Familie wird noch immer von Generation zu Generation gelebt und im Wechsel von Nähe und Distanz, Distanzierungen und Annäherungen erlebt. Familie als gegenseitig verpflichtend gedeutete Menschennähe beflügelt Kindheitserinnerungen, nährt Rückkehrsehnsüchte, Wunschträume, aber auch Vorwürfe, Schuldzuweisungen, Hass. Kinder müssen sich mit der ihnen vorgegebenen Familie abfinden, sie haben keine Wahl. Als Erwachsene hegen sie die Hoffnung, für ihre Kinder Vieles besser zu machen als vor Jahren ihre Eltern. Das Zusammenleben mit eigenen Kindern kann sie nachsichtiger gegenüber ihren Eltern machen. Die tägliche Erfahrung, wie sehr je aktuelle Bedingungen und Zwänge das eigene Familienhandeln beeinflussen, vermag das von den Familiengegebenheiten früherer Zeiten geprägte Tun und Unterlassen der Eltern und Großeltern in ein neues Licht zu rücken.
Das mit Carola Sachse mögliche Bereden unserer eigenen Familiengeschichten, die unsere wissenschaftlichen Diskussionen über Forschungsprobleme bisweilen bereicherten, bisweilen ausbremsten, folgte in etwa diesem Grundton. So erinnere ich die Jahre an der Technischen Universität Berlin, als Carola an ihrer 1987 eingereichten Dissertation und der 2001 erfolgten Habilitation arbeitete. Wir engagierten uns für die Etablierung der historischen Frauenforschung und erprobten deren Potential unter anderem anhand von Themen und Problemen der Familie in der Geschichte Deutschlands. Interessant waren dafür weniger generalisierende Theorien über die Familie als Gruppe und Institution nebst deren Funktionen und Funktionsverlusten im historischen Wandel, als zeitgenössische empirische sozialwissenschaftliche Forschungsarbeiten, die kritisch beurteilt als historische Quellen taugen. Beim gemeinsamen Diskutieren und Arbeiten waren Status- und Altersdifferenzen stets mit im Spiel. Für Carola Sachse war ich die von ihr als wissenschaftliche Beraterin und Gutachterin gewählte Professorin. Mich beschäftigte stärker unser vergleichsweise geringer Altersunterschied.
Als 1938 Geborene prägten mich die für Nachkrieg, Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, Adenauerzeit massiv propagierten Familien- und Geschlechternormierungen; ich beendete mein Studium noch bevor ab Mitte der 1960er Jahre diese Normen durch die Studenten- und Frauenbewegungen von Grund auf infrage gestellt wurden. Zum eng gezogenen Normen-Korsett gehörte das Gerede vom natürlichen weiblichen Beruf der Hausfrau, Gattin und Mutter; von einer Berufsausbildung für Frauen allenfalls als Einkommens-Vorsorge im Fall von Tod, Invalidität oder Nichtvorhandensein eines Ehegatten; von der niedrig entlohnten Frauenerwerbsarbeit, die nur dann keinen Anstoß erregte, wenn sie vorehelich oder als unverzichtbarer ehelicher Zuverdienst ausgeübt wurde. Frauen ohne Ehemann galten als Außenseiterinnen, die mehr oder weniger offen als alte Jungfer, als Lesbe oder familienzerstörerische Verführerin, als irgendwie schuldige Geschiedene oder als arme Witwe mit unzureichend erzogenen Waisen diskriminiert wurden. Dazu passend zirkulierte als Kennzeichen für eine der Kriegsfolgen nicht das Wort „Männermangel“, sondern „Frauenüberschuss“. Auch gab man nach 1945 in Westdeutschland statt der nach dem Ersten Weltkrieg häufig beschworenen „Krise der Familie“ nun dem Idealbild der „vollständigen“ Vater-Mutter-Kinder-Familie den Vorzug, um nicht zuletzt mit negativem Unterton an diesem Ideal die „unvollständige“ Familie zu vermessen.
Abb. 1: Carola Sachse mit ihrer Tochter Anna. (© Privatfoto: Anna Sachse)
Carola Sachse, Jahrgang 1951, wuchs in Westdeutschland schon als Jugendliche hinein in die international und national seit Mitte der 1960er Jahre schnell verallgemeinerten sozialen Emanzipationsbewegungen mit anfangs mitreißendem Gestaltungswillen und Zukunftsoptimismus und ihren vielfältigen fundamentalen Kritiken an der aktuellen Beschaffenheit von Gesellschaften, Wirtschaften und Staaten, die zum Überdenken vorher unhinterfragter Selbstverständlichkeiten herausforderten. Hinzu kamen in der Bundesrepublik die scharfen Attacken gegen das Verdrängen der NS-Geschichte; junge Frauen und Männer konfrontierten die Generationen der Eltern und Großeltern bis hinein in die eigenen Familien mit ihren Fragen nach Verantwortung, Beteiligung und Hinnahme des „Dritten Reichs“ nebst Judenvernichtung, Rassenpolitik und brutalen Ausbeutungen, Verwüstungen, Metzeleien im Eroberungskrieg. All das schärfte das Wissen um die Generationen übergreifenden, geschichtlich wirksamen Zusammenhänge und zugleich die Skepsis gegenüber gängigen formelhaften Sprechweisen, die 1933 und 1945 als markante Brüche auswiesen.
Geschult durch solche Debatten und den langjährigen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus den Sozialwissenschaften hat Carola Sachse schließlich als Historikerin eigene, gesellschaftsgeschichtlich überzeugende, originelle Forschungen zur Geschichte der Familie im Deutschland des 20. Jahrhunderts erarbeitet. Das präzise Befragen geschichtlicher Kontinuitäten kombiniert mit der Aufmerksamkeit für je spezifische Zeitumstände, in denen Entwicklungen historisch nachvollziehbar gelenkt wurden, sowie das genaue Beobachten dessen, was handelnde Personen innerhalb gegebener Verhältnisse und Strukturen taten und unterließen, ist insbesondere in zwei ihrer Bücher nachzulesen.
1990 erschien die überarbeitete Version ihrer Dissertation unter dem Titel Siemens, der Nationalsozialismus und die moderne Familie. Eine Untersuchung zur sozialen Rationalisierung in Deutschland im 20. Jahrhundert. Nachgezeichnet werden hier Verbindungen zwischen moderner Familie, Nationalsozialismus und dem unter anderem mit der Produktion und Vermarktung elektrischer Haushaltsgeräte erfolgreichen Unternehmen Siemens, das in der Zwischenkriegszeit seine betriebliche Sozialpolitik um ein Erziehungsprogramm zur Familien-Modernisierung ergänzte. Carola Sachse geht hier der Frage nach, wie und warum das seit Ende des 19. Jahrhunderts in Industriestaaten umgesetzte Modernisierungsprogramm der technisch-wirtschaftlichen Rationalisierung im 20. Jahrhundert erweitert wurde um „soziale Rationalisierung“. Dieses Konzept erlaubt theoretisch zu verorten, wie die parallelen Modernisierungen von Unternehmen, Familie und Lebenswelt in einem wechselseitigen Zusammenspiel verbunden, vorangetrieben und in unterschiedliche politische Systeme und Staaten je nach deren Erfordernissen und Möglichkeiten eingepasst wurden.
2002 folgte die Veröffentlichung der Habilitationsschrift. Der anspruchsvolle Buchtitel Hausarbeitstag. Gerechtigkeit und Gleichberechtigung in Ost und West 1939–1994 putzt nicht etwa die Kleinigkeit namens Hausarbeitstag zu unverhältnismäßiger Größe heraus, sondern trifft ins Schwarze. Geboten wird ein aufschlussreicher Systemvergleich von DDR und BRD anhand des verschiedenartigen Umgangs mit dem Hausarbeitstag als konfliktträchtigem NS-Erbe. Hausfrauen erhielten während des Krieges Anspruch auf monatlich einen bezahlten Hausarbeitstag als Ausgleich für die Zumutung, dass unverzichtbare Frauenarbeit für die familiale Hauswirtschaft kriegsbedingt vermehrt und dessen ungeachtet Frauenlohnarbeit für die Kriegswirtschaft schließlich erzwungen wurde. Wo die Besatzungsmächte ihn nach Kriegsende nicht umgehend abgeschafft hatten, verteidigten erwerbstätige Hausfrauen den Hausarbeitstag – ein nun auch von Hausmännern und nicht verheirateten Hausfrauen im Namen von Gleichheit und Gerechtigkeit beanspruchtes Privileg – hartnäckig gegen alle Versuche ihn abzuschaffen. Sie waren auf Dauer nur in der DDR erfolgreich.
Die Problembereiche der Familie in der Geschichte Deutschlands, mit denen sich Carola Sachse in diesen beiden Büchern auseinandergesetzt hat, sind auch noch im 21. Jahrhundert brisant. Die historischen Fallstudien faszinieren durch vielseitige Informationen und Details, die als solche einmalig und nicht übertragbar sind. Dennoch können Carola Sachses Untersuchungen für die Auseinandersetzung mit aktuellen Familien-Problemen sehr hilfreich sein. Das in beiden Büchern ausgearbeitete methodische Vorgehen hilft generell, die Wahrnehmungsmöglichkeiten zu erweitern; die Komplexität des Interagierens von Menschen, Artefakten, Ereignissen, Strukturen, Prozessen, Entwicklungen anzuerkennen; die jeweiligen Besonderheiten solchen Zusammenwirkens nachzuvollziehen und zu deuten. „Familie“ ist nach wie vor ein Wort für sehr verschiedenartige Inhalte. Trotzdem behauptet es sich sogar an prominenter Stelle in Verfassungen, Zivilrecht, Sozialpolitik. Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts erweist sich eben diese Unschärfe des Wortes Familie mehr und mehr als politisch erfolgversprechendes Medium der Verständigung, um unter anderem die Messlatte der Normalfamilie endgültig abzuschaffen und die Vielfalt der mit Kindern zusammenlebenden Gruppen von Erwachsenen anzuerkennen, die gleich welchen Geschlechts, welcher Generation mit oder ohne Trauschein, an einem oder mehreren Orten ihr gemeinsames Leben gestalten. Was früher als Normenverstoß geahndet wurde, wird zunehmend als verschiedenartige Lebensform und Lebenspraxis hingenommen und sogar geschützt. Im Zentrum der gesellschaftspolitisch ungelösten Familienprobleme stehen allerdings weiterhin die für Menschen Tag für Tag störenden strukturbedingten Missverhältnisse und Widersprüchlichkeiten. Da ist zum einen der profit- und marktorientierten Güterproduktion und deren Bedarf an Dienstleistungen und systemgerecht produzierenden und kaufenden Menschen Tribut zu zollen. Da soll zum andern die Familie mit ihrem Angebot an Versorgung und Zuwendung irgendwie bedürfnisorientiert die als legitim erachteten Erwartungen der unterschiedlichen Familienmitglieder erfüllen. Die von systembedingten Unvereinbarkeiten vorprogrammierten Konflikte werden bevorzugt in den Familien ausgetragen. Um Schäden von betroffenen Familien abzuwenden, bieten heute zwar eine Vielzahl vor- und nachsorgender privater und staatlich-kommunaler Einrichtungen ihre Dienste an. Doch wie die tiefer liegenden Konfliktstrukturen überwunden werden könnten, dafür gibt es bislang keine überzeugenden Lösungsangebote.