O Objekte

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DOI

10.34663/9783945561126-16

Citation

Heumann, Ina (2016). O Objekte. In: Wissen Macht Geschlecht: Ein ABC der transnationalen Zeitgeschichte. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

Abb. 1: Sauriersaal des Museums für Naturkunde Berlin mit Blick auf den Brachiosaurus brancai. (© MfN/Antje Dittmann)

Abb. 1: Sauriersaal des Museums für Naturkunde Berlin mit Blick auf den Brachiosaurus brancai. (© MfN/Antje Dittmann)

Wissenschaftliche Objekte, wie jene Objekte in der Saurierhalle des Museums für Naturkunde Berlin, sind in verschiedenen kulturwissenschaftlichen Disziplinen hoch im Kurs, und dies schon seit Längerem. Gründe dafür gibt es viele: vom so genannten material turn über die Digitalisierung musealer und universitärer Bestände, die das Augenmerk wiederum auf die vorhandenen Dinge lenkt, bis hin zu den ökonomischen und identitären Krisen sammlungsbesitzender Wissenschaftsinstitutionen. Dieses Interesse am Objekt schlägt sich auch in der Öffentlichkeit deutlich nieder – Sammlungsbücher, wissenschaftliche Objektausstellungen, künstlerische Arbeiten mit wissenschaftlichen Objekten und ehrgeizige Museumsprojekte reihen sich in dichter Folge aneinander. Grundlage und gleichzeitige Folge dieser Dingkonjunktur sind nicht zuletzt wissenschaftspolitische Stellungnahmen. 2011 forderte beispielsweise die Empfehlung des Wissenschaftsrats zu wissenschaftlichen Sammlungen als Forschungsinfrastruktur Bund, Länder und die DFG dazu auf, „Instrumente zu entwickeln, die dazu geeignet sind, […] wissenschaftliche Sammlungen als Infrastrukturen für die Forschung zu erschließen und nutzbar zu machen“. Sammlungen wurden dabei als „kulturelle[s] und natürliche[s] Erbe“ und „Zeugnis der Geschichte und Entwicklung von Natur, Kultur, Technik, Gesellschaft und Wissenschaft“ definiert und in dieser umfassenden Bedeutung als unentbehrliche Basis für multidisziplinäres Forschen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Ähnliche Formulierungen tauchten auch im Bund-Länder-Eckpunktepapier zu den Forschungsmuseen der Leibniz-Gemeinschaft 2012 auf: Forschungsmuseen und ihre Sammlungen seien formende Instanzen für das „kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft“. Wenig später präsentierte sich diese wissenschaftspolitische Fokussierung von Objekten in neuen Förderlinien, etwa des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, das durch ein Förderprogramm mit dem Titel „Die Sprache der Objekte“ interdisziplinäre Objektforschung ermöglicht.

Diese metaphernreichen Erwartungen und Ansprüche an Objekte und ihre Erforschung – geht es doch um „Erbe“, „Gedächtnis“ und „Sprache“ – scheinen der beeindruckenden Präsenz von Objekten zu entsprechen: Beim Gang durch (wissenschaftliche) Museen erscheint es nicht nur dem Helden aus J. D. Salingers Der Fänger im Roggen, als stehe die Zeit still, als bewege sich nur die Welt außerhalb der Museumsräume, während im Inneren die Ruhe klarer Wahrheiten und musealer Dingordnungen herrscht (Salinger 1961 [1951], 139). Gleichzeitig transportieren jedoch sowohl „Erbe“ als auch „Gedächtnis“ und „Sprache“ Verweise auf historische Transformationen und Veränderungen, die zuallererst die Bedingung musealer Sammlungen sind. Vor allem naturkundliche Objekte stehen insofern in einer eigentümlichen Spannung aus scheinbarer Ahistorizität – werden sie doch nicht selten immer noch als Beleg überhistorischen Wissens ausgestellt – und beeindruckender Multihistorizität. Denn schaut man genauer auf die scheinbar stillgestellten Museumsobjekte, so blättern sie ebenso wie jedes kuratorische Objektarrangement eine Vielzahl von Zeitschichten auf. Sie stellen geographische und chronologische Gleichzeitigkeiten her: Naturkundliche Museen vergemeinschaften Haustierpräparate aus dem 18. Jahrhundert und Überreste von Mammuts, Vogelpräparate aus ehemaligen Kolonien und Käfer aus brandenburgischen Wäldern. Darüber hinaus beruht jedes Objekt auf Handgriffen, Handhabungen und Herstellungsweisen, deren Aufeinanderfolge wiederum Zeugnis ihrer komplexen und oft globalen Geschichtlichkeit ist. So wurden all jene 30 Millionen Objekte des Berliner Naturkundemuseums gejagt, getötet, gefunden oder hergestellt, präpariert, beschrieben und verpackt. Im Museum angekommen wurden sie wieder ausgepackt, untersucht, einsortiert, viele Male auf- und umgeräumt. Sie wurden und werden mit unterschiedlichen Techniken und Fragestellungen bearbeitet und sind bis heute Argumente – in der Wissenschaft, in den Ausstellungen und in der Öffentlichkeit.

Michel Foucaults Beschreibung von Museen als Heterotopien, als „andere Räume“, das heißt als „realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind“ (Foucault 1992, 39) bringt diese institutionalisierte Ambivalenz zwischen Ahistorizität und Multihistoriztität auf den Punkt. Denn utopisch ist an Museen insbesondere ihr Verhältnis zu Zeit und Vergänglichkeit. Sie akkumulieren Zeit, sind „Ort[e] aller Zeiten“, die „selber außer der Zeit und sicher vor ihrem Zahn sein“ sollen (43). Gleiches gilt für naturkundliche Objekte: Sie sollen Naturgeschichte bekunden, das heißt evolutive Veränderungen aller Art, werden aber nur selten als historische Zeugnisse adressiert. Während der eine Pol der Historizität, die vermeintliche Zeitlosigkeit der Dinge, hochgehalten wird, gerät der andere Pol, ihre historische Vielschichtigkeit, weitgehend in Vergessenheit: Von den inzwischen detailreich erforschten Akteuren, Strukturen und Bedingungen, die die Objekte als museale naturkundliche Objekte überhaupt erst möglich gemacht und bis heute erhalten haben, wird dennoch in ihren Ausstellungen noch immer selten gesprochen.

Diese Zeitvergessenheit schlägt unter Umständen bis auf die Identität der Institutionen durch. Noch immer orientiert sich deren historisches Selbstbild eher an vermeintlich über der Zeit stehenden Fakten und der um die Institution und die Wissenschaft verdienten Männern, denn an jenem historisch und politisch situierten, verschlungenen, manchmal umwegigen, immer komplizierten Weg naturkundlicher Wissensproduktion. Besonders offensichtlich wird das bei zeithistorischen Reflektionen. Sinnbildlich für diesen bisweilen eingeschränkten historischen Blick sind Imaginationen der Institution als eine Insel, die selbst vom heftigsten Sturm politischer und historischer Transformationen nicht erreicht werden konnte. Wie lange es braucht, um diese identitären weißen Flecken zu revidieren, Geschichte in ihrer Umfänglichkeit zuzulassen, das zeigen beispielhaft die Restitutionsdiskussionen der letzten Jahre, die sich zumeist auf Kulturgüter bezogen. Gesellschaftliche Diskussionen betrafen dabei vor allem Kunst, aber auch ethnologische oder andere „sensible Objekte“ (Lange 2011) wie etwa human remains in anatomischen Museen, anthropologischen Depots oder institutionellen Archiven.

Abb. 2: Ostafrikanische Arbeiter an einem der großen Knochengräben, die während der paläontologischen Expedition des Berliner Naturkundemuseums in die damalige Kolonie Deutsch-Ostafrika zwischen 1909 und 1913 angelegt wurden. (Koloriertes Glasdiapositiv, Museum für Naturkunde Berlin, Historische Bild- u. Schriftgutsammlungen, Bestand: Pal. Mus.,Signatur: B V/177)

Abb. 2: Ostafrikanische Arbeiter an einem der großen Knochengräben, die während der paläontologischen Expedition des Berliner Naturkundemuseums in die damalige Kolonie Deutsch-Ostafrika zwischen 1909 und 1913 angelegt wurden. (Koloriertes Glasdiapositiv, Museum für Naturkunde Berlin, Historische Bild- u. Schriftgutsammlungen, Bestand: Pal. Mus.,Signatur: B V/177)

Mag sein, dass es gerade diese beschwerten Seiten der Vergangenheit sind, die viele wissenschaftliche Museen und Sammlungen noch immer davor zurückschrecken lassen, das eigene Selbstbild komplexer zu gestalten und entsprechend vielschichtige Narrative stärker in die Präsentation der Objekte zu integrieren. Dass sich jedoch Wissen, Macht, geschlechtliche Politiken und globale Verhältnisse – jene Facetten der Geschichte, denen sich Carola Sachse widmet – als steter Strom durch die Institution, ihre Objekte und deren Arrangement zieht, könnte eigentlich ein erfreulicher Befund sein. Er birgt erst die Möglichkeit, Museen und ihre Dinge zu jenen ‚anderen Räumen‘ und realisierten Utopien werden zu lassen – zu Orten, in denen sich die Vielfalt der Zeiten bewahren und zeigen lässt, zu Orten, die mit herkömmlich erzählten Heldengeschichten brechen, in denen tausende Kilometer weit auseinanderliegende Räume, verschiedene Sprachen, unvereinbare Praktiken und unvergleichliche Zeiten zugleich in einer Erzählung verbunden werden müssen.

Denn wo sonst kann man von 150 Millionen Jahre alten Dinosauriern und der mühevollen jahrzehntelangen Rekonstruktionarbeit sprechen, die sie als museale Objekte erst möglich gemacht hatte? Wer kann den bis in die Gegenwart reichenden Stolz auf das größte aufgestellte Dinosaurierskelett in einem Atemzug erwähnen mit der Hitze auf paläontologischen Grabungsstätten in Deutsch-Ostafrika, aus denen diese Knochen Anfang des 20. Jahrhunderts geborgen wurden? Es sind insbesondere die naturkundlichen Museen, deren Objekte wie Zeitstrahlen durch die globale Geschichte weisen. Wessen „Erbe“ an diesen Objekten präsentiert werden kann, wie multilingual die „Sprache“ ist, die zu ihrer Erforschung und Repräsentation gesprochen werden muss und wie umkämpft auch dieses „Gedächtnis“ sein kann, das wird sich immer wieder von Neuem erweisen.

Literatur

Foucault, Michel (1992). Andere Räume. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Hrsg. von Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris und Stefan Richter. Leipzig: Reclam, 34˗46.

Lange, Britta (2011). Sensible Sammlungen. In: Sensible Sammlungen. Aus dem anthropologischen Depot. Hrsg. von Margit Berner, Britta Lange und Anette Hoffmann. Hamburg: Philo & Philo Fine Arts, 5˗40.

Salinger, Jerome D. (1961 [1951]). Der Fänger im Roggen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.