N Neomalthusianismus

Ian Innerhofer

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DOI

10.34663/9783945561126-15

Citation

Innerhofer, Ian (2016). N Neomalthusianismus. In: Wissen Macht Geschlecht: Ein ABC der transnationalen Zeitgeschichte. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

Thomas R. Malthus, ab 1805 Inhaber des ersten Lehrstuhls für politische Ökonomie in England, sah in seinem 1798 erstmals erschienenen Essay on the Principle of Population den Ursprung des sozialen Übels in der Knappheit der Güter und der „zügellosen Vermehrung“ der Bevölkerung – insbesondere der „niederen Klassen“. Die starke Rezeption seiner Ideen im 19. Jahrhundert führte zur Formierung der neomalthusianischen Bewegung, welche durch flächendeckende Verbreitung von Verhütungsmitteln das Bevölkerungswachstum regulieren wollte (Malthus selbst hatte diese als unmoralisch abgelehnt). Der Neomalthusianismus war im Selbstverständnis seiner Vertreter und Vertreterinnen zugleich Teil der wissenschaftlichen Disziplinen Medizin und Staatswissenschaften, soziale Bewegung und politisches Programm. Die Bewegung war Anfang des 20. Jahrhundert bereits stark international ausgerichtet, auf die erste internationale Konferenz 1900 in Paris sollten noch weitere folgen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzten sich Personen wie Frauenrechtsaktivistin Margaret Sanger für Gesetzänderungen (z.B. Straffreiheit) zugunsten der Geburtenkontrolle oder für öffentliche Aufklärung in Sachen Verhütung ein. In gesundheits-, sozial- und bevölkerungspolitischen Belangen fand sich in der damals starken eugenischen Bewegung ein Partner. Nach 1945 wurden Netzwerke reaktiviert. Aus einer Initiative von Margaret Sanger entstand 1952 die International Planned Parenthood Federation. Im selben Jahr gründete John D. Rockefeller III, einer der berühmtesten Anti-Überbevölkerungsaktivisten, den Population Council. Auch innerhalb der 1946 gegründeten Population Commission der Vereinten Nationen konnten neomalthusianische Agenden fest verankert werden, obwohl eine Allianz aus sozialistischen und katholischen Ländern Geburtenkontroll-Programme bekämpften. Schließlich können die Jahre 1960 bis 1980 als Hochphase der vom Westen konzipierten Programme zur Reduktion der Fertilität in der „Dritten Welt“ bezeichnet werden. Handelnde und Zielpersonen waren darin klar geschlechtlich, geographisch und sozial zugeordnet.

Der Grundgedanke des Neomalthusianismus ist die Definition des Missverhältnisses zwischen Verfügbarkeit und Verbrauch von Ressourcen auf der einen und der Bevölkerungszahl auf der anderen als Bevölkerungsproblem, was die Lösung des Problems mit Mitteln der Bevölkerungspolitik erforderlich mache. Dabei wird ein normatives Bild davon entworfen, wie die Gesellschaft aussehen soll. Nach neomalthusianischer Überzeugung ist unkontrolliertes Bevölkerungswachstum und „Überbevölkerung“ die Ursache von Migration, Armut, Hunger, „Unterentwicklung“, Umweltverschmutzung, Kriminalität, sozialen Spannungen, politischer Instabilität, Kriegen oder Terrorismus. So wird z.B. Armut nicht als Nahrungsmittelmangel sondern als Konsequenz einer zu hohen Bevölkerungszahl aufgefasst, denn letztlich lässt sich jede politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Krise anhand von plausibel erscheinenden Zusammenhängen zu einem demographischen Problem umdeuten.

In der Praxis ist neomalthusianische Bevölkerungspolitik nicht auf eine rein quantitative Reduzierung des Bevölkerungswachstums bzw. der Bevölkerungsdichte gerichtet, sondern setzt eine Entscheidung darüber voraus, wer „zuviel“ ist. Bereits Malthus verfasste seinen Essay als politische und ideologische Argumentation gegen die Armenunterstützung in England, denn diese würde die arme Bevölkerung dazu ermutigen, mehr Kinder zu bekommen. Mit der noch frischen Erfahrung der Französischen Revolution sah er in der starken Vermehrung der armen Bevölkerung eine Gefährdung der politischen und sozialen Ordnung. In der Kolonialzeit schürten die USA und europäische Kolonialmächte rassistische Ressentiments gegen die von Ostasien ausgehende „gelbe Gefahr“, in Deutschland entwickelte sich die Angst vor der „Slawenflut“ aus dem Osten zu einer Obsession in den Bevölkerungswissenschaften. Ohne Widerspruch bestand im Deutschland der Zwischenkriegszeit gleichzeitig das Bild vom „Volk ohne Raum“ und vom „Volk ohne Jugend“ sowie vom „leeren Osten“ und „übervölkerten Osten“. Dafür ausschlaggebend ist die politische Zielsetzung und die damit einhergehende differenzierte Betrachtung der Fertilität: je nach Land und je nachdem welche ethnischen Gruppen oder Klassen im Mittelpunkt der Betrachtung stehen, es sind immer die „Anderen“, die zuviel sind, während die „Eigenen“ meist zu wenig sind. Wollte man Osteuropa als „leeren Raum“ für deutsche Siedler darstellen, so bezog sich dies vor allem auf die Bevölkerungsdichte pro km², welche deutlich niedriger war als in Mittel- und Westeuropa. Wurde der von Osteuropa ausgehende „Bevölkerungsdruck“ betont, wurde in der Regel mit den Geburtenraten argumentiert, die zu dieser Zeit noch höher als jene im Westen waren. Hans Magnus Enzensberger bezeichnete die Vorstellung, es könnten auf ein und demselben Territorium gleichzeitig zu wenige und zu viele Menschen existieren, als „demographische Bulimie“.

Radikal zu Ende gedacht können malthusianische Ideen zur Inkaufnahme der physischen Vernichtung der „Überschussbevölkerung“ führen. So wurde in der Historiographie der Zusammenhang zwischen Überbevölkerungskonzept und Massenmord in der Zeit des Zweiten Weltkriegs untersucht, als dieses den nationalsozialistischen Raum- und Wirtschaftsplanern zur Rechtfertigung des Hungertodes von „vielen 10 Millionen Überflüssiger“ in der Sowjetunion diente, da die dortigen Lebensmittel für die Versorgung Europas gebraucht würden. Churchill wiederum folgte den in seinem Umkreis dominierenden malthusianischen und sozialdarwinistischen Ansichten als er in der bengalischen Hungersnot 1943 mit dem Argument, britische Soldaten bräuchten die Nahrungsmittel dringender als die im Krieg untätige und sich „wie Karnickel vermehrende“ indische Bevölkerung, britische Hilfe verweigerte.

Eine starke Affirmation erlebte das neomalthusianische Paradigma ab Mitte der 1960er Jahre in der Umweltdiskussion, u.a. durch die einflussreiche Studie Grenzen des Wachstums des Club of Rome. Aus Sicht vieler Autoren_innen führte die Zunahme der Weltbevölkerung geradewegs in die ökologische Katastrophe, welche nur durch Geburtenkontrolle verhindert werden könne. Hier kam das Tragfähigkeitskonzept durch das eingängige Bild des „Raumschiffs Erde“ und dessen begrenzte Ressourcen zum Ausdruck. Neomalthusianische Arbeiten sind meist von einem apokalyptischen Diskurs geprägt. Beeinflusst von den neomalthusianischen Nachkriegsklassikern Road to Survival von William Vogt und Our Plundered Planet von Fairfield Osborn aus dem Jahr 1948 hatte der US-amerikanische Biologe Paul R. Ehrlich, Gründer der Bewegung Zero Population Growth, in seinem 1968 veröffentlichten Bestseller Die Bevölkerungsbombe den durch „Übervölkerung“ ausgelösten Hungertod von hunderten Millionen Menschen in den 1970er und 80er Jahren prophezeit. Ehrlich forderte eine bevölkerungspolitische Triage: Länder wie Indien, die auch in Zukunft keine Chance hätten, die eigene Bevölkerung selbst zu versorgen, sollten keine Lebensmittelhilfen erhalten. Der Verweis auf die unmittelbar bevorstehende Katastrophe machte die Forderung nach radikalen Maßnahmen, bei denen Menschen- und Frauenrechte nachrangig sind, leichter. Ab Ende der 1960er Jahre wurde der neomalthusianische Ansichten auch durch Literatur und Film popularisiert, ein berühmtes Beispiel ist der dystopische Thriller Soylent Green.

Zu einem festen Pfeiler des Neomalthusianismus wurde das nach 1945 weiterentwickelte Modell des demographischen Übergangs, welches auf der Annahme basiert, dass die Bevölkerung in Folge der Modernisierung ohnehin sinkt, dies aber zu langsam geschehe. Historisch lässt sich mit dem Modell aber nicht einmal die Bevölkerungsentwicklung in England, dem Mutterland der Industrialisierung, beschreiben. Nicht verifiziert werden konnte bis jetzt auch die neomalthusianische Überzeugung, dass mit dem Rückgang der Geburtenrate der Wohlstand zunehme. Zu den schärfsten Kritikern Malthus’ und seines Bevölkerungsgesetzes hatte Karl Marx gehört. Die Bevölkerung selbst oder ihr Anwachsen war für ihn nicht das Problem. „Übervölkerung“ werde von der kapitalistischen Produktionsweise geschaffen, weil diese eine ausbeutbare „industrielle Reservearmee“ benötige. Marx erachtete die Beschäftigung mit Geburtenzahlen als unsinnig und formulierte selbst kein „Bevölkerungsgesetz“. Doch Anfang der 1960er Jahre hatten auch Demographen in den Ländern des Ostblocks angefangen, die von Marx und Lenin hinterlassene Lücke in ihrer Wissenschaftsdisziplin zu schließen und ein „marxistisches Bevölkerungsgesetz“ zu formulieren, in welchem auch von der Existenz einer durch starkes Bevölkerungswachstum hervorgerufenen „Überbevölkerung“ in den so genannten Entwicklungsländern ausgegangen wurde. Fundamentale Kritik zu Malthus kam indessen von der dänischen Ökonomin Ester Boserup, welche 1965 in einem vielbeachteten Buch darlegte, wie Bevölkerungswachstum zu Innovation führe.

Als international vernetzte Bewegung und als Legitimationsstrategie für bevölkerungspolitische Eingriffe war der Neomalthusianismus erfolgreich, in der Praxis erzielten die Geburtenkontroll-Programme jedoch viel Leid (unter Zwang durchgesetzte Programme) und wenig Wirkung. Die Geburtenkontroll-Bewegung konnte auf den transnationalen Wissenstransfer neomalthusianischer Ideen und die Unterstützung lokaler Eliten zählen. Staatliche und in großem Maße auch unabhängige Bevölkerungsexperten und –expertinnen aus Nordamerika und Westeuropa versuchten, Kollegen und Kolleginnen aus Osteuropa einzubinden, obwohl auch in der Bevölkerungspolitik einige Auseinandersetzungen Mustern des Kalten Krieges folgten. Sie beteiligten sich in den betroffenen Ländern an internationalen und transnationalen Programmen. So kamen während der Besatzungszeit US-amerikanische Experten und Expertinnen nach Japan, um die Behörden in Sachen Bevölkerungskontrolle zu beraten. An der Entwicklung der Anti-Baby-Pille, welche in den 1950er Jahren im bevölkerungspolitischen Experimentierland Puerto Rico getestet wurde, wirkten mehrere Geburtenkontroll-Aktivisten und -Aktivistinnen mit. In der Hochphase der Anstrengungen in den 1960er und 1970er Jahren waren es in der Regel dennoch ältere weiße Männer aus dem Norden, die jungen schwarzen Frauen im Süden rieten, möglichst wenige Kinder zu bekommen. Sie sahen in diesen Ländern die Gefahr eines erhöhten Ressourcenverbrauchs, obwohl ihre industrialisierten Herkunftsländer pro Kopf ein Vielfaches an Ressourcen verbrauchten. Der Überbevölkerungsdiskurs sowie die in der „Ersten Welt“ entwickelten Programme dienten darüber hinaus politischen und wirtschaftlichen Zielen wie der Zerstörung der Kleinbauernschaft, der Schaffung wirtschaftlicher Abhängigkeiten und der Verschleierung der Gründe für Armut und Ungleichheit. In manchen Ländern ging das Bevölkerungswachstum zurück, in manchen nicht, was den Schluss nahe legt, dass die Bevölkerungsentwicklungen längeren Trends folgten und die bevölkerungspolitischen Eingriffe wenig bis gar keinen Einfluss hatten.

„Überbevölkerung“ war stets ein zentrales Thema auf den UN-Weltbevölkerungskonferenzen (1954 in Rom, 1965 in Belgrad, 1974 in Bukarest, 1984 in Mexiko-Stadt). Auf der bisher letzten Weltbevölkerungskonferenz 1994 in Kairo wurde das Wort „Überbevölkerung“ aus Rücksicht auf die Länder des globalen Südens vermieden, vielmehr wurde das Ziel einer Reduzierung der Weltbevölkerung mit der feministischen Debatte um empowerment und reproductive rights verknüpft. Auch wurde diesmal darauf Wert gelegt, den betroffenen Frauen aus dem Süden eine stärkere Stimme zu verleihen. Die Bewertung von Kairo reicht dementsprechend von einer erfolgreichen Abkehr von bevölkerungspolitischen Makro-Überlegungen hin zu individuellen Rechten bis zu einer Verlagerung neomalthusianischer Grundannahmen in neue politische Argumente.

Diese Flexibilität machte den Neomalthusianismus historisch erfolgreich. Er konnte einerseits leicht in andere, je nach Zeit unterschiedlich aktuelle und dominante Diskurse (Wohlstand und Modernisierung, Eugenik, Geopolitik, Feminismus, Umwelt- und Klimaschutz, etc.) integriert werden und sich andererseits sehr gut Kritik einverleiben und zu Nutze machen. Bis in die Gegenwart dominiert der neomalthusianische Ansatz das bevölkerungspolitische Denken und stellt ein treffendes Beispiel für das Beharrungsvermögen von Denkstilen nach Ludwik Fleck dar. Hatte man die starke Zunahme von Kriminalität und Vandalismus im New York der 1960er und 1970er Jahre auf die „Überbevölkerung“ der Stadt zurückgeführt, wurde die fallende Kriminalitätsrate der 1990er wiederum mit der Legalisierung der Abtreibung 1973 erklärt. Einer ähnlichen Argumentationslinie folgt das seit den 1990er Jahren intensiv diskutierte Konzept der youth bulges („Jugendberge“). Demzufolge seien weniger politische Instabilität, militärische Interventionen, Armut oder Perspektivenlosigkeit, sondern der hohe Anteil an (männlichen) Jugendlichen an der Bevölkerung für bewaffnete Konflikte und Terrorismus in den Ländern Afrikas und Nahost verantwortlich. Wiederholt hat Carola Sachse solche biologistischen Auffassungen kritisiert und auf ein berühmtes Beispiel für Scheinkorrelationen verwiesen, das just aus dem Bereich der Demographie stammt: die beobachtete Korrelation zwischen der Anzahl von Störchen und Neugeburten in einer Region lässt auf keine Kausalität schließen. Rund um die UN-Klimakonferenz in Paris 2015 wurde erneut betont, dass der Klimawandel nicht aufzuhalten sei, wenn nicht gleichzeitig die „Überbevölkerung“ bekämpft werde. Zur selben Zeit kam aber auch die Nachricht, dass die chinesische Führung wegen wirtschaftlicher und sozialer Schwierigkeiten die 1979/80 eingeführte Ein-Kind-Politik ab 2016 durch eine Zwei-Kind-Politik ersetzen wird.