der biologischen Fundierung der Geschlechterdifferenz erhellt (Satzinger 2009, 28).
In den 1950er Jahren nahm die Karriere der Chromosomenforschung indes einen anderen Verlauf, als sie mit der Beschreibung so genannter Chromosomenanomalien den Humangenetikern das lieferte, was diesen bislang so bitterlich fehlte, um von Medizinern als vollwertige Kollegen anerkannt zu werden: ein Organ – das Chromosom. Die Zeichenlogik der Geschlechterdifferenz vervielfachte sich in die unübersichtlichen Varianten XX, XY, XO, XXX, XXY, XYY. Den Gegensatz von männlich und weiblich stellte dies jedoch nicht in Frage, unterlegte ihn aber mit der Unterscheidung zwischen Normalem und Pathologischem. Ein ganzer Zeichenwald weiterer Chromosomenanomalien untermauerte das humangenetische Verdikt, das nunmehr mit Hilfe der Chromosomendiagnostik auf die reifenden Leibesfrüchte und die Hoffnungen werdender Mütter zielte. Der Siegeszug der pränatalen Diagnostik war damit auf technischer Ebene vorgezeichnet. Auch ihrer gesellschaftlichen Durchsetzung schien zunächst nichts im Wege zu stehen, als Mitte der 1970er Jahre der Paragraph 218 wankte und Abtreibung im Rahmen der Fristenlösung straffrei wurde. Der Traum der Humangenetiker profitierte dabei kurzfristig von den Erfolgen der zweiten Frauenbewegung, deren Anliegen zwar die Selbstbestimmung der Frauen war, aber nicht speziell die „eugenische Indikation“ als die rechtlich noch fehlende Voraussetzung der neuen Eugenik.
Ein Jahrzehnt später formierte sich aus dieser Frauenbewegung heraus ein Sturm gegen die neue Eugenik, der das Projekt der Humangenetiker_innen in nachhaltige Bedrängnis bringen sollte und der bis heute die Auseinandersetzung mit den technischen Fortschrittsversprechen der Gen- und Genomforschung prägt. Dabei ging die gentechnikkritische Bewegung nicht parthenogenetisch aus dem Schoße der Frauenbewegung hervor. Die Gentechnik-Kritik entstand vielmehr aus der Verbindung von Frauen- und der ebenfalls zu jener Zeit aufgekeimten Behindertenbewegung, die im Aufbau der humangenetischen Beratung die Wiederkehr eugenischer Bevölkerungspolitik sah. Die Differenzmaschine aus Genetik, Eugenik und Chromosomendiagnostik, die fortwährend die Geschlechterdifferenz reproduzierte, „unwertes Leben“ markierte und vom Normalen trennte, erlebte damit ihren doppelt differenztheoretischen Maschinensturm und den Anfang einer in den nächsten Jahren wachsenden und sich verbreiternden körper- und biopolitischen Kritik in Wort und Tat.
Die Verbindung von Frauen- und Behindertenbewegung mit ihrer Kritik an patriarchaler Unterdrückung und Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen war ein historischer Moment. Dass sich die Einforderung von Frauenrechten und die Kritik an frauenfeindlicher Bevölkerungspolitik und Reproduktionstechnologien nicht „naturgemäß“ mit der Kritik an Gentechnik und Humangenetik verbündete, lässt sich an einer der Leitfragen des 1985 in Bonn abgehaltenen legendären Kongresses „Frauen gegen Gentechnik und Reproduktionstechnik“ erahnen: „Wie vereinbaren wir unsere Position zum § 218 mit unserer Einschätzung der Gen- und Fortpflanzungstechnik?“ (Die Grünen im Bundestag 1985/1986, 172). Da die Frage der Selbstbestimmung und die Kritik an eugenischer Biopolitik nun denselben Schauplatz hatte – den eigenen Körper und die individuelle Praxis von Frauen –, bedurfte es einer Verständigung über die Grundlagen der jeweiligen Kritik und die politischen Ziele. Von Bedeutung war deshalb die Bewusstwerdung von der tiefen Nachwirkung des rassistisch-selektionistischen Erbes in der deutschen Gesellschaft, welche der Gesundheitstag in Berlin im Jahr 1980 unter der Thematik „Medizin und Nationalsozialismus“ eingeleitet hatte und die zum verbindenden Schwungrad der Kritik am humangenetischen Dispositiv wurde.
Will man sich also kein Y vor ein X machen und den Fallstricken der Naturalisierung des X entgehen, so ist die historische Reflexion eines der wichtigen Mittel der Kritik. Die konvergente Beschäftigung mit Fragen der Gender Studies, der Wissenschaftsgeschichte und der NS-Geschichte kennzeichnet insofern folgerichtig den Weg vieler Wissenschaftler_innen in den letzten Jahrzehnten, mögen sie sich auch ursprünglich mehr für Geschlechterverhältnisse oder für NS-Rassismus interessiert haben. Die erwähnte Arbeit über „Differenz und Vererbung“ steht an dieser Stelle für viele andere Arbeiten am Schnittpunkt von Wissen, Biomacht und Geschlecht und verbindet sich in ihrer Entstehung nicht zufällig unter anderen mit dem Forschungsprogramm „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus“.
Literatur
Die Grünen im Bundestag, Arbeitskreis Frauenpolitik, Sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis für Frauen e. V., Hrsg. (1985/1986). Frauen gegen Gentechnik und Reproduktionstechnik. Dokumentation zum Kongress vom 19.–21.4.1985 in Bonn. Köln: Kölner Volksblatt.
Satzinger, Helga (2009). Differenz und Vererbung. Geschlechterordnungen in der Genetik und Hormonforschung 1890–1950. Köln: Böhlau.