C China

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10.34663/9783945561126-04

Citation

Heim, Susanne (2016). C China. In: Wissen Macht Geschlecht: Ein ABC der transnationalen Zeitgeschichte. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

China – Eine Reise

Vor fünfzig Jahren begann in China die „Große proletarische Kulturrevolution“. Neununddreißig Jahre später, im Sommer 2005, reiste Carola Sachse erstmals in das Reich der Mitte und mit ihr eine kleine Gruppe von Wissenschaftshistoriker_innen. Noch als Leiterin des Forschungsprogramms zur Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus hatte Carola Sachse angeregt, eine Sektion beim internationalen Kongress für Wissenschaftsgeschichte zu gestalten, der in der zweiten Julihälfte 2005 in Beijing tagte. Rund um die Mitwirkenden an dieser Sektion bildete sich ein kleiner Kreis von Kolleg_innen, die die Teilnahme am Kongress auch dazu nutzen wollten, erste Eindrücke von China zu gewinnen. Einige von uns nahmen im Anschluss an die Konferenz an einer zehntägigen Reise teil, die über mehrere Stationen von Beijing nach Shanghai führte.

Abb. 1: Mitglieder der Reisegruppe, Carola Sachse, Barbara Orland und Florian Schmaltz, in der Verbotenen Stadt in Beijing. (© Privatfoto: Susanne Heim)

Abb. 1: Mitglieder der Reisegruppe, Carola Sachse, Barbara Orland und Florian Schmaltz, in der Verbotenen Stadt in Beijing. (© Privatfoto: Susanne Heim)

Bei der Ankunft am Flughafen wurden die Reisenden mit einem überdimensionalen Schild begrüßt, das jedoch nicht etwa „Welcome to Beijing“ versprach, sondern in Großbuchstaben „Punishment“ für alle möglichen Ordnungswidrigkeiten androhte. Da es uns trotz aller Warnungen im Vorfeld nicht gelang, ein reguläres Taxi zu ergattern und damit der Verdreifachung des Fahrpreises zu entgehen, erhielten wir gleich einen ersten Eindruck vom Konkurrenzdruck, unter dem unzählige chinesische Kleinstunternehmer nach der Privatisierung der Wirtschaft stehen – was sich jedoch auf die Empörung innerhalb der kleinen Reisegruppe kaum mäßigend auswirkte.

Beijing kam uns auf den ersten Blick nicht sonderlich schön vor: kastenartige Hochhäuser, ein Gewirr breiter Straßen, vollgestopft mit Autos, die regelmäßig zur Hauptverkehrszeit im Smog versanken, vor allem aber im Stau steckenblieben. Insofern erstreckten sich die Stadtbesichtigungen in den Konferenzpausen allenfalls auf die unmittelbare Umgebung des kolossartigen Kongresshotels, weil der Weg in die Innenstadt Stunden gedauert hätte. Auch wenn die Autos das Stadtbild stärker bestimmten, so waren doch Unmengen von Fahrrädern unterwegs, deren Zustand alle Zwischenstufen von superchic bis völlig verrostet abdeckte. Viele dieser Gefährte hatten äußerst originelle Beiwagen oder Anhänger zur Personen- oder Lastenbeförderung.

In der Stadt existieren das 19. und 21. Jahrhundert direkt nebeneinander: hochmoderne Einkaufszentren voll mondäner Geschäfte neben kleinen Gassen mit einstöckigen, oft baufälligen Häusern und angeschlossenen Wohnhöfen, den Hutongs. Das Leben in diesen alten Vierteln spielte sich zu großen Teilen auf der Straße ab, weil sich manchmal mehrere Familien einen Raum teilen mussten oder es für eine ganze Straße nur eine Wasserstelle oder eine Toilette gab. Auf der Konferenz wurden für die ausländischen Gäste bezahlte Touren durch einige Vorzeige-Hutongs angeboten. Ansonsten machte man um diese Viertel eher einen Bogen, weil man sich vorgekommen wäre, als würde man den Leuten durchs Wohnzimmer laufen.

Für alle deutschen und österreichischen Kolleg_innen in unserer kleinen Gruppe war es die erste Reise nach China und somit die erste Gelegenheit, das China-Bild in unseren Köpfen mit der Realität zu konfrontieren. Dieses Bild war nicht zuletzt auch beeinflusst von der hiesigen Berichterstattung, die zwischen Bewunderung für den gewaltigen Wirtschaftsboom und diffusen Ängsten vor der vermeintlichen wirtschaftlichen Übermacht der Chinesen pendelte. Eine maßgebliche Stimme darunter war die von Altkanzler Helmut Schmidt: Denjenigen, die die chinesischen Menschenrechtsverletzungen kritisierten, so mahnte Schmidt, fehle es „an Respekt vor einer in Jahrtausenden gewachsenen anderen Kultur“ (Schmidt 2006, 144). Dass China auch damals schon Weltspitze in Sachen Hinrichtungen war und chinesische Oppositionelle wegen „schädlicher“ Meinungen jahrzehntelang in Gefängnissen oder Straflagern verschwanden, erschütterte den Herausgeber der liberalen Wochenzeitung Die Zeit nicht in seiner Überzeugung, dass die Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei das Beste für die Chinesen sei:

[A]uch im Lichte des langen Bürgerkrieges und der ihm folgenden großen maoistischen Experimente mit ungezählten Opfern an Menschenleben erscheint mir die politische Stabilität, die dieses System gewährleistet, als zweckmäßig, ja als wohltuend für das chinesische Volk – und auch für seine Nachbarn. (Schmidt 2006, 154)

So geradlinig waren die Überzeugungen in der Gruppe der Kongressreisenden nicht. Aber Bewunderung und Angst prägten auch deren Reiseeindrücke in jeweils individueller Mischung. Zuallererst dominierte das Staunen über die gigantischen Dimensionen: über Städte, deren Einwohnerzahlen im zweistelligen Millionenbereich lagen und von denen wir dennoch nie zuvor auch nur die Namen gehört hatten; über Großbaustellen, auf denen es von Arbeitern nur so wimmelte. Ihre Arbeitskraft war offenkundig billig, denn sie ersetzten die gängigsten Baumaschinen. Gleichwohl beeindruckten die Chinesen durch ihre Arbeitseffizienz, die Geschwindigkeit, in der sie das Land umgestalteten und hochmoderne Metropolen inmitten der Armut aus dem Boden stampften. Auch wenn im Jahr 2005 der Berliner Flughafen noch nicht den Vergleichsmaßstab bot, war das Tempo aus unserer Perspektive beachtlich. Europa sah dagegen alt aus: Gewerkschaften, Arbeitskämpfe, Urlaubsansprüche, aufwendige Sozialsysteme, Bürgerbeteiligungsverfahren, Umweltschutz – so kann man mit den Chinesen nicht Schritt halten. Europa würde binnen kurzem abgehängt werden. Das schien so manchem und mancher ganz klar.

Die mangelnden Arbeitsschutzbestimmungen hatten für Europäer_innen auch ihren Vorteil: Chinesische Familienbetriebe fertigten maßgeschneiderte Seidenhosen auch über Nacht an. Der Nachteil des fehlenden Sozialstaats war nicht zu übersehen: Auf den Treppenabsätzen und in der Einfahrt des Hotelpalastes campierten obdachlose Wanderarbeiter mit ihrem spärlichen Hausrat. Beim Spaziergang durch eine der Riesenstädte mussten wir vor einer Baustelle kehrt machen. An deren Rand lebten die Bauarbeiter in Zelten – und plötzlich wurde der einen oder anderen bewusst, dass ihre Handtasche mit Fotoapparat, Kreditkarte und ähnlichen Schätzen die Begehrlichkeiten der Zeltbewohner wecken könnte.

Die Versuche, sich die vielen neuen Eindrücke zu erklären, wurden erschwert durch die Tatsache, dass niemand von uns Chinesisch verstand, weder die gesprochene Sprache, noch überhaupt die Schriftzeichen, die auf Wegweisern etc. hätten Orientierung bieten können, von den kulturellen Codes ganz zu schweigen. Da Stadtpläne nicht üblich waren, musste man sich vor jeder Taxifahrt – die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs scheiterte an der Sprachbarriere – jemanden suchen, dem man auf Englisch erklären konnte, wohin man wollte, und der dies dann auf Chinesisch für den Taxifahrer auf einen Zettel schrieb.

Abb. 2: Geschäftsstraße in Shanghai. (© Privatfoto: Susanne Heim)

Abb. 2: Geschäftsstraße in Shanghai. (© Privatfoto: Susanne Heim)

Selbst dort, wo wir uns auf halbwegs vertrautem Terrain glaubten, im Museum für Wissenschaftsgeschichte, in dem zumindest einige Exponate englisch beschriftet waren, verstanden wir zuerst einmal, was wir bislang falsch verstanden hatten: Das Schießpulver, das Papier, der Buchdruck und viele andere vermeintliche Errungenschaften westlicher Zivilisation waren, lange bevor sie in Europa „erfunden“ wurden, in China längst gebräuchlich.

Chinesische Frauen traten in der Öffentlichkeit, so schien es uns, sehr selbstbewusst auf. Eine Konferenzteilnehmerin meinte darin die Auswirkungen der Kulturrevolution zu erkennen. Andere spekulierten, dass dies mit dem Frauenmangel aufgrund der Ein-Kind-Politik und der selektiven Abtreibung weiblicher Föten zusammenhänge, die zu einem drastischen Geschlechterungleichgewicht beigetragen hatte. Der Mangel an Frauen, so wusste schließlich eine seit Jahren in China lebende Journalistin zu berichten, hatte jedoch nicht zur Folge, dass sie mehr wertgeschätzt würden, sondern würde unter anderem durch Frauenhandel aus ärmeren Ländern „behoben“. Frauen, die aus Nordkorea geflohen waren, würden an chinesische Bauern in entlegenen Gegenden, aus denen die Chinesinnen nach Möglichkeit wegziehen, verkauft. Als illegal im Land Lebende seien sie der Willkür von Ehemann und Schwiegereltern ausgeliefert und könnten bei Missfallen der Polizei gemeldet und dann in ein nordkoreanisches Gefängnis abgeschoben werden. Gerade auf dem Land würden die extrem harten Lebensbedingungen viele Frauen in den Selbstmord treiben.

Die Ein-Kind-Politik, seit Oktober 2015 auch offiziell abgeschafft, wurde zehn Jahre zuvor schon nicht mehr ganz so rigide durchgesetzt, war aber noch immer die Regel. Nur Ehepaare auf dem Land, deren erstes Kind ein Mädchen war, hatten noch einen zweiten Versuch offen. Mit dem Ergebnis, dass die Frauen, die ein weiteres Mädchen zur Welt brachten, das Gefühl hatten, zu versagen. Die Rigidität in der Durchsetzung der Ein-Kind-Politik hinge, so berichtete die Journalistin, stark von den jeweiligen Funktionären ab, die sich nur gegenüber Vorgesetzten verantworten müssten und bisweilen starken Druck auf die Frauen ausübten. Reiche Leute könnten sich auch durch Bestechung ein zweites Kind „leisten“, dessen Unterhalt dann jedoch sehr teuer sei, weil es keine staatlichen Dienstleistungen in Anspruch nehmen könne und auch keine gültigen Papiere bekäme. Doch der demographische Wandel machte sich auch in China bemerkbar. Die wirklich Neureichen waren ohnehin nicht sonderlich an Kindern interessiert. In Kombination mit der zunehmenden Privatisierung von Staatseigentum hat die Ein-Kind-Politik zudem ein erhebliches Rentenproblem entstehen lassen, da die privatisierten Firmen nicht zur Übernahme der Alterssicherung verpflichtet waren. Für die Angestellten in Staatsbetrieben, die ihre Rente für sicher gehalten hatten, war der Rückgriff auf familiäre Strukturen nun häufig nicht mehr möglich, und durch den oft gewaltsam erzwungenen Geburtenrückgang gibt es nun zu wenige Einzahler in die Rentenkassen. Um diesen Effekt zumindest partiell aufzufangen, verkaufte die Zentralregierung weiter Staatseigentum, wogegen die Provinzen protestierten.

Nach den vielen Mao-Bildern zu urteilen, wurde der große Vorsitzende nach wie vor verehrt, jedenfalls nicht kritisiert. Aber er spielte, so versicherten mehrere China-Kenner, eigentlich keine Rolle mehr. Vielleicht hingen die Bilder auch nur noch, weil ihre Beseitigung erklärungsbedürftig, ein Anlass zu kritischer Reflexion gewesen wäre.

Bis heute verhindert die Partei die (selbst)kritische Auseinandersetzung mit den Verbrechen, die während der Kulturrevolution, beim „Großen Sprung nach vorn“ und bei den zahlreichen Kampagnen gegen Abweichler, Grundbesitzer und andere „Volksschädlinge“ begangen wurden, und an denen sich auch das von der Partei dressierte Volk massenhaft beteiligte. Die Freude daran, andere am Pranger zu sehen, schien uns beim Spaziergang über einen Markt wieder durchzuschimmern: Zwei Diebe, die mit ihrer Beute davonrannten, wurden von Passanten gestoppt und bis zum Eintreffen der Polizei mit dem Gesicht nach unten und einem Stiefel auf dem Rücken zu Boden gedrückt. Schnell entstand eine Menschentraube, in der sich ein gespenstisches Grinsen breit machte.

Im Kaufhaus in Beijing wurden Wecker und Armbanduhren verkauft, auf deren Zifferblatt Mao abgebildet war; sein rechter Arm als Sekundenzeiger tickte mal freundlich winkend, mal streng mahnend hin und her. Zunächst hatten wir noch gerätselt, ob es sich um einen Scherzartikel handelte. Doch als diese Uhren dann auch in der Gründungsstätte der Kommunistischen Partei Chinas in Shanghai zum Verkauf angeboten wurden, war klar, dass sie allen Ernstes die Ruhmesgeschichte der Partei und ihres Vorsitzenden illustrieren sollten.

Elf Jahre später mögen solche Andenken aus den Geschäften verschwunden sein. Aber noch immer steht das Tempo der wirtschaftlichen Modernisierung im umgekehrten Verhältnis zu demjenigen der Liberalisierung nach innen – „stabile Verhältnisse“ eben.

Abb. 3: Der Mao-Wecker. (© Privatfoto: Birgit Kolboske)

Abb. 3: Der Mao-Wecker. (© Privatfoto: Birgit Kolboske)

Literatur

Schmidt, Helmut (2006). Die Mächte der Zukunft. Gewinner und Verlierer in der Welt von morgen. München: Goldmann.